Auf das Jahr 2015, das steht wohl außer Streit, war die österreichische Asylverwaltung nur ungenügend vorbereitet. Die Überforderung, die damals offenbar geworden ist, hat aber nicht erst im September begonnen, als sich in Ungarn zehntausende Migranten entschlossen, auf die österreichische Grenze zuzumarschieren. Schon im Frühjahr waren damals die bis heute symbolischen Bilder aus Traiskirchen entstanden, mit Lagern, die auf dem Areal der Erstaufnahmestelle aufgeschlagen wurden. Die Länder, zuständig für die Unterbringung von Aslywerbern während des Verfahrens, hatten nicht genügend Quartiere bereitgestellt, um der steigenden Zahl an Migranten zu begegnen. Die Folge: ein Rückstau in Traiskirchen, damals (mit dem ungleich kleineren Thalham) das zentrale Verteilerzentrum für Asylwerber.
Im Herbst kam dieses schon vorher überforderte System dann noch weiter unter Druck: Zehn- und in den folgenden Monaten hunderttausende, die über die Balkanroute nach Österreich kamen – der Großteil davon nur als Durchreisende Richtung Deutschland und Skandinavien, am Ende des Jahres hatten allerdings auch 88.912 Menschen in Österreich Asyl beantragt. Die Herausforderungen dieser Zeit haben Politik und Verwaltung (mit kräftiger Unterstützung durch engagierte Bürger, Stichwort „Willkommenskultur“ auf den Bahnhöfen) 2015 und 2016 zunächst durch spontane Maßnahmen überbrückt – etwa den „Faymann-Merkel-Pakt“, die Grenzen trotz des Menschenzustroms offen zu halten, das eher improvisierte „Grenzmanagement“ durch Polizei und Bundesheer, die schnelle Organisation von Transporten von der österreichischen zur deutschen Grenze per Bahn und Bus. Mittel- und längerfristig hat die Politik dann – vor allem rund um den „Asylgipfel“ Ende Jänner 2016 im Kanzleramt – etliche Maßnahmen verabschiedet, die das Asylsystem für die neue Lage fit machen sollten. Parallel haben außenpolitische Initiativen – allen voran der „Türkei-Deal“ – dazu geführt, dass der Migrantenstrom ab Mitte 2016 wieder deutlich zurückgegangen ist.
Aber was wäre, wenn heute wieder eine Situation wie im Herbst 2015 einträte? Würden diese Maßnahmen wirken, könnte Österreich einen Migrantenstrom mit den Erfahrungen von damals nun besser abwickeln? Die Frage ist nicht so absurd, wie man anhand eines Blicks auf die Antragszahlen der vergangenen Monate vermuten könnte: Sowohl das Innenministerium als auch die EU-Grenzagentur Frontex erklären auf Anfrage, dass sämtliche Prognosen von Migrationsbewegungen mit Vorsicht zu genießen seien, weil zu viele Variablen im Spiel seien. In einem Mail schreibt etwa Krzysztof Borowski, Sprecher von Frontex: „As we have seen in recent months and years, migratory flows are often hard to predict. This is especially true when influenced by outside factors, such as the EU-Turkey agreement last March, which led to a more than 90% drop in migrant arrivals on the Greek islands.“
Der Umkehrschluss daraus: Sollte die Türkei, deren Politik in den vergangenen Jahren zunehmend erratischer geworden ist, plötzlich das Interesse daran verlieren, mit der Union zu kooperieren, könnte der Menschenstrom gen Europa schnell wieder anschwellen – gleiches gilt für die Lage in Libyen, wo es noch nicht einmal eine stabile Regierung als Ansprechpartner gibt. Also: Was wäre, wenn plötzlich tausende Menschen aus einem Nachbarland Richtung österreichischer Grenze marschierten?
Im Wesentlichen verteilen sich die Herausforderungen verwaltungstechnisch auf drei große Gebiete: Einreise, Unterbringung und Asylverfahren.
Seit 2014 ist das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), eine Behörde des Innenministeriums, allein zuständig für das gesamte Asylverfahren in erster Instanz. Dessen Personalstand hat sich in dieser Zeit fast verdreifacht, mittlerweile sind rund 1.300 Mitarbeiter in der Zentrale in Wien sowie in Zweigstellen in den Bundesländern tätig. Während die Verfahrensdauer 2016 im Schnitt bei 9,1 Monaten lag – allein für die erste Instanz –, zeigt man sich beim Innenministerium optimistisch, die Masse an offenen Verfahren, die in der Folge von 2015 oder 2016 anhängig sind, nach und nach abarbeiten zu können: „Es werden aktuell Woche für Woche mehr Verfahren entschieden, als neue Anträge gestellt werden“, sagt Ministeriumssprecher Karl-Heinz Grundböck. In Zahlen liest sich das so: „Von den seit Beginn 2015 143.000 Asylanträgen, die in Österreich gestellt wurden, sind durch das BFA mit Ende Juni 2017 bereits nahezu 70 % erledigt“, heißt es in der aktuellen Halbjahresbilanz der Behörde, und: „Das bedeutet, dass die Warteschlange jener, die auf eine Entscheidung vor dem BFA warten, dieses Jahr bereits um rund 17.000 – also um mehr als 25 % – deutlich reduziert wurde.“
Ende August waren beim BFA rund 43.000 laufende Asylverfahren anhängig. Das Innenministerium geht davon aus, dass das Personal des Bundesamts inzwischen ausreichend ist, um auch mit einer neuerlichen Antragswelle zurechtzukommen; vor allem, wenn die Grenzschutzmaßnahmen, die die Zahl der neu dazukommenden Antragsteller limitieren sollen – dazu gleich mehr – greifen. Im Gegenteil, wenn die Zahl der neuen Asylanträge weiterhin relativ niedrig bleibe, so wie aktuell, werde man wohl mittelfristig mit dem Bundeskanzleramt diskutieren müssen, ob das BFA personalmäßig nicht überbesetzt sei.
Dass richtig eingesetzte – und: ausreichend – Asylbeamte eine Schlüsselstelle des gesamten Fremdenwesens sind, sieht man heute an den Folgen, die länger zurückliegende Entscheidungen gezeitigt haben. In der Zeit der schwarz-blauen Bundesregierung war unter Innenminister Ernst Strasser das Personal der Asylbehörden reduziert worden – gleichzeitig nahm die Zahl der Anträge zu, vor allem eine Folge des Zweiten Tschetschenienkriegs. Unter der Vorgabe, dass die Verfahren möglichst schnell zu erledigen seien – dauern sie länger als ein Jahr, muss bekanntlich der Bund die Kosten für die Versorgung der Asylwerber von den Ländern übernehmen – bei gleichzeitiger Personalreduktion, litt die Qualität der Verfahren: Wie heute aus dem Innenministerium zu hören ist, liege der Grund dafür, dass Österreich eine im Vergleich sehr große Tschetschenen-Community habe, darin, dass die Anerkennungsquote für Asylwerber aus dieser Region hierzulande im Schnitt bei 80 Prozent gelegen sei – während sie europaweit um die 30 Prozent lag. Dadurch sei ein „Pull-Faktor“ entstanden.
Tatsächlich ist es für die Asylbehörde der effizienteste Weg, sich Aufwand und Rechtsunsicherheit zu ersparen, Antragstellern Asyl zu gewähren, denn während ein Asylwerber, dem per Bescheid Asyl verwehrt wird, Rechtsmittel einlegen kann – primär beim Bundesverwaltungsgericht als zweite Instanz –, wird die Entscheidung, dass jemandem der Asylstatus zuerkannt wird, nicht mehr extern überprüft. Jemanden, der etwa den Staat vertritt und auch gegen positive Bescheide beruft, wenn er einen Verfahrensfehler ortet (wie ein Staatsanwalt das gegen seiner Ansicht nach ungerechtfertigte Freisprüche in Strafverfahren tut), gibt es nicht. (Das ist natürlich keine Besonderheit des Asylverfahrens, sondern ein allgemeiner Grundsatz des Verwaltungsrechts: Es kann zum Beispiel auch niemand berufen, wenn eine Bezirksbehörde entscheidet, keine Strafe wegen Falschparkens zu verhängen.)
Das Innenministerium verweist bezüglich der Qualität der Entscheidungen des BFA unter anderem auf regelmäßige Fortbildung seiner Beamten sowie auf internationales Benchmarking – BFA-Direktor Wolfgang Taucher ist etwa Vorsitzender des Verwaltungsrats des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen. Das ändert nichts an der Tatsache, dass natürlich auch das BFA Fehler macht, wie jede Behörde. Das Bundesverwaltungsgericht, das (unter anderem) Entscheidungen des BFA in zweiter Instanz überprüft, weist keine gesonderte Statistik für Asylfälle aus; eine Sprecherin des BVwG erklärte aber auf Anfrage, dass sich die allgemeine Prozentzahl der Entscheidungen zweiter Instanz „von den Zahlen aus der Entscheidungsstatistik im Fachbereich Fremdenwesen und Asyl nur marginal unterscheidet“ – und schickt dazu die 2016er-Statistik mit, derzufolge das BVwG in 36 Prozent der Berufungsfälle die Entscheidung der ersten Instanz aufhebt oder abändert. Rund ein Drittel der Entscheidungen des BFA, die im Vorjahr vom BVwG geprüft wurden, waren also juristisch fehlerhaft – positive Entscheide werden aber nicht überprüft.
Das Problem der Unterbringung tausender Asylwerber, würden solche relativ spontan nach Österreich kommen, ließe sich heute einfacher lösen als noch 2015, davon sind alle Akteure von damals überzeugt. Das liegt an dem noch im September 2015 beschlossenen „Durchgriffsrecht“ des Bundes, oder, juristisch korrekt, dem „Bundesverfassungsgesetz über die Unterbringung und Aufteilung von hilfs- und schutzbedürftigen Fremden“. Es hatte sich nämlich ergeben, dass der Bund und die Länder grundsätzlich schon zusätzliche Quartiere aufgestellt hatten. So hatten die damalige Innenministerin Johanna Mikl-Leitner und der damalige Verteidigungsminister Gerald Klug etwa bereits vereinbart, dass die Linzer Kaserne Ebelsberg so genutzt werden könnte; der Linzer Bürgermeister Klaus Luger lehnte das aber aus politischen Gründen mit dem Verweis darauf ab, dass das entsprechende Grundstück nur für militärische Nutzung gewidmet sei.
Das genannte Verfassungsgesetz schafft seither in solchen Fällen Abhilfe: Wenn sowohl im Bezirk als auch in der Gemeinde eine bestimmte Flüchtlingsquote nicht erreicht ist (jeweils 1,5 Prozent der Bevölkerung) und das betreffende Bundesland bei der Erfüllung seiner Quote säumig ist, kann der Bund die lokalen Behörden übergehen und die Unterbringung von Asylwerbern direkt genehmigen. Darüber hinaus sei im Zuge der Krisenbewältigung der vergangenen Jahre ein so großes Netzwerk an Unterkünften geschaffen worden, dass zumindest ein vorübergehender Anstieg der Antragszahlen in puncto Unterbringung durchaus zu bewältigen wäre, heißt es aus dem Innenministerium. Eine mögliche politische Sollbruchstelle zeichnet sich allerdings schon ab: Die gesetzliche Grundlage für das Durchgriffsrecht des Bundes läuft Ende 2018 aus, ab dann müssen Unterkünfte wieder wie früher lokal genehmigt werden. Eine Verlängerung des Verfassungsgesetzes ist ungewiss, da die FPÖ 2015 dagegengestimmt hat – und möglicherweise zur Zeit des Ablaufs einer Regierungskoalition angehören könnte.
Die politisch heikelste Frage ist möglicherweise diejenige, die am stärksten darüber entscheidet, in welchem Ausmaß eine neue Migrationskrise Österreich betreffen würde: Nämlich wie man es mit der Grenze hält, wenn tausende Migranten nach (oder durch) Österreich wollen. Bis dato besagt die Rechtslage, dass ein Migrant auch schon an der Grenze einen Asylantrag bei einem österreichischen Sicherheitsorgan stellen kann – das sehen aus der Sicht des Innenministeriums sowohl die EU-Verfahrensrichtlinie als auch Menschenrechts- und Flüchtlingskonvention so vor. (In Deutschland gibt es zu dieser Frage aktuell eine – ungeklärte – juristische Kontroverse: Juristen des Bundestags sind der Meinung, dass Migranten ohne Aufenthaltstitel, die aus einem sicheren Drittstaat über die Grenze wollen, nach geltender Rechtslage zurückgewiesen hätten werden müssen.)
In dem Fall muss Österreich den Antragsteller einreisen lassen und ein Verfahren durchführen. Die Lösung, die sich die aktuelle Koalition dafür ausgedacht hat, heißt Notverordnung: Eine solche würde die Anwendbarkeit der genannten Regeln aussetzen, Grenzschützer könnten dann die Grenze tatsächlich schließen und auch Leuten die Einreise verwehren, die bei ihnen Asyl beantragen wollen. Würde das so in Kraft gesetzt, wären die Folge sehr wahrscheinlich Flüchtlingslager an der jeweiligen Grenze zu Österreich – und eine rechtlich schwierige Situation: Ob und inwieweit eine solche Notverordnung vor internationalen Gerichten – EuGH und EGMR – halten würde, ist ebenso ungewiss, wie was in den folgenden Tagen vor allem in der Abstimmung mit dem betreffenden Nachbarland passieren würde.
Etwas klarer ist dagegen, wann eine solche Notverordnung in Kraft gesetzt werden soll: Beschließen muss sie nach dem neuen § 36 Asylgesetz die gesamte Bundesregierung. Und die Koalition (damals noch unter Faymann-Mitterlehner) hat sich geeinigt, das dann zu tun, wenn bestimmte Schwellenwerte überschritten werden: 2016 sollten maximal 37.500, heuer 35.000, 2018 30.000 und 2019 nur noch 25.000 Menschen zum Asylverfahren zugelassen werden. Das war bis zu einem gewissen Grad Poker: Die Regierung hoffte, durch die Verkündung dieser Schwellenwerte den Zustrom nach Österreich zu bremsen und gar nicht erst darüber zu kommen. Bisher ist das (wohl eher auch aus anderen Gründen, etwa der EU- Türkei-Vereinbarung) aufgegangen. Man darf aber gespannt sein, ob sich nach der Nationalratswahl eine neue Koalition ebenfalls diesen Werten verschreiben wird – und ob sie bereit sein wird, diese Karte im Ernstfall auszuspielen.
Von dieser politischen Entscheidung – und einem eventuellen juristischen Nachspiel – wird im Fall eines neuerlichen Aufflammens der Asylkrise abhängen, welche Ressourcen Österreich zu deren Bewältigung aufzubieten hat. Und, wie es von Frontex heißt: „Migratory flows are often hard to predict.“