Weltweit haben aktuell 17,2 Millionen Menschen Schutz in einem anderen Land gesucht. Etwa 86 Prozent dieser Flüchtlinge befinden sich in Nachbarländern. Die meisten leben in der Türkei (2,9 Millionen), in Pakistan (1,5 Millionen), im Libanon (eine Million), im Iran (979.400), in Uganda (940.800) und in Äthiopien (791.600). Die Hälfte von ihnen lebt in Camps, die andere in großen Städten und Ballungsräumen der Gastländer. Dort schlagen sie sich oft in einem Status der Halblegalität in informellen Wirtschaftszweigen durch. Ob in einem Flüchtlingslager oder nicht, für viele dieser Menschen gilt: Sie haben keine Perspektiven, denn sie wissen nicht, ob und wann sie zurückkehren können, in den gegenwärtigen Gastländern haben sie kaum Aussichten, sich ein neues Leben aufzubauen.
Immer mehr dieser Personen entschieden sich deshalb in den vergangenen Jahren, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Wenn sie es in ein EU-Mitgliedsland schaffen, können sie dort in der Regel auch bleiben, selbst wenn sie keinen Asylstatus erhalten . Langfristige Perspektiven sind für jene, die keinen dauerhaften Aufenthaltstitel bekommen, aber auch dort schwer zu entwickeln; gleichzeitig ist ihre Versorgung in Deutschland, Österreich oder Schweden um ein Vielfaches teurer als in den unmittelbaren Nachbarländern. Zudem sehen sich die europäischen Hauptaufnahmeländer zusehends mit den Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit konfrontiert.
Als möglichen Ausweg aus dieser No-win-Situation für alle Beteiligten haben die britischen Ökonomen Paul Collier und Alexander Betts ein Konzept vorgelegt, das vorsieht, die europäischen Grenzen für Geflüchtete zu schließen und im Gegenzug die Anstrengungen in der Entwicklungszusammenarbeit massiv zu verstärken. Ihre Grundthese aus ökonomischer Sicht: Durch eine internationale Aufgabenteilung in Finanzierung und Versorgung von Flüchtlingen kann eine massiv höhere Effizienz erzielt werden. Die Kosten, die derzeit für die hochentwickelten Asylsysteme in Europa anfallen, sollen eingespart und als Investitionen in die derzeitigen Gastländer der Geflüchteten fließen.
Während es die Aufgabe der unmittelbaren Nachbarländer sein sollte, Flüchtlingen Schutz und Zugang zum Arbeitsmarkt zu gewähren, sollen reichere Staaten strukturelle Rahmenbedingungen und finanzielle Mittel für Entwicklungsprojekte bereitstellen, von denen sowohl Flüchtlinge als auch Einheimische profitieren. Als Strategie werden von Collier und Betts Sonderwirtschaftszonen (SEZs) vorgeschlagen. SEZs sind abgegrenzte Gebiete innerhalb von Staaten, in denen eigene rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen werden, um die Industrialisierung voranzutreiben.
Die EU soll in diesem Konzept beim Aufbau solcher Zonen im Nahen Osten und in Nordafrika mitwirken. Zum einen, indem sie das notwendige Kapital zur Verfügung stellt, zum anderen, indem sie die eingerichteten Industriezonen handelsrechtlich begünstigt. Die Produktionsstätten sollen damit auf Exporte nach Europa ausgerichtet sein. Für die politische Umsetzbarkeit des Plans ist entscheidend, dass von diesen Sonderwirtschaftszonen auch die ansässige Bevölkerung profitiert. Würden neue Arbeitsplätze nur für Flüchtlinge geschaffen, müsste man mit erheblichem Widerstand vonseiten der einheimischen Bevölkerung rechnen. Ebenso entscheidend ist die Bereitschaft der entwickelten Länder, massiv zu investieren. Denn viele Länder, Jordanien etwa, erhalten eigentlich keine Entwicklungshilfe, beherbergen aber große Zahlen an Geflüchteten. Sie wären aus eigener Kraft nicht in der Lage, die Grundvoraussetzungen für solche Sonderwirtschaftszonen bereitzustellen.
Die Idee, über SEZs die Industrialisierung in ärmeren Ländern zu forcieren, ist in der Entwicklungsökonomie nicht neu. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass sie geeignet sind, Handelsquoten zu steigern, die Verbreitung von Produktionstechnologien in ärmeren Regionen zu fördern und Arbeitsplätze zu schaffen. Die frühen SEZs im asiatischen Raum werden dementsprechend von Ökonomen zum großen Teil positiv bewertet. In Afrika hingegen waren ähnliche Versuche bisher selten von Erfolg gekrönt. Private Investitionen in den meisten afrikanischen Ländern blieben bisher hinter den Erwartungen zurück. Als Hauptursache dafür gelten unzureichende Infrastrukturen und das hohe Maß an Korruption. Mangelnde Elektrizitäts- und Wasserversorgung sorgen für Produktionsausfälle, bürokratischer Aufwand und korrupte Behördensysteme verschlingen Geld, was Investitionen für Firmen zu unsicher und unattraktiv macht. Es bedürfte also wohl auch intensiver politischer Anstrengung zur Stabilisierung der infrage kommenden Partnerländer.
Problematisch ist die Art, wie Collier und Betts das Verhältniss zwischen den Kosten, die für die Versorgung von Geflüchteten in Westeuropa anfallen, und jenen, die bei Versorgung in den Nachbarländern zu Buche schlagen würden, berechnen. Die beiden gehen davon aus, dass die Versorgung eines Geflüchteten in Deutschland 135-mal so teuer ist wie jene, die durch das UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) erfolgt. Die Autoren vergleichen die Kosten für die Versorgung von einer Million Flüchