Wir sind die neuen Juden“, sagte FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache 2012 auf dem Ball der schlagenden Burschenschaften in Wien und verglich Angriffe auf die Veranstaltung mit der „Reichskristallnacht“. Die Aussage markierte einerseits einen völlig derangierten Shoah-Vergleich, andererseits aber auch den Versuch, sich eine fremde Verfolgungsgeschichte anzueignen.
Es ist kein neues Phänomen. Ähnliche Muster finden sich von Beginn an im politischen Diskurs der Zweiten Republik, wie eine Nationalratsrede des ÖVP-Abgeordneten Karl Brunner aus dem Jahr 1949 zeigt:
„Das Christentum hat uns gelehrt, daß die Juden unseren von Gott gesandten Erlöser Jesus Christus verhöhnt, verspottet, mißhandelt und ans Kreuz geschlagen haben“, so Brunner. Trotzdem würde es „einem verständigen, von den Grundsätzen des Christentums erfüllten Menschen“ nicht mehr einfallen, das gesamte Judentum dafür verantwortlich zu machen.
Was also wolle „man bei den ehemaligen Nationalsozialisten mit dem Begriffe der Kollektivschuld“? Man unterstelle allen Nazis „zur ungeteilten Hand ein Verschulden an den Verbrechen, Gesetzwidrigkeiten und Grausamkeiten“, dabei hätten „die meisten Mitglieder der Partei … von den Vorgängen nicht die geringste Ahnung“ gehabt.
Brunner und sein Versuch, die Entnazifizierung mit der Verfolgung der Juden in der NS-Zeit gleichzusetzen, sind ein Extrembeispiel eines politischen Trittbrettfahrers des Shoah-Gedenkens. Dieses Motiv gehört zum Grundrepertoire eines Antisemitismus, der davon lebt, sich mit den Opfern des Nationalsozialismus zu vergleichen und deren Leid durch Scheinsolidarität zu relativieren.
Mit dem Versuch, sich den Opferstatus anzueignen, geht freilich zwingend dessen Anerkennung einher. Und dieser Umstand fügt dem rechtsextremen Spektrum eine weitere Facette hinzu.
Der, vor allem im deutschsprachigen Raum, seit jeher fest mit dem Antisemitismus verbundene Rechtsextremismus hat sich in den vergangenen Jahren in seinem Verhältnis zum Judentum zunehmend differenziert.
Während besonders extreme Strömungen nach wie vor virulent antisemitisch eingestellt sind, haben insbesondere rechtspopulistische Strömungen ihre Position überdacht oder geändert. Die Gründe dafür sind vielfältig.
Einerseits wurde der Antisemitismus nach 1945 sozial und rechtlich geächtet. Die gesellschaftliche Mitte hat sich von ihm abgewandt, wodurch er als ideologisches Vehikel für jene uninteressant wurde, die die breite Wählerschicht in der Mitte ansprechen möchten.
Parteien wie der Front National, nunmehr Rassemblement National, und die FPÖ haben sich mit mehr oder weniger großem Erfolg öffentlich von antisemitischen Aussagen distanziert beziehungsweise die Nähe zu jüdischen Organisationen gesucht, um ihrem Positionswandel Glaubwürdigkeit zu verleihen.
Andererseits trat mit dem politischen Islam ein neues Feindbild auf, in dem man eine Bedrohung für Christen und Juden sehen konnte. Eine Aufgabe des Antisemitismus zugunsten neuer Ressentiments schien also attraktiv. Für den Wiener Politikwissenschafter Andreas Peham setzt sich „in der antimuslimischen Feindbildproduktion der FPÖ … das duale Muster des Antisemitismus fort.“
Nach gewaltsamen Angriffen gegen Juden auf offener Straße durch Muslime in Berlin jetzt auch in Wien? Die Behörden ermitteln! Wir stehen in jedem Fall für den Schutz unserer jüdischen Mitbürger vor dem gefährlichen importierten muslimischen Antisemitismus! https://t.co/aM10HEMySi
— HC Strache (@HCStracheFP) 19 July 2018
Diese Entwicklung bedeutet allerdings keineswegs ein Ende des Antisemitismus. Einerseits halten verschiedene rechtsextreme Gruppierungen nach wie vor an ihm fest, andererseits haben ihn islamistische Bewegungen für ihre Zwecke adaptiert.
