Georg Gassauer war als freier Wissenschafter 60 Tage in Italien. Schwerpunkt seiner Recherchen war die Frage, welche Auswirkungen die offensichtlichen Informationsasymmetrien zwischen Behörden, Migranten und Bevölkerung haben. Sein Paper wird demnächst am Liechtenstein Institute on Self-Determination an der Princeton University erscheinen. Für Addendum hat er als Gastautor einige Beiträge verfasst, die auf diesen Recherchen basieren. Abseits der wissenschaftlichen Recherchen hat Gassauer in seinem Tagebuch aber auch sehr persönliche Eindrücke und Erlebnisse festgehalten. Wir veröffentlichen an dieser Stelle einige Auszüge daraus.
Eine Kirche, drei Stockwerke unter der Erde, abseits des Corso Italia in Ragusa, Sizilien: Ein junger Prediger schart seine Herde um sich. Er fordert sie auf, keine Sekunde mehr auf sozialen Medien zu verbringen und in der gewonnenen Zeit ihre Herzen für Jesus Christus zu öffnen. Da stehen wir alle nun, Händchen haltend, und beten für ein besseres Schicksal, mehr Reichtum und eine Aufenthaltsgenehmigung.
Aber nein – das ist nicht der Anfang dieser Geschichte. Ich sollte am Vortag beginnen, auf dem Parkplatz eines billigen Modehauses am Rande von Ragusa.
Denn auf diesem Parkplatz beginnt meine spirituelle Reise in das „Little Lagos“ von Ragusa. Hier wurde ich von einem älteren Nigerianer, Atembota, angesprochen, der mich nach etwas Kleingeld fragte. Ich würde ihn aber fälschlicherweise für die nächsten zwei Tage Atembosa nennen.
Atembota kommt aus Edo im Westen von Nigeria. Ohne Job in Edo zog er in den neunziger Jahren nach Libyen, um eine Autowaschanlage zu eröffnen, und damit seine vier Kinder zu unterstützen. Viele vergessen, dass Libyen bis 2011 einer der größten Arbeitgeber in Afrika war. Das Leben war gut. 100 Kilometer von Tripolis entfernt, baute Atembota sich ein ziemlich schönes Leben auf, bis „sie“, oder besser gesagt „Obama“, Gaddafi stürzten.
„Das war Obamas größter Fehler. Gaddafi war ein guter Mann“, versichert mir Atembota, „Obama hat das einfach nicht verstanden.“ Das ist natürlich ein Detail, das ich erst einen Tag später bekomme, und das in der Eintrittskarte für diese neue Welt enthalten war.
Auch Pastor Elvis war bis 2011 in Libyen, „selbstständig“, wie er sagt. Er verließ Edo vor ein paar Jahren und war unter Gaddafi recht glücklich: „Ein guter Mann, ein starker Führer“, sie hätten ihn nicht entmachten dürfen. Wer sind „sie“? Obama natürlich.
Nigerianer, wie ich bemerkt habe, haben eine Gabe, autokratische Führer zu schätzen, und scheinen im Allgemeinen alle Bedenken in internationalen Angelegenheiten an die Vereinigten Staaten zu richten, unabhängig von der Hautfarbe der Regierenden. Dass es der französische Präsident Sarkozy war, der Schuld am Sturz Gaddafis hatte … ein Blick des Misstrauens, gefolgt von einem „nie von ihm gehört“. Es ist schon ein Zeichen, dass die glorreichen Tage der „Grande Nation“ wahrlich vorbei sind, wenn Colliers unterste Milliarde Frankreichs kolossalste Misserfolge der Jüngeren Geschichte den Vereinigten Staaten zuschreibt.
Beide Männer trafen sich Ende 2011 auf einem Holzboot. Das Boot musste fünfmal nach Libyen zurückkehren. Als die Männer bei ihrem letzten Versuch schließlich von einem Sturm getroffen wurden, kenterte das alte Holzboot. Fast 700 Menschen an Bord ertranken, aber „Gott hat uns gerettet, Gott wollte, dass wir nach Italien kommen“, erzählt mir Atembota. An diesem Tag war Gottes Vermittler die italienische Küstenwache, die sie aus dem Wasser fischte und ins Mineo Camp, Siziliens größtes Lager, brachte.
Dort warteten sie zwei Jahre lang auf ihre Papiere. Während einer der beiden Männer auf der Straße und auf Parkplätzen um Geld bettelte, folgte der andere seiner Berufung, Gott zu dienen.
Vielleicht war es ja so, dass nachdem der Motor des Boots versagte und es in der Finsternis des finalen Sturms kenterte, Elvis wiedergeboren wurde und er keinen anderen Weg sah, als auf Erden ein Diener Gottes zu sein. „Auf dem Boot, in der Dunkelheit des Ozeans, ist das einzige Licht, das du sehen kannst, das Licht Jesus Christi …“, sagt er, und seine tiefschwarzen Augen leuchten.
Einmal in Sicherheit und an Land, verschwendete Elvis keine Zeit und war fleißig. Er gründete eine kleine evangelikale Bewegung im Lager. Als Elvis seine Papiere erhielt und aus dem Lager wegziehen musste, war die kleine Bewegung zu einer provisorischen Kirche mit 300 bis 400 Leuten herangewachsen. Die Kirche konzentrierte sich auf diejenigen, die nach einem Weg suchten, um im Wirbel italienischer Flüchtlingsprozeduren zurechtzukommen, und auf diejenigen, die immer frustrierter wurden, weil sie nicht wussten, was als Nächstes kommen würde.
Immer spürten sie die Angst, was es bedeuten könnte, einen negativen Bescheid zu bekommen.
Das letzte Jahr hatte ich fälschlicherweise angenommen, dass diese Angst hauptsächlich durch den Druck befeuert wird, als Versager abgestempelt zu werden, sobald man nach Hause geschickt wird. Aber nein. Die Angst rührt vielmehr daher, dass den Überlebenden, die einen negativen Bescheid erhalten, die Gnade Gottes verwehrt wird. Wie die Israeliten predigt auch Elvis: „Wir wurden auserwählt zu überleben. Wir wurden auserwählt, Europa zu sehen und zu erleben, um zu lernen und Wissen nach Hause zu bringen.“
Ist das zu spirituell? Für uns Europäer, uns Weiße oder „Oyibo“, wie wir genannt werden, wahrscheinlich. Aber für die Nigerianer, die im modrigen Keller beten, tanzen und singen, läuft die Welt so. Und um ihre Motive zu verstehen, ist es vielleicht erwähnenswert, dass ihre Welt sich nicht nur objektiven Fragen über die Existenz Gottes widmet … die Bedeutung und Ableitung von Zweck und Vernunft selbst und wie man die subjektive Natur der Trinität einschätzen kann. Nein … Nein. Hier ist der Gottesbegriff eine überlegene Kraft, die eine kontrollierende Macht hat. Sei gut zu Gott, und dein Glück wird kommen. Öffne dein Herz für Jesus, und du wirst einen Job bekommen und vielleicht deine Papiere erhalten.
Matthäus 13,10–17 lauschend, wie er von einer tiefen weiblichen Stimme gestottert wird, ist klar, dass hier das Christentum und Gott reiner sein müssen. Drei Stockwerke unter der Erde und in den Seelen dieser winzigen nigerianischen Gemeinde müssen Gott und die mit ihm verbundenen Vorstellungen einfach sein, sie müssen Hoffnung geben. Sie müssen zumindest denjenigen, die gerade aus dem Boot gestiegen sind und mit Europa und der Freiheit konfrontiert werden, die Europa plötzlich mit sich bringt, Orientierung geben.
Eine Freiheit ohne Eltern; eine Freiheit, die von den sozialen Strukturen weggeht; Freiheit zu reisen; Freiheit, lesbisch oder schwul zu sein.
Es mag uns vielleicht einfacher erscheinen, aber vielleicht, nur vielleicht, hat diese Kirche ohne Schnörkel, mit ihrer lauten, unkontrollierten Musik und Dekoration aus Plastik, die den Armen dient und ihnen Liebe schenkt, die wir ignorieren, die betteln, Drogen verkaufen und sich prostituieren, aus welchem Grund auch immer, mehr mit den ursprünglichen Lehren von Jesus Christus gemein, als wir zugeben wollen.
