Selbst die erfahrenen Beamten staunten, als der angeblich aus Tunesien stammende Asylwerber plötzlich in fließendem Spanisch zu sprechen begann und gestand, in Wirklichkeit ganz woanders herzukommen; dass er tatsächlich voll-, und nicht minderjährig sei und von nun an mit den Behörden kooperieren werde. Die Wahrheit sprudelte plötzlich vehement aus dem jungen Mann heraus – oder zumindest ein Teil davon.
Wie kam es zu diesem Sinneswandel? Die Behörden (die genauen Funktionen aller Beteiligten werden zu ihrem Schutz nicht genannt) hatten dem laut Verfahrensakte unbegleiteten minderjährigen Flüchtling zuvor angedroht, ihn so lange in Abschiebehaft warten zu lassen, bis seine behauptete Identität von Tunesien bestätigt werde. Das hätte sehr lange dauern können.
Der junge Mann stammte tatsächlich, wie er nun gestand, aus Marokko, war schon als Kleinkind mit seinen Eltern nach Spanien gereist, hatte dort die Pflichtschule besucht und lebte folglich vollkommen legal mit einem rechtmäßig erworbenen und EU-weit gültigen Aufenthaltstitel in der Region. In Österreich hingegen hatte er unter falschem Namen einen Asylantrag gestellt und als Minderjähriger erhöhte Grundversorgung, Unterkunft, Sozialbetreuung und Deutschkurse bekommen. Unter der Tarnkappe dieser Scheinidentität ging er seinen „Geschäften“ nach. Welche das waren, fand die Polizei nie heraus. Da es jedoch regelmäßig Auseinandersetzungen bis hin zur Tätlichkeit gegenüber der Exekutive gab, dürfte es sich nicht um legale Beschäftigungen gehandelt haben.
Bei seiner Einvernahme endete genau an dieser Stelle der von ihm in Aussicht gestellte Kooperationswille. Er gab an, mit seinen ebenfalls ausländischen Begleitern nur eine „günstige Reise“ geplant zu haben. Eine Ausrede, waren sich die Behördenvertreter sicher. Denn auch die Namen der angeblichen Begleiter nannte der junge Mann, der bis heute in Schubhaft sitzt, nicht. Für erfahrene Ermittler ein untrügliches Zeichen dafür, dass da etwas nicht stimmt.
Tatsächlich scheint da etwas nicht zu stimmen. Wie sonst ist zu erklären, dass ein legal in Europa aufhältiger Ausländer, ein sogenannter Drittstaatsangehöriger, das Asylverfahren als Vehikel zur Erlangung einer zweiten Identität missbrauchen kann? Eine Lücke im europäischen Fremdenwesen macht es offensichtlich möglich, dass Personen mit rechtmäßigen Aufenthaltstiteln Anträge auf internationalen Schutz dazu nutzen können, sich eine zweite Identität aufzubauen. Die Möglichkeiten, das auszunutzen, sind vielfältig: Straftaten, Sozialmissbrauch, Terrorismus.
Möglich machen das Mängel in der Vernetzung und Datenspeicherung. Wenn ein Nicht-Unionsbürger, zum Beispiel ein Serbe, einen Antrag auf Niederlassungsbewilligung in Österreich stellt, muss der Betroffene bei der österreichischen Botschaft in Belgrad seinen Antrag einbringen, Pass und Geburtsurkunde, einen Strafregisterauszug und Nachweise für Krankenversicherung und Einkommen vorlegen. Alle europäischen Staaten prüfen das ziemlich genau. Aber am Ende ist es für Fremdstaatsangehörige dennoch leicht möglich, aus dem großen Gefäß der Aufenthaltstitel (allein in Österreich sind aktuell 456.323 Dokumente im Umlauf) als eine andere Person ins Gefäß Asylsystem zu wechseln, weil faktisch nicht überprüfbar ist, ob der Antragsteller nicht schon irgendwo anders in Europa legal als Ausländer lebt. Was fehlt, ist die Speicherung und Vernetzung der Daten mit biometrischen Merkmalen wie Fingerabdrücken und Fotos, wie es sie etwa im geschlossenen System des Asylwesens gibt (die entsprechende Datenbank heißt EURODAC) oder bei zur Fahndung ausgeschriebenen Personen (Schengener Informationssystem, kurz SIS).
Das Innenministerium in Wien bestätigt in einer Stellungnahme, dass es „keine EU-weit vernetzte Datenbank gibt, daher auch keinen Datenabgleich zwischen Daten legaler Migration und Asyldaten“. Gleichzeitig sieht Österreichs oberste Sicherheitsbehörde in diesem Umstand keinen Handlungsbedarf, denn: „In der Praxis zeigt sich hieraus faktisch keine strukturelle Problematik, weil der Bezug von Leistungen in diesen Systemen im Regelfall an der persönlichen Anwesenheit anknüpft.“
Quellen, die täglich selbst mit der Problematik zu tun haben, widersprechen dieser Wahrnehmung jedoch. Woche für Woche würden derzeit Personen auftauchen, die sich aus dem sicheren Hafen EU-Aufenthaltstitel über ein Asylverfahren in einem anderen Mitgliedstaat eine zweite Identität aufgebaut hätten. Diese Personen könne man systembedingt aber nur zufällig enttarnen; wenn zum Beispiel im Rahmen von Hausdurchsuchungen die echten Personaldokumente einer Person auftauchen.
