Lohndumping oder normaler Wettbewerb? Diese arbeitsrechtliche Grundsatzfrage beschäftigt die EU seit geraumer Zeit. Während die Europäische Kommission mehr Mobilität von Arbeitnehmern fordert, befürchten reichere Länder einen Wettbewerbsnachteil durch (süd)osteuropäische Länder, die vor allem im Niedriglohnbereich günstigere Leistungen anbieten können. Arbeitsmigration hat in einigen Bereichen – allen voran in der Baubranche – unzweifelhaft zu erhöhtem Lohndruck und einem verstärkten Kampf um die Arbeitsplätze geführt. Das ist wiederum durchaus beabsichtigt: Menschen sollen dort arbeiten, wo sie gebraucht und ihren Qualifikationen entsprechend eingesetzt werden. Aber wie lange spricht man von Wettbewerb, und wo fängt Lohndumping an?
Diskussionen zum Thema Lohndumping und Wettbewerb am Arbeitsmarkt scheitern oft bereits an den unterschiedlichen Zugängen:
Der Lohndumping-Vorwurf bezieht sich vornehmlich auf die Entsendung von Arbeitskräften, also Fälle, in denen europäische Arbeitskräfte von ihrem Unternehmen in ein anderes EU-Land geschickt werden, die einschlägigen Regeln finden sich in der Entsenderichtlinie und der Durchsetzungsrichtlinie. Die Höchstdauer beträgt seit der vor kurzem angenommenen Reform der Entsenderichtlinie zwölf Monate, mit Begründung kann die Entsendung auf 18 Monate verlängert werden. Die Einkommensteuer ist jedenfalls für das erste halbe Jahr im Heimatland abzuführen (eventuell aber auch darüber hinaus).
Gleichzeitig gelten Mindestentgeltsätze, in Österreich also die kollektivvertraglichen Löhne und Arbeitszeitregelungen. Ebenso besteht Anspruch auf (bezahlten) Mindesturlaub oder Schutzbestimmungen am Arbeitsplatz: ein Kompromiss zwischen reicheren und ärmeren EU-Ländern, um Lohndumping zu verhindern und Mindeststandards aufrechtzuerhalten.
zuvor waren es 24 Monate
Dennoch sind viele damit unzufrieden. Aus wirtschaftlicher Sicht bemängeln manche Kritiker, dass der Vorwurf des „Lohn- und Sozialdumpings“ für simplen Protektionismus missbraucht werde. Entsendete Arbeitskräfte sollten demnach nicht als unfaire Konkurrenten, sondern als Antrieb für einen genuinen gemeinsamen EU-Arbeitsmarkt gesehen werden. Unterschiedliche Lohnniveaus und Sozialsysteme stellen dieser Ansicht zufolge kein Problem dar. Abgesehen davon sei die Zahl der entsendeten Arbeitskräfte ohnehin zu gering, um sich allzu stark auszuwirken. Wohl aber bringe die Maxime „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Arbeitsort“ ärmere Länder um ihren Wettbewerbsvorteil.
Umgekehrt sehen Arbeitnehmervertreter in reicheren Ländern weiterhin zu viele Lücken: „Es gibt wohl kaum einen Bereich, in dem Theorie und Praxis so weit auseinanderklaffen wie bei Entsendungen von Arbeitnehmern in der EU“ bemängelt Walter Gagawczuk von der Arbeiterkammer Wien. Der auf Arbeitsrecht spezialisierte Jurist hat im Rahmen seiner Tätigkeit den EU-Beitritt Österreichs ebenso mitbegleitet wie die Osterweiterung. Seit damals befürchten Arbeitnehmervertretungen, dass billigere Unternehmen aus anderen EU-Ländern heimische Anbieter verdrängen.
Das liegt unter anderem an den niedrigen Sozialabgaben für ausländische Sozialversicherungen. Es steht der Vorwurf im Raum, dass (süd)osteuropäische Firmen geringere Löhne angeben, um die Sozialversicherungsbeiträge zu drücken. Damit wird bei Entsendungen faktisch so viel eingehoben wie von im Inland beschäftigten Arbeitskräften – ein Wettbewerbsvorteil, der auf einer ungleichen Behandlung von Arbeitskräften beruht und sich europarechtlich problematisieren ließe. Den betroffenen ausländischen Sozialversicherungen fehlt es jedoch an den Ressourcen oder am Willen, entsprechend zu prüfen.
Allgemein fällt ausländischen Firmen Unterbezahlung leichter, wie auch eine vom Sozialministerium in Auftrag gegebene Studie des Instituts für Höhere Studien betont: Obwohl entsendete Arbeitskräfte Anspruch auf Mindestlöhne haben, klagen sie das nur selten ein. Das hat unterschiedlichste Gründe: Meistens sind sie nur kurz in Österreich, dazu kommen Sprachbarrieren und fehlende Kenntnis der Rechtslage. Außerdem wollen viele nicht auffallen, weil sie sich um ihren Arbeitsplatz beziehungsweise um ihre Perspektiven in der Branche sorgen. Alleine daraus erwächst der Studie zufolge ein erheblicher Wettbewerbsvorteil gegenüber inländischen Unternehmen.