Es gibt allerdings Zweifel an der Nachhaltigkeit des Sinneswandels innerhalb der etablierten rechten Parteien. So hat die FPÖ bisher keine unabhängige historische Aufarbeitung ihrer Vergangenheit veranlasst. Führende Gründungsmitglieder waren ehemalige Proponenten von NSDAP und SS, der erste Parteichef Anton Reinthaller ein verurteilter Hochverräter.
„Alle Bemühungen Straches werden von der antisemitischen Realität vieler Korporierter eingeholt“, sagt Erich Nuler, Journalist und Mitglied im Kultusrat der Israelitischen Kultusgemeinde Wien. Man müsse sich vergegenwärtigen, „dass es in der FPÖ in der aktuellen Legislaturperiode mindestens 34 antisemitische bzw. neonazistische Vorfälle geben hat – und in mehr als zwei Drittel der Fälle wurden keine Konsequenzen gezogen“. Es gehe „eben nicht nur um die Vergangenheit der Partei“.
Tatsächlich kommt es immer wieder zu antisemitischen Aussagen freiheitlicher Funktionäre, auch wenn die Partei darauf mittlerweile zumindest teilweise rigoros reagiert. Obwohl der Vorsitzende der Salzburger Kultusgemeinde, Marko Feingold, kürzlich seinen 105. Geburtstag unter anderem mit Vizekanzler Heinz-Christian Strache feierte, wird dessen Haltung zum Antisemitismus von jüdischer Seite vielfach wenig Glaubwürdigkeit beigemessen.
Marko #Feingold hat eine außergewöhnliche Lebensgeschichte, die uns alle berührt. Freue mich, dass er seinen 105. Geburtstag mit BK @sebastiankurz & mir feiern will. Ich sage gerne zu. @sternde https://t.co/G6cSPg9EDq
— HC Strache (@HCStracheFP) 17 February 2018
Die FPÖ versuche, schreibt die Jüdische Allgemeine, „sich als moderne Partei zu präsentieren, die an der Seite der österreichischen Juden vor allem gegen muslimischen Antisemitismus agiert und treu an der Seite Israels steht“. Dieser „Charmeoffensive“ stünden allerdings „immer neue Skandale um rechtes und antisemitisches Gedankengut gegenüber“.
Die Wiener Israelitische Kultusgemeinde hält daher an ihrem Beschluss fest, mit der FPÖ keine bilateralen Beziehungen einzugehen. Dazu trägt, unabhängig von der aktuellen Diskussion, auch die Haltung der FPÖ zum Schächten bei.
Zum herkömmlichen rechten Antisemitismus, dem katholisch geprägten Antijudaismus und dem laut dem französischen Rechtsextremismusforscher Jean-Yves Camus beispielsweise in Frankreich durchaus vorkommenden linken Antisemitismus tritt in Europa mittlerweile ein religiös aufgeladener islamischer Judenhass hinzu.
Der islamistische Antisemitismus ist nicht frei von Anknüpfungspunkten an den Antisemitismus der europäischen Rechtsextremen, so wie deren Judenhass nicht ohne jeden Bezug zur christlichen Verfolgungstradition dasteht. Die Charta der Hamas macht die Juden beispielsweise sowohl für die Französische Revolution als auch für die Oktoberrevolution sowie für beide Weltkriege verantwortlich.
Ist der Antisemitismus in der muslimischen Welt aber tatsächlich nur ein westliches Importprodukt? Tatsache ist, dass besonders arabische Fundamentalisten in Kontakt mit den Nazis und später mit anderen europäischen Rechtsextremen standen und antisemitische Konzepte von ihnen übernahmen. Allerdings kam es schon in den 1920ern zu Pogromen gegen Juden im Nahen Osten, wie dem Massaker von Hebron.
Die ägyptischen Muslimbrüder ließen sich, so hält es der deutsche Politikwissenschaftler Matthias Küntzel fest, vom Faschismus inspirieren. Dieser fiel jedoch auch auf fruchtbaren Boden: „Die judenfeindlichen Passagen des Koran wurden mit den antisemitischen Kampfformen des Dritten Reiches verknüpft und der Judenhass als Djihad ausagiert.“
Durch Migration ist diese Form des Antisemitismus mittlerweile in Europa angelangt, stellt besonders unter jungen und religiösen Muslimen ein Problem dar und führt zu Beschimpfungen, tätlichen Übergriffen und Morden an Juden.