Dann füllen sich die Ermittlungsakten mit bemerkenswerten Biografien. Etwa jener einer türkischen Familie mit vier Kindern, die neben ihren türkischen Identitäten auch Konventionsreisepässe (die nur Asylberechtigte bekommen können) besaßen. Oder mit der Geschichte eines legal in Spanien lebenden Nigerianers, der mit seinen echten Dokumenten in einem Wiener Fünf-Sterne-Hotel einquartiert war, während er parallel dazu einen Asylantrag unter einem falschen Namen stellte, einen Platz in der Grundversorgung bezog und diese Tarnung für seinen Brotberuf, Drogenhändler, nutzte.
Wie wirksam die Vernetzung bereits bestehender Datenbanken auf europäischer Ebene sein kann, schildern Experten anhand eines Beispiels. Erst seit etwa einem Jahr ist es in Österreich nämlich möglich, die Fingerabdrücke aus der Asylwerber-Datei EURODAC mit jenen aus dem Visa-Informationssystem (VIS) für zeitlich befristete Schengen-Visa abzugleichen. Vorher hatte man – zwangsläufig stets durch Zufall – immer wieder spektakuläre Fälle von Personen entdeckt, die legal mit einem Schengen-Visum in die EU eingereist waren, um später unter einem falschen Namen einen Asylantrag zu stellen. Als die beiden Systeme im Vorjahr plötzlich Fingerabdrücke miteinander vergleichen konnten, „raschelte es ganz gewaltig“, berichten Ermittler. Was bedeutet, dass täglich neue Missbrauchsfälle aufflogen. Die Welle ebbte aber bald ab. Offenbar hatte es sich innerhalb kurzer Zeit herumgesprochen, dass diese Lücke nun zu war. Das lege, sagen Experten, den Verdacht nahe, dass es im Bereich der Aufenthaltstitel ganz ähnlich sei, und es sich um ein Problem jenseits spektakulärer Einzelfälle handle.
Welche Sisyphusarbeit die Beamten selbst dann zu leisten haben, wenn sie jemanden erwischen, zeigt ein anderes Beispiel:
Ein legal in Italien lebender Nigerianer stellte unter Angabe eines falschen Namens in Österreich einen Asylantrag. Das Verfahren endete – nach längerer Zeit, der Auszahlung von Sozialleistungen und kleineren Delikten – negativ. Die Person wurde erfolgreich nach Nigeria abgeschoben. Danach reiste der Mann mit seinen echten Papieren ungehindert wieder nach Italien. Anschließend reiste er nach Deutschland und stellte dort – wieder unter neuem Namen – einen Asylantrag.
Mithilfe der EU-weit vernetzten Fingerabdruck-Erfassung und -Speicherung (EURODAC) für Asylwerber war für die Behörden schnell klar: Der Mann hatte bereits einen Antrag in Österreich gestellt. „Er gehört laut Dublin-Verordnung euch“, gaben die Deutschen sinngemäß nach Wien durch. „Nicht mehr“, lautete die Antwort. Der Nigerianer sei vor wenigen Wochen in seine Heimat abgeschoben worden.
Kurz dachten die deutschen Beamten vermutlich an die Verhängung von Schubhaft. Als der Nigerianer jedoch angab, dass seine politische Verfolgung noch während seiner Abschiebung am Flughafen in Lagos von Neuem begann, er also ein zweites Mal im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention fliehen musste, zerschlug sich diese Hoffnung. Von diesem Zeitpunkt an stand ihm auch in Deutschland ein weiteres Mal ein individuelles Prüfungsverfahren samt Grundversorgungsleistungen zu.
Was würde nun die laut Experten „dringend notwendige“ Vernetzung von Aufenthaltstiteln und Asylwerber-Fingerabdrücken bewirken? In jedem Fall würden sich die Behörden und der Steuerzahler viel Zeit und Geld für immer gleiche Verfahren und Versorgungsleistungen sparen. Auch die potenziellen Gefahren, die der Missbrauch falscher Identitäten mit sich bringt (organisierte Kriminalität, Terrorismus), könnten wohl reduziert werden. Dennoch würden die Staaten aber auch dann irgendwann buchstäblich an die Grenzen Europas stoßen:
Das nach einem aufgedeckten Missbrauchsversuch ausgesprochene Einreiseverbot gilt nämlich nur für jenes Land, das es auch erlassen hat. Neue Anläufe in neuen Ländern sind also nicht ausgeschlossen, da nur jener Unionsstaat, der den Aufenthaltstitel erteilt hat, darüber entscheidet, ob die betroffene Person diesen auch wieder verliert.
Bei Nicht-EU-Bürgern ohne Aufenthaltstitel ist das leichter. Sie bekommen bei Konflikten mit dem Gesetz neben der Ausweisung ein Einreiseverbot erteilt, das nicht nur schengenweit gültig ist, sondern von den Behörden auch elektronisch abgerufen werden kann.