Ein zusätzliches Problem betrifft die Rechtsdurchsetzung: Selbst wenn in Österreich ein Unternehmen wegen Unterbezahlung verurteilt wird, heißt das nicht, dass das Urteil im Heimatland vollstreckt wird – ein Missstand, den die Durchsetzungsrichtlinie aus dem Jahr 2014 eigentlich beheben sollte. „Die Behörden dort bekommen die Strafbescheide zugestellt und ignorieren sie einfach. Die wollen ihren Unternehmen keinen Schaden zufügen“, sagt Gagawczuk. Etwas behutsamer formuliert es die Studie des Sozialministeriums, derzufolge „die Strafverfolgung ausländischer Unternehmen, welche das Entgelt unterschreiten, sich faktisch zum Teil als schwierig erweist“. In der Praxis wird also schlichtweg nicht exekutiert.
Ungeachtet derartiger Probleme fordert die Europäische Kommission mehr Mobilität von Arbeitskräften innerhalb der EU. Im Jahr 2014 (neuere Zahlen gibt es nicht) lebten vier Prozent der Bevölkerung der EU im arbeitsfähigen Alter (15–64) in einem anderen EU-Land. Davon entfällt allerdings nur ein kleiner Anteil auf Entsendungen: Auch wenn sich die Zahl zwischen 2010 und 2016 um 69 Prozent erhöht hat – beziehungsweise auf 2,3 Millionen Entsendungen gestiegen ist – waren das immer noch lediglich 0,4 Prozent aller Arbeitskräfte in der EU. Die Europäische Kommission sieht hier mehr Potenzial, zumal Umfragen zufolge acht Prozent definitiv in Betracht ziehen würden, in den nächsten zehn Jahren in einem anderen EU-Land zu arbeiten (weitere 17 Prozent würden das „wahrscheinlich“ tun).
Bei den Entsendungen sticht die Baubranche besonders hervor, gefolgt von der Fertigungsindustrie und sozialen Dienstleistungen (im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich). In Österreich war 2016 (auch dazu gibt es noch keine neueren Zahlen) fast jede fünfte Arbeitskraft im Baubereich eine Entsendung – das ist rund die Hälfte aller nach Österreich entsendeten Arbeitskräfte, auch bei den Anzeigen der letzten Jahre aufgrund von Unterentlohnung liegt der Bausektor weit vor der Gastronomie. Nur Belgien (26,7 Prozent) und Luxemburg (25,4 Prozent) verzeichneten einen höheren Anteil. Umgekehrt ist etwa die Hälfte aller entsendeten Arbeitskräfte aus Estland, Portugal, Slowenien, Ungarn, Polen und Luxemburg im Baubereich tätig.
Für das Entsenden von Arbeitskräften gibt es zwei Gründe: Zum einen werden billigere Arbeitskräfte in Hochlohnländer geschickt. Zum anderen soll ein allfälliger Bedarf an Fachkräften und Hochqualifizierten (zumindest teilweise) gedeckt werden.
Dementsprechend gibt es bei den Entsendungen eine Reihe von Schieflagen: Zum einen landen über 80 Prozent der Entsendungen in älteren EU-Mitgliedstaaten (den „EU-15“). Etwas mehr als die Hälfte davon sind allerdings Entsendungen innerhalb dieser Länder, der Rest betrifft wiederum Entsendungen aus den osteuropäischen Ländern in den Westen. Der höchste Anteil im Verhältnis zu allen Arbeitskräften entfiel 2016 auf Luxemburg (6,4 Prozent) vor Belgien (3,8 Prozent) und Österreich (2,8 Prozent beziehungsweise 120.150 Arbeitskräfte).
Zum anderen unterscheiden sich die Arten der Entsendungen stark: Während gut 70 Prozent der (süd)osteuropäischen Arbeitskräfte aus der Industrie kommen, sind es bei den EU-15 nur etwa 50 Prozent. Gleichzeitig entsenden die älteren EU-Mitglieder großteils Arbeitskräfte aus dem Dienstleistungsbereich.
Art, Dauer und auch der Ort der Entsendung hängen außerdem von einer Reihe von Faktoren ab. Neben den Lohnniveaus in den Entsende- und Zielländern oder Sprachbarrieren ist die geografische Lage entscheidend. Mehr als die Hälfte der entsendeten Arbeitskräfte in der EU landet in einem Nachbarland.
Die meisten Arbeitskräfte wurden 2016 aus Polen 259.999, Deutschland (231.766), Slowenien (150.922) und Frankreich (132.012) entsendet. Die bevölkerungsmäßig höchsten Anteile entfallen wiederum auf Luxemburg (20,7 Prozent) und Slowenien (11,5 Prozent).
Wenn man die Mehrfachentsendungen von ein und derselben Person miteinbezieht, kommt man für Polen sogar auf 513.972 und für Slowenien auf insgesamt 164.226 Entsendungen. Aus Deutschland waren es wiederum lediglich 260.068 und aus Frankreich 203.019.
Österreichische Firmen haben 62.526 Menschen in andere EU-Länder entsendet (wenn man die Mehrfachentsendungen mit einberechnet waren es 75.132). Damit gehört Österreich zu „Netto-Empfängern“ von Entsendungen, es werden also mehr Leute nach Österreich geschickt als von Österreich aus in andere Länder. Das liegt vor allem daran, dass Österreich von billigeren EU-Ländern umgeben ist und einen hohen Bedarf an Arbeitskräften im Bau- und Tourismusbereich aufweist.
Ein in der Debatte rund um die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Mobilität von Arbeitskräften im Allgemeinen oft übersehener Aspekt betrifft die Auswirkungen auf die Heimatländer. Zwar hat die EU als Ganzes von der Abwanderung aus dem Osten profitiert, die Heimatländer allerdings wahrscheinlich nicht.
Auch in den Zielländern sollte man unterscheiden: Während durchschnittliche Arbeitnehmer und Hochqualifizierte insgesamt von Zuwanderung profitieren, sind niedrigqualifizierte Arbeitnehmer verstärktem Wettbewerbs- und Lohndruck ausgesetzt. Für Migranten, die bereits länger in einem Land leben, kann sich die Situation durch zusätzliche Einwanderung freilich sogar verschlechtern.
Neben den Entsendungen leben laut Statistik Austria derzeit etwa 275.000 Menschen aus den östlichen EU-Beitrittsländern in Österreich (dazu kommen 224.000 Menschen aus Bulgarien, Rumänien und Kroatien). Der hohe Anteil von Arbeitskräften aus dem EU-Raum hat mehrere Gründe: einerseits das höhere Lohnniveau, andererseits die zentrale Lage inmitten von Nachbarländern aus dem ehemaligen Osten.
Außerdem ist die Wanderung von Ost- nach Westeuropa in vielerlei Hinsicht einzigartig. Die Distanzen sind relativ kurz, gleichzeitig gibt es aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit wesentlich geringere administrative Hürden als in anderen Regionen der Welt. Das Resultat war die verhältnismäßig größte Abwanderung der jüngeren Geschichte. Gleichzeitig kehren nur relativ wenige Osteuropäer wieder in ihre Heimat zurück.
Eine Reihe von Ökonomen des Internationalen Währungsfonds (IWF) gelangte daher zu dem Schluss, dass die Wirtschaft in den osteuropäischen Ländern unter der Abwanderung gelitten hat. In Summe habe das Wachstum in den osteuropäischen Ländern dadurch abgenommen, die wirtschaftliche Angleichung innerhalb Europas soll verlangsamt worden sein.
Die Studie begründet diese negativen Auswirkungen mit dem „Brain Drain“, der die Produktivität verringert und gleichzeitig zu höheren Löhnen geführt hat, wodurch auch der Wettbewerb am Arbeitsmarkt ausgehöhlt wurde. Überweisungen von Arbeitsmigranten in die Heimat haben zwar zu mehr Konsum und Investitionen geführt. Gleichzeitig wurden der IWF-Studie zufolge so die Anreize zu arbeiten möglicherweise gesenkt. Diese Entwicklung dürfte auch in Zukunft weiter anhalten. Mit der Abwanderung verringern sich außerdem die Steuereinnahmen und Einzahlungen ins Sozialsystem.
Die IWF-Ökonomen schlagen eine Reihe von Maßnahmen vor, um den negativen Auswirkungen auf die östlichen Heimatländer zu begegnen. Dabei könnten auch Entsendungen eine zentrale Rolle spielen. Schließlich haben sie weniger drastische Auswirkungen als die reguläre Migration im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit: Wie beschrieben bleiben entsendete Arbeitskräfte in ihrem Heimatland sozialversichert, auch die Lohnsteuer ist zumindest in der Anfangsphase weiter dort abzuführen.
Die aktuelle Regelung der Entsendungen scheint niemanden so richtig zufriedenzustellen. Die einen sehen darin ein Wettbewerbshindernis, da ärmere Länder ihren Vorteil im Niedriglohnsektor nicht voll ausspielen können. Die anderen bemängeln immer noch das Lohndumping durch Gesetzesverstöße und die mangelhafte Rechtsdurchsetzung in den Heimatländern.
Ist die Rechtslage noch zeitgemäß? Die Dienstleistungsrichtlinie wurde 1996 und damit lange vor der EU-Osterweiterung beschlossen. Ende Juni 2018 wurde eine Reform angenommen, mit der „besserer Arbeitnehmerschutz“ gewährleistet werden soll, um „den freien Dienstleistungsverkehr auf einer fairen Grundlage sowohl kurz- als auch langfristig sicherzustellen“. Die Auswirkungen der neuen Bestimmungen zur Maximaldauer von Entsendungen und zur Entlohnung werden sich noch zeigen. Die Probleme bei der Durchsetzung werden darin jedenfalls nicht behandelt.