Eine Befragung unter 1.005 Personen mit Migrationshintergrund zeigte, dass auch dieser Antisemitismus keine homogene Erscheinung darstellt. Die Ergebnisse variieren nicht nur nach Religiosität, sondern auch nach Herkunft.
So waren antisemitische Ressentiments unter Einwandererkindern der zweiten Generation wesentlich geringer ausgeprägt als beispielsweise bei syrischen oder somalischen Migranten. In Österreich lebende Menschen aus dem Iran zeigten sogar ein ähnliches bis niedrigeres Antisemitismusniveau als die Durchschnittsbevölkerung bei ähnlichen Befragungen.
Der Zionismus hat, anders als manche Apologeten behaupten, den islamistischen Antisemitismus nicht hervorgerufen. Die jüdische Einwanderung ins spätere Israel hat bereits vorhandene Ressentiments, zusammen mit dem ebenfalls bereits entwickelten Judenhass der Muslimbrüder und dem arabischen Nationalismus, zu einer massiven Welle an antisemitischem Antizionismus anschwellen lassen.
Zionismus und Judentum werden, nicht nur in der muslimischen Welt, vielfach gleichgesetzt. Kritik am Staat Israel enthält häufig judenfeindliche Subbotschaften. Die „Boycott Israel“-Kampagne BDS transportiert antisemitische Ressentiments, und Aussagen des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan über Israel tragen regelmäßig antisemitische Noten. Erst kürzlich bezeichnete er Israel als „zionistischsten, faschistischsten und rassistischsten Staat“.
Der Antisemitismus ist heute fixer Bestandteil der Ideologie von Hamas und Hisbollah, von Al-Kaida und IS. Aber er erfährt auch Unterstützung durch die Fatah und diverse Regimes der islamischen Welt. So veranstaltete der Iran 2006 bekanntlich eine „Konferenz für Holocaustleugner“, Syrien produzierte 2003 eine mehrteilige Serie über das Judentum, in der unter anderem christliche Ritualmordlegenden übernommen wurden.
Die Funktion des Antisemitismus als Vehikel für politische Ziele und Auseinandersetzungen sollte nicht unterschätzt werden. Das Spektrum der Antisemiten reicht von Überzeugung bis Kalkül.
So legten französische Antisemiten ihre Ideologie ab, um plötzlich zu Bewunderern des Staates Israel und zu Feinden der Araber zu werden, wie es Jean-Yves Camus in seinem Aufsatz „Die französische extreme Rechte“ beschreibt. Karl Lueger kanzelte seine eigenen antisemitischen Ausritte als „Pöbelsport“ ab, den er betrieben habe, „um in der Politik hinaufzukommen“.
Martin Luther wiederum nutzte die wenig erfolgreiche Judenmission der katholischen Kirche, um diese anzugreifen. Man habe „mit den Jüden gehandelt, als wären es Hunde, und nicht Menschen“. Luther nannte die Juden in seiner Schrift „Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei“, die „Blutfreund, Vettern und Brüder unsers Herrn“ und hoffte, „es sollten ihr viel rechte Christen werden“.
Nachdem seine eigenen Bemühungen um die Christianisierung der Juden allerdings ebenso wenig fruchteten, griff er sie in seinem Traktat „Von den Juden und ihren Lügen“ jedoch massiv an. Ein Christ habe, so Luther, „nächst dem Teufel keinen bittereren giftigeren, heftigeren Feind … als einen rechten Juden“. Der Reformator riet nun sogar, man solle „unserm Herrn und der Christenheit zu Ehren“ die Synagogen anzünden.
Schon vor der Reformation waren die Juden weitgehend die einzigen Andersgläubigen, die durchgehend in Europa lebten. So wurden sie zum Kristallisationspunkt einer negativen christlichen Eigendefinition: Wer Christ war, war nicht Jude.
Gleichzeitig kratzte das Judentum am christlichen Heilsmonopol: Dass Jesu eigenes Volk sich weigerte, dessen messianischen Charakter anzuerkennen, relativierte den Anspruch des Christentums auf alleinige Gültigkeit. Christlichen Theologen war daher daran gelegen, diese „Verstockung der Juden“ nicht als religiösen Standpunkt, sondern vielmehr als Strafe Gottes für den angeblichen Christusmord zu deuten.