Elvis versteht das und sieht seine Pflicht darin, die Herde im Zaum zu halten, damit die Leute nicht die Kontrolle verlieren, damit sie Afrika nicht entehren und auch, dass sie, wenn sie nach Hause zurückkehren, wieder akzeptiert werden können. Denn, versichert er mir, jeder will irgendwann wieder nach Hause!
Bis heute hatte ich nie wirklich über die Auswirkung des einen Fotos nachgedacht. Ich hatte es fast vergessen. Bis ich nach Catania kam. Allein in den letzten Tagen ist es so oft erwähnt worden. Von den Linken und den Rechten. Der leere Strand und die Wellen dienen immer noch als Rahmen, von dem aus sie ihre Handlungen rechtfertigen. Ich frage mich, ob sie ihre Aufrichtigkeit verlieren, je mehr sie darüber reden.
Es war definitiv der Beginn von etwas Neuem. Eine neue Ära in der Politik, eine Öffnung, eine Ära der Kreativität und der Liebe, die an die Oberfläche drängte, sie brachte die Menschen zusammen, und alles und jedes schien rein und schön. So viele neue Organisationen und Ideen entstanden. Wussten wir damals schon, dass es an dem Foto lag?
NGOs berichteten über Tausende von Telefonanrufen, bei denen Menschen nachfragten, wo sie helfen oder wie sie Geld spenden können. Es folgten Millionen an Spenden. Es war die Geburtsstunde der DIY-NGO-Bewegung. Akronyme und neue Organisationen schossen aus dem Boden, und zum ersten Mal hatten die Regierungen keine Einwände gegen unqualifizierte Personen, die den Transit oder die Rettungsaktionen abwickelten. Rückblickend wussten die Institutionen nicht, wie sie es machen sollten, und waren genauso dilettantisch wie wir unterwegs.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich alles ändern würde.
Jetzt kommt es mir nur noch absurd vor, wie eine Folge von „Black Mirror“. Aktivisten sind auf Booten und Flugzeugen vor einer Küste, um über Leben und Tod von Fremden zu entscheiden. Andere schreien auf den Straßen, um im Namen und der Idee des Jungen Grenzen zu öffnen oder zu schließen. Je mehr ich grabe und Fragen stelle, desto mehr höre ich zu, dass viele über ihn reden, aber ihre Liebe zu ihm ist verschwunden. Wie Stillers Schutzengel erzählten sie es zu vielen Menschen. Er ist verblasst und alles, was von ihm übrig ist, ist eine Referenz.
Aylan Kurdi wäre in wenigen Wochen fünf Jahre alt geworden. Im Hafen von Valletta sitzend frage ich mich, ob ich nicht hier sein würde, wenn er nicht auf dieses Boot gezwungen worden wäre? Und die, die ich morgen treffe?
Wenn du dich jemals fragst, was mit denjenigen passiert, die im Rahmen des Dublin-III-Abkommens zurückgeschickt werden – nur wenige tun es tatsächlich –, aber falls du es doch tust: Sie landen auf einem stillgelegten Parkplatz hinter dem zweitgrößten Bahnhof Roms: Tiburtina. Auf meiner Reise bemerke ich, dass es immer Parkplätze sind, die Ausgangspunkt und gleichzeitig ungewollter Endbestimmungsort für viele Migranten sind. Aus Norwegen, Schweden oder Deutschland zurückgekehrt, schlafen sie hier unter einer Birke auf einer gespendeten Yogamatte neben denjenigen, die gerade versuchen, in diese Länder zu gelangen.
Es ist ein seltsamer Ort.
Das Einzige, was das Leben auf dem Parkplatz ausmacht, ist das Anstehen für die drei Mahlzeiten, die von einer Organisation gesponsert werden, die die römische Stadtverwaltung 20-mal versucht hat aufzulösen, die sich aber weigert aufzugeben. Hier treffe ich Emir, einen 17-Jährigen aus Darfur. Er ist ganz allein auf diesem von Fremden umgebenen Parkplatz, aber glücklich, dort zu sein. Er ist wirklich ein nervöses Wrack, zittert und zappelt ständig, aber er lächelt und wiederholt immerzu, dass „weiße Menschen gut und ehrlich“ sind: „Sie haben mich aus dem Wasser gezogen, und sie geben mir Nahrung und Unterschlupf.“ Ich weiß, naiv, oder? Aber er ist erst seit einem Monat hier und angetan von dem, was Europa bedeutet: Freiheit.
