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„Dieser Dublin-Verschiebebahnhof ist doch Unsinn“
31. Januar 2019 Asyl Lesezeit 6 min
Innenminister Herbert Kickl bezeichnete Flüchtlings- und Menschenrechtskonvention als „seltsame Konstruktionen aus den 50er Jahren“. Für den anerkannten Asyl- und Fremdenrechtsexperten Kay Hailbronner liegt das Problem nicht in den Verträgen selbst, sondern im Umgang mit ihnen.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Asyl und ist Teil 26 einer 28-teiligen Recherche.
Bild: Addendum
Kay Hailbronner
Professor für Asyl- und Fremdenrecht
Kay Hailbronner ist emeritierter Professor an der Universität Konstanz, wo er das Forschungszentrum für internationales und europäisches Ausländer- und Asylrecht leitet. Außerdem ist er u.a. seit 2000 Mitglied des Beirats des deutschen Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge. Er warnte schon 1990 vor den Folgen einer unkoordinierten Asylpolitik.

Seit dem Flucht- und Migrationsjahr 2015 kritisieren Politiker und Aktivisten immer wieder internationale Regeln wie die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Dänemarks Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussen zum Beispiel.  Oder eine (gescheiterte) Volksinitiative in der Schweiz. Hierzulande erntete zuletzt Innenminister Herbert Kickl für seine jüngsten Aussagen zu diesen Verträgen viel Kritik.

Wir sprachen deshalb mit dem international anerkannten Asyl- und Fremdenrechtsexperten Kay Hailbronner über diese beiden Verträge. Er gab erst vor wenigen Monaten im deutschen Bundestag eine Stellungnahme zur Vereinheitlichung des europäischen Flüchtlingsrechts ab, in der er harte Kritik am Dublin-System äußerte. Die Hinterfragung von GFK und EMRK beruht seiner Meinung nach auf einem Missverständnis. Beide Verträge hätten nach wie vor uneingeschränkte Gültigkeit. Man habe es aber verabsäumt, den Umgang mit ihnen an die neuen Realitäten anzupassen.

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Herr Hailbronner, Kritiker sagen, die Genfer Flüchtlingskonvention sei nicht mehr zeitgemäß. Ist das so?

Der Kern der Flüchtlingskonvention bleibt unverändert gültig: das Verbot der Abschiebung in ein Land, in dem das Leben des Betroffenen gefährdet ist. Tatsächlich nicht mehr zeitgemäß ist das Instrumentarium zur Anwendung der Flüchtlingskonvention. Also die Verfahren, die die einzelnen Staaten ab den 1950er-Jahren entwickelt haben.

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Im Fokus der Konvention stand ursprünglich der Flüchtling, der totalitären Systemen entkommen ist.

Was bedeutet das?

Im Fokus der Konvention stand ursprünglich der Flüchtling, der totalitären Systemen entkommen ist. Seine Schutzberechtigung war quasi evident. Die Genfer Flüchtlingskonvention äußert sich nicht dazu, ob es ein Recht auf Asyl gibt. Daher konnten die einzelnen Staaten ihre Flüchtlings- und Einwanderungspolitik relativ frei bestimmen. Einzige Grundbedingung war wie gesagt, dass das Abschiebungsverbot in Verfolgungsländer gewahrt wurde.

Überwiegend vertraten Rechtsexperten die Auffassung, dass die Konvention auf eine Antragstellung an der Grenze nicht anwendbar ist. Nicht einmal ansatzmäßig von der Konvention erfasst war das Auftreten neuer Schutzbedürfnisse für Personen, die Krieg und Bürgerkrieg oder Umweltkatastrophen zu entfliehen versuchen.

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Was ist jetzt anders?

Das Auftreten großer Migrationsbewegungen mit Hunderttausenden von Personen, die aus anderen als in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründen – miserable Lebensbedingungen, politische Instabilität oder innere Unruhen – in die prosperierenden westlichen Demokratien zu gelangen versuchen, war außerhalb der Vorstellungswelt der Genfer Vertragsstaaten. Dasselbe gilt für jahrelang dauernde Asylverfahren mit vorläufigem Bleiberecht.

Über Jahrzehnte waren die Zahlen von Asylsuchenden und die Anerkennungsquoten niedrig. Größere Fluchtbewegungen, zum Beispiel nach dem ungarischen Volksaufstand 1956, wurden vergleichsweise geordnet durch globale Aufnahmeprogramme bewältigt. Die Grundannahme, dass einzelne Personen Schutz suchen, hat nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zu Problemen geführt, als immer mehr Asylanträge gestellt wurden, um Einwanderungs- und Einreisebeschränkungen zu umgehen.

Die Ausweitung eines auf individualisierte Rechtsdurchsetzung fokussierten Schutzkonzepts, under anderem durch EU-rechtliche Konzeption des subsidiären Schutzes für Bürgerkriegsflüchtlinge, hat die Problematik nur weiter verschärft. Damit stehen einander zwei Ziele gegenüber: Die moralische Verantwortung für Schutzsuchende und die elementare staatliche Aufgabe, die Grenzen zu sichern und Einwanderung zu kontrollieren.

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Das Problem sehen Sie also nicht in der GFK, sondern in ihrer Anwendung?

Richtig. Aus dem eigentlich vorübergehenden Status des Asylwerbers wurde ein Einreise- und Bleiberecht. Inzwischen werden enorme Ressourcen aufgewendet, um hunderttausende komplexe Verwaltungs- und Gerichtsverfahren zu führen. Umgekehrt haben auch viele Asylwerber selbst nicht selten das Vermögen ihrer Familien aufgewendet, um in ihre Wunschländer zu gelangen.