Die Nationalisten des 19. Jahrhunderts sahen im Judentum ebenfalls einen willkommenen Sündenbock und ein Hindernis auf dem Weg zum homogenen Nationalstaat. Die bereits vorhandene religiöse Differenz wurde nationalistisch aufgeladen.
Der Begriff des Antisemitismus tauchte erstmals 1879 auf, als sich Deutschnationale in Berlin zu einer „Antisemiten-Liga“ zusammenschlossen. Der Aufruf zur Vereinsgründung erging ausdrücklich an „christliche Männer“, was die geistige Kontinuität zum mittelalterlichen Antijudaismus verdeutlicht.
Nach und nach wurde der Judenhass weniger religiös und zunehmend rassistisch. So konnte auch die Taufe nicht mehr vor antisemitischen Anfeindungen schützen. Die Juden dienten dem Deutschnationalismus in der Folge als „Feinde im Inneren“, die in ihrer Ab- und Ausgrenzungspolitik – neben den Franzosen, die als „äußere Feinde“ firmierten –, eine prominente Rolle einnahmen.
Der Antisemitismus passte zum pseudoreligiösen Umfeld nationalistischer Ideologien, wie es Theodor W. Adorno in „Antisemitismus und faschistische Propaganda“ beschreibt: „Religiöse Sprache und religiöse Formeln werden verwendet, um den Eindruck eines geheiligten Rituals zu erwecken, das von einer Art ,Gemeinde‘ wieder und wieder inszeniert wird.“
Den österreichischen Deutschnationalen war die Schutzfunktion der Habsburger gegenüber der jüdischen Bevölkerung ein Dorn im Auge. Kaiser Franz Joseph wandte sich öffentlich gegen antisemitische Ausschreitungen und weigerte sich, jüdische Beamte wie den Operndirektor Gustav Mahler zu entlassen.
Den radikalen Deutschnationalen waren die Juden wie die Habsburger ein Hindernis für den ersehnten Anschluss an das Deutsche Reich. Viele Juden identifizierten sich besonders stark mit der Habsburger-Monarchie, in deren heterogener Bevölkerung der Antisemitismus zwar eine virulente, aber doch nur eine von vielen Bruchlinien darstellte.
Antisemitismus war aber bei weitem kein Phänomen, das sich auf den deutschsprachigen Raum beschränkte. Die norwegische Verfassung verbot Juden bis 1851 den Zutritt ins Königreich. Auch in Frankreich, wo die Juden eine wesentlich kleinere religiöse Minderheit als in Deutschland darstellten, gehörten antisemitische Ausritte zum Repertoire der Nationalisten.
In dieser Internationalität des Antisemitismus spiegelt sich auch dessen Absurdität. So warfen die französischen Antisemiten den Juden die Zusammenarbeit mit Deutschland vor, während die deutschen Antisemiten sie zu französischen Agenten erklärten.
Ähnlich den mittelalterlichen Ritualmordlegenden kamen nun neue Verschwörungstheorien in Umlauf. 1899 berichtete die Zeitung Bayerisches Vaterland von der „jüdischen Weltverschwörung“. Die Smithsonian Institution in Washington gäbe Unsummen für eine geplante Revolution in Österreich aus. Außerdem bestünde in London eine „Zentralleitung zur Ermordung der Monarchen in Europa“ mit „Ermordungs-Ausschüssen“ als nationalen Zweigstellen.
Die österreichische Wochenzeitschrift Die Neuzeit nannte den Bericht „bodenlos dumm“. „Aber je größer die Dummheit, umso mehr Glauben findet sie heutzutage. Das ,Volk der Dichter und Denker‘ bleibt darin hinter der ,grande nation‘ nicht zurück.“
Der Antisemitismus ist eine Chimäre mit vielen Gesichtern, auch wenn er, wie der Psychoanalytiker Ernst Simmel schrieb, „wie immer sich seine Manifestationen im Laufe der Zeiten gewandelt haben, im Grunde in allen Epochen der gleiche blieb“.
Die Juden dienten als angebliche Feinde nach innen und außen, wurden als Christus- oder Ritualmörder verfolgt, als Strippenzieher des Kapitalismus oder des Kommunismus verfemt, als Imperialisten und Revolutionäre beschimpft, als Schuldige für den 11. September oder für Flüchtlingsbewegungen ausgemacht. Gemeinsam ist diesen antisemitischen Narrativen eins: Sie bieten einfache Antworten, einen vertrauten Sündenbock und Anlass zum Hass.