Ein Ort, an dem jeder gehört wird. „In Afrika“, wird er ernst, „muss man stark sein, man braucht Geld oder Waffen, und wenn man das hat, bestrafen sie dich.“ Dann sagt er: „Wie die Araber denkt Bashir [Präsident des Sudan], dass wir Tiere sind, sie denken, dass ich hässlich bin, weil ich schwarz bin. Sie schickten Soldaten nach Darfur und brannten es nieder. Ich habe dort auf der Straße geschlafen. Jetzt schlafe ich auch auf der Straße, aber hier bin ich sicher.“
Rihannas „I don’t wanna be the reason“ summend, setzen wir uns zum Abendessen auf den Asphalt, und er gibt mir seinen Flipflop, auf den ich mich setzen kann. Er erklärt weiter, dass das Geheimnis des Lebens darin besteht, Geduld zu haben, dass am Ende alles klappt. Allerdings ist das nicht irgendein europäischer Teenager, der Tony Robbins nachplappert. Er war an Orten, an denen nur wenige Europäer je gewesen sind, und ich vertraue seinen Worten. Er vertraut mir an, dass er nach Norden will und ich ihm vielleicht helfen kann. Ich schreibe meine Nummer auf ein ausgerissenes Blatt Papier, und als ich ihm meinen Stift anbiete, lehnt er ab – er hat kein Papier zum Schreiben. Er kann sich keins leisten, wozu würde er dann einen Stift brauchen? Als er einen Haufen Papierfetzen aus seiner Hosentasche zieht, weiß ich, dass er wirklich nichts hat. Was er trägt und bei sich hat, ist alles: gespendete Shorts, T-Shirt, der Flipflop, auf dem ich sitze. Tausend Meilen von zu Hause entfernt kann er nicht einmal seine Mama anrufen, um zu sagen: „Ich lebe, mach dir keine Sorgen.“
Er ist arm und allein, aber mit einer sehr bestimmten Idee in seinem Herzen von dem, was Europa bedeutet: Freiheit.
Auf dem Nachhauseweg fange ich an zu weinen. Das war mit Abstand das schwierigste Gespräch, das ich je hatte. Nicht wegen des Gesprächs an sich, sondern weil ich weiß, was Emir erwartet. Er kam hierher auf der Suche nach einem besseren Leben und zumindest mit der Idee, dass es irgendwo einen Ort gibt, an dem sein Leben von Bedeutung ist und wo er wegen seiner Hautfarbe nicht als hässlich angesehen wird. Stattdessen wird er ein gebrochenes System finden, das ihn zwingen wird, in den Untergrund abzutauchen, wo er das wird, was wir erwarten, und tun wird, was er nie tun wollte, um zu überleben, nur um in ein paar Jahren mit nichts in der Tasche auf den gleichen Parkplatz zurückzukehren, enttäuscht und verbittert!
Es ist fast wie eine selbsterfüllende Prophezeiung, und anstatt das Beste aus den Menschen herauszuholen, wird diese Erfahrung eine andere, hässliche Seite hervorbringen. Es ist ein niederschmetterndes Gefühl. Wir haben versagt. Wir sind gescheitert, weil wir ihre Vision von Europa aus den Augen verloren haben und sie durch das, was es heute ist, ersetzt haben.
Ich weine, denn irgendwie habe auch ich ihn enttäuscht.
Als ich auf dem Rücksitz eines Rollers durch Rom rase, frage ich Flavio (den Besitzer einer Bar, den ich erst vor wenigen Minuten kennengelernt habe) nach dem eritreischen Haus. Na ja, eigentlich zeige ich nur im Vorbeifahren drauf. „Lass uns nicht darüber reden.“
Wir weichen ein paar Autos aus, und dann ruft er: „Im März gibt es eine Revolution! Im März wählen wir.“
„Es ist nicht so, dass ich ein Rassist bin! Ich meine, schau dir meine Bar an (er hat wirklich die Hälfte der Benetton-Fotomodels beschäftigt), aber das ist zu viel …“ Autos. Fußgänger. 40 Sachen die Stunde. Der Wind übertönt seine Stimme. „Und die Europäer, die haben uns mit dem ganzen Schlamassel im Stich gelassen.“ Voller Stopp. Ich rutsche nach vorne. Eine rote Ampel. Der Motor läuft im Leerlauf unter dem Ledersitz.
„Man weiß, dass sie dort leben, keine Miete zahlen, keinen Strom zahlen und alle tausend Euro im Monat bekommen und dann kommen sie [die Guardia di Finanza] und prüfen mich?! Ich hätte nichts dagegen, aber sie haben Läden, Friseure und Kaffeehäuser da drin, die verdienen viel Geld und werden nie überprüft … Niemand hat mir geholfen.“
Grün. Swoosh! Und los geht’s. Die Vespa ist in guter Form.
Flavio hat nicht viel Zeit, also spricht er schnell: „Ich muss dafür bezahlen. Ich meine, ich habe kein Problem damit, wenn sie die Straßen reinigen oder ein legales Geschäft eröffnen, aber die Firmen und die Regierung, die diesen Ort leiten, verdienen das ganze Geld!“
„Welche Firmen?“
„Linke Firmen … die Genossenschaften. Es ist ein Netzwerk der Linken, das einander hilft. Und weißt du, was mich wirklich nervt? Während wir mit der schlechten Wirtschaft kämpfen, laufen diese Jungs [die Migranten] mit guten Klamotten herum, und ich meine Armani, Gucci, und sie haben die neuesten Telefone, Galaxy S8, und zahlen keine Steuern. Und dann machen sie [die Guardia di Finanza] es mir schwer! Unglaublich!
Wir fahren langsam in eine Kurve auf der Via della Tribuna, und er erzählt weiter.
„Ich sag’ dir, sie [die Regierung] haben nur bis Dezember Zeit, und dann ist alles vorbei. Vier nicht gewählte Regierungen … Eine oder zwei, okay, aber vier? Also bitte! Wofür halten sie uns?! Basta! Wir haben es satt!“
45 km/h. Wir wechseln die Fahrspur und weichen einem roten Fiat aus. Ich bete zum ersten Mal seit Jahren.
„Berlusconi! Er wird zurückkommen. Lega Nord oder 5 Sterne, egal. Die sind gut! Aber das System ist gegen sie, und deshalb können sie nicht so viel erreichen. Aber es wird eine große Veränderung geben!“
Wir bremsen langsam, ich steige ab und danke ihm. „Ciao!“ Er verschwindet wieder im Verkehr.
Ein widersprüchlicherer Tag hätte es nicht sein können: Vor der Scooterfahrt hatte ich gerade erst Vertreter von NGOs getroffen.
Ich liebe solche gegensätzliche Tage, die mir mein Job bietet.
Servus Rene,
Die Züge werden stark kontrolliert, Busse werden noch stärker kontrolliert, und es werden alle zurück nach Bozen oder Verona geschickt. Die bilaterale und trilaterale Polizeizusammenarbeit zwischen Deutschland, Italien und Österreich funktioniert hier tatsächlich, wer hätte das gedacht?!
Jetzt, da ich fast am Ende der Reise bin, bin ich mir sicher, dass die Migranten zum Großteil zu Unrecht an den Pranger gestellt werden (ja, sicher, es sind auch viele unangenehme Typen dabei) … Der echte Feind, wenn man so will, sind wir selbst: Dilettantismus & Ego bei den Entscheidungsträgern und in den Medien. Der Brenner ist ein gutes Beispiel dafür, da ist nichts! Echt nicht! Tom und ich waren den halben Tag oben.
Die einzigen Ausländer, die herumquirlen, sind Schnäppchenjäger aus Saudi-Arabien oder Katar, die sich am riesigen Outlet-Center neben dem Bahnhof ansammeln. Sie haben alle ein Schengen-Visum, fahren einen gemieteten 5er-BMW und denken nicht daran, in Österreich um Asyl anzusuchen …
Täglich kommen vielleicht acht irreguläre Migranten am Brenner an. Und dann ist es eigentlich nur peinlich, was mit ihnen passiert: In Österreich wird ihnen das Handy abgenommen, und sie müssen eine Verwaltungsstrafe von bis zu 500 Euro zahlen, dann werden sie nach Innsbruck gebracht und dann wieder zum Brenner, wo sie dann informell über die Grenze geschickt werden, wo sie dann von den Alpini festgenommen werden, nur um in den nächsten Regionalzug nach Innsbruck gesetzt zu werden, wo das alles wieder losgeht, bis ein Beamter auf die Idee kommt, sie nach Bozen zurückzuschicken. Dort schlafen sie dann unter einer Brücke und können nicht weg, weil sie keine Papiere haben und sich auch nicht registrieren können, eben weil sie keine Papiere haben! Und sollten sie welche haben, ist es ein Fetzen Papier. Kein Witz! Terror, Drogen, Schlepperei und was es sonst noch alles gibt, und die kriegen einen Fetzen Papier, wo eigentlich irgendein beliebiger Name darauf stehen könnte! „Ach was! Wir wissen ja, wer das ist“, würde ein ranghoher Beamter in Wien jetzt an dieser Stelle in einem Interview sagen, „wir haben ja die Fingerabdrücke.“
Was noch absurder ist: dass einige, die aus Deutschland zurückgewiesen werden, einen Bescheid bekommen, dass sie Tuberkulose haben! Aber nicht in Quarantäne gestellt wurden. Sie können den Bescheid aber nicht lesen, also wissen sie nicht, was sie haben. Würden sie es aber wissen, könnten sie auch nicht in Bozen ins Krankenhaus gehen, eben weil sie keine Papiere haben, oder weil ihnen keiner auf Urdu oder in ihrer Landessprache gesagt hat, dass am Dienstag und Freitag zwischen 10 und 12 eine Sprechstunde stattfindet.
Überleg dir das mal: Von den informell strukturierten Slums in Dakar, Lagos oder Banjul mit den Schleppern durch die Sahara, dann die Foltercamps in Libyen überlebt, zu einem sinkenden chinesischen Schlauchboot über das Mittelmeer und dann … „Halt! Gemäß Paragraf soundso Absatz y Einreiseverbot!“ und dazu eine Verwaltungsstrafe, welche durch ein Stückchen Papier vollstreckt wird. Mit einer Erklärung auf Deutsch, Italienisch oder schlechtem Englisch. Was du nicht sprichst und verstehst. Ach ja, und das Handy haben sie dir auch weggenommen, also kannst du nicht einmal Google Translate oder Siri befragen. Eventuell nachdem du ein paar Meter hin und her über die Grenze geschoben wurdest, und dir das letzte Bargeld auch noch entwendet wurde, sitzt du verwirrt im Zug, um dann wieder nur von einem Schaffner in einer Sprache bzw. einem Dialekt, den man noch nie gehört hat, angeschrien zu werden, weil man schwarzfährt.
Und die ganze Zeit über hast du dir doch vorgenommen, dich beim Neustart in Europa an die Landesregeln und Bräuche zu halten.
Wenn ich dann die Verantwortlichen in ihren – zuletzt in den 70ern ausgestatteten – Büros in Wien, Mailand oder Rom darauf anspreche, schauen sie prüfend zurück and sagen beinhart „It is under control!“
Es ist einfach nur kafkaesk.
Ich habe meine neuen Freunde vom Waltherpark in Bozen gefragt, ob sie mir mal zusammenschreiben könnten, was sie über Europäer denken. Ich bin schon gespannt, was sie schreiben.
Lieber Rene, bleib lieber in Mexiko … Die haben sicher mehr Ahnung als wir.
LG
Der Abschied von Ventimiglia war etwas abrupter, als ich gedacht hätte. Nicht nur, weil ich mich in Caroline, die Rezeptionistin des Hotels, voll verknallt hatte (Elvis’ „Sweet Caroline“ klingt mir immer noch in den Ohren). Vielleicht auch, weil ich einen ganzen Tag nicht wahrgenommen hatte! Plötzlich war es schon Mittwoch! Wo ist die Zeit hin? Wow. 60 Tage sind rasend schnell vergangen, und irgendwie fühle ich mich genauso leer und verwirrt wie zu Beginn.
Im Zug zurück von Berg im Drautal sitzend, erinnere ich mich an meine erste lange Schicht mit Train of Hope vor zwei Jahren. Müde, stinkend, aber erfüllt. Auf eine merkwürdige Weise auch ein wenig angewidert von mir selbst.
Ich musste die ganze Zugfahrt über an eine Geschichte denken, die mir Tom gestern erzählt hat. Es ging um ein Gespräch, das er mit einem Sudanesen unter einer Brücke hatte. Er war in einem Flüchtlingslager in Darfur aufgewachsen. Als er sich umblickte, sagte er zu Tom, dass die Situation, in der er sich gerade befinde, die gleiche sei wie in Darfur. Trotz aller Versprechungen habe sich nichts wirklich geändert, nur der Ort.
Weiße Politiker und Filmstars kamen dort ebenso wie hier in die Lager, um für ein paar Stunden für Frieden und Zusammengehörigkeit zu kämpfen und sich dann wieder in ihre Jeeps zu setzen. Damals wie heute kommen weiße Journalisten zum Smalltalk und versprechen, dass sie seine Geschichte der Welt erzählen werden, aber er hört nie wieder etwas von ihnen. Nichts änderte sich, der Journalist wurde berühmt, aber er wurde vergessen. Weiße Fotografen kamen, um Fotos von den Zäunen in Darfur zu machen, wie jetzt, wo sie kaum über die Grenze treten oder sich, noch schlimmer, hinter einem Busch verstecken, um zu fotografieren, sie fragen nicht einmal um Erlaubnis, sie posten es einfach auf Instagram. Und die der NGO? Tom hat nicht gefragt, aber ich denke, ich kann die Antwort erraten. Nichts ändert sich, und nichts wird sich ändern. Ventimiglia ist, wenn wir ehrlich sind, ein gewaltiger Freiluftzoo.
Im Rückblick auf die letzten 24 Monate habe ich das Gefühl, dass ich an einem Punkt all diese Protagonisten gewesen bin. Hat es mir etwas gebracht, den Menschen in Wien zu helfen, Berichte über die Westbalkanroute zu schreiben oder gar Fotos vom Pfad des Todes zu machen? Auf jeden Fall. Schau, wo ich all das bekannt mache! Hat sich etwas für die geändert, denen ich geholfen, über die ich geschrieben oder die ich interviewt habe? Nein, sie leben immer noch ihr Leben, und ihre Stimme wollen wir nicht hören. Bin ich ein Voyeur?
War der Insiderwitz von Tom und mir, dass wir uns auf Safari befänden, auf der Jagd nach Fotos, Interviews und Informationen, akkurater, als wir vielleicht zugeben wollen? Es schmerzt, das öffentlich zuzugeben, aber ja! Ich reiste auf einer seltsamen Safari durch die Tiefen der Flüchtlingskrise. Meine „Big Five“ waren Präsidenten, Anwälte, Flüchtlinge, Prostituierte und Priester. Ich schätze, das wusste ich, als ich diese Reise begann. Oder vielleicht sogar das erste Mal, als ich am Hauptbahnhof war und die Busse ankommen sah. Ich staune nur über die Geschichte, die sich vor mir und nicht auf Facebook abspielt. Wie menschliches Elend solche Unterhaltung formen kann.
Ich habe mich in den letzten zwei Jahren immer, wenn die Leute sich mir zu diesem Thema näherten, seltsam gefühlt. Ich wollte nie eines dieser selbstgerechten Arschlöcher sein, die sich in den Mittelpunkt stellen, in dem ich Menschen „rettete“ oder „half“. Eigentlich hasse ich es, wenn Leute sagen, dass ich Gutes tue oder mich als einen der „Guten“ bezeichnen … So etwas gibt es nicht. Wir alle haben eine Agenda. Das ist das größte Thema unserer Zeit, und es geht darum, Lösungen zu suchen und Konflikte in der Zukunft zu vermeiden. Ich tue das für uns alle, ich tue es, so altmodisch es sich anhört, für die Republik!
Wirklich? Hab ich das gerade geschrieben? Die Republik? Das klingt zu amerikanisch. Nein … Nein. Ich tue es für mich, aus dem egoistischen Grund, mehr darüber zu wissen als jeder andere, und weiß zumindest, dass ich alles versucht habe, um zu ändern, was auf uns zukommt. Und das reicht nicht aus.
Und doch, so absurd das klingt, habe ich das Gefühl, etwas erreicht zu haben. Ich habe meine Big Five gefunden und musste nie den Auslöser drücken. Tom tat es.
Ich bin Gantenbein!