Aber innerhalb der EU ist die Zuständigkeit doch in der Dublin III-Verordnung geregelt. Man kann sich sein Zielland nicht aussuchen.

Das funktioniert in der Praxis aber nicht. Es gibt keine klaren und rigoros durchgesetzten Regeln. Jährlich werden mehrere zigtausend Verfahren geführt, um die Leute an das zuständige Land zu überstellen. Dieser „Dublin-Verschiebebahnhof“ ist doch Unsinn.

Meiner Meinung nach sollten Asylanträge an den EU-Außengrenzen gestellt und bearbeitet werden. Also im Rahmen einer Vorprüfung durch EU-Behörden. Jene, die aus sicheren Ländern kommen, werden zurückgeschoben. Die anderen werden an einen zuständigen Staat überstellt. Dazu braucht es einen fairen Verteilungsschlüssel. Wie wir wissen, sind die Verhandlungen dazu leider äußerst schwierig. Im Zentrum steht dabei jedenfalls der Schutz vor Verfolgung – nicht jene, die unrealistische Vorstellungen von Europa haben und nach einem besseren Leben suchen.

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Und außerhalb der EU?

Mittlerweile besteht Einigkeit darüber, dass große Migrationsbewegungen ganzheitliche Regelungen brauchen. Dabei müssen Herkunftsländer, Transitländer und Aufnahmeländer mit einbezogen werden. Es braucht ein neues Schutzkonzept. Dazu gehören meiner Meinung nach die Sicherheit in Drittländern, Schutzzonen und die Schaffung von Existenzmöglichkeiten in der Region. Außerdem auch weiterhin Aufnahme -und Resettlementprogramme.

Was bedeutet das für Asylverfahren?

In Massenfluchtsituationen stößt die Bearbeitung einzelner Asylanträge an ihre Grenzen. Es braucht mehr allgemeine Prüfungsmaßstäbe, die über die simple Frage hinausgehen, ob jemand aus einem sicheren Land kommt. Wenn Beamte immer wieder mit derselben Verfolgungssituation konfrontiert sind, sollte man den Umgang damit einheitlich und nach einem bestimmten Schema klären. Das geht schneller und ist fairer. Außerdem wird dadurch der Anreiz geringer, das Asylverfahren in die Länge zu ziehen, um trotz fehlendem Schutzanspruch ein Bleiberecht zu erwirken. Gleichzeitig kann so das Abschiebeverbot beibehalten werden. Einer Änderung oder Kündigung der Genfer Flüchtlingskonvention bedarf es dafür gar nicht.

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„Der Gerichtshof hat kein Monopol darauf, wie das Recht sich weiter entwickelt.“

Also ist eine Reform gar nicht notwendig?

Eventuell doch. Menschen migrieren aus den unterschiedlichsten Gründen. Denkbar wäre die Ausarbeitung eines Zusatzprotokolls, das die Verfahrensweisen während Massenfluchtbewegungen regelt. Und die Einführung eines temporären Bleiberechts, das den unterschiedlichen Schutzinteressen besser Rechnung trägt als der tendenziell auf Einbürgerung ausgerichtete Flüchtlingsstatus. Derzeit gibt es hier nur entweder-oder: Anerkannter Flüchtling oder nicht.

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Wie stehen sie zur Kritik an der Europäischen Menschenrechtskonvention?

Es ist unumstritten, dass niemand in ein Land abgeschoben werden darf, in dem er gefoltert, unmenschlich oder erniedrigend behandelt werden könnte (Artikel 3 EMRK). Allerdings können laut Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) auch schlechte Lebensbedingungen zu einem Abschiebeverbot führen. Gerichte und Behörden waren daher selbst in eigentlich klaren Fällen unsicher, wie sie damit umgehen sollen. Das führte in Deutschland so weit, dass zahlreiche Verwaltungsgerichte eine Abschiebung selbst in EU Staaten für unzulässig erklärten, weil sie keine ausreichenden Integrationsprogramme für anerkannte Flüchtlinge vorsehen. Das halte ich für hypertroph.

Mittlerweile hat der EGMR seine Rechtsprechung relativiert und betont, dass eine schlechte wirtschaftliche Lage nicht als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung gilt. Dennoch haben manche EGMR-Urteile die Durchsetzung von Abschiebungen erschwert. Das betrifft gerade schwer straffällige und ausreisepflichtige Ausländer, die in ihren Heimatstaaten oft keine Gefängnisse zu erwarten haben, die unseren Vorstellungen einer menschenwürdigen Unterbringung genügen.

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Die Auslegung der Europäische Menschenrechtskonvention obliegt letzten Endes dem EGMR. Welche Einflussmöglichkeiten haben Staaten hier überhaupt?

EGMR-Entscheidungen sind für den betroffenen Staat bindend und umzusetzen. Die Staaten können die Rechtsprechung jedoch indirekt beeinflussen. EGMR-Entscheidungen sind Einzelfallentscheidungen. Der Gerichtshof hat kein Monopol darauf, wie das Recht sich weiter entwickelt. Die demokratisch legitimierten Parlamente und Regierungen spielen hier auch eine bedeutende Rolle. Sie können Erklärungen dazu abgeben, wie die Veränderungen der letzten Jahre sich auf das Recht auswirken. Zum Beispiel könnte man innerhalb der EU einheitliche und transparente Maßstäbe für die Auslegung des Begriffs der „unmenschlichen Behandlung“ erarbeiten. Der EGMR wäre daran zwar nicht gebunden, müsste sie aber im Rahmen der Wiener Vertragsrechtskonvention beachten (Art. 31). Auch der EGMR kann Handlungen und Stellungnahmen von Staaten nicht völlig ignorieren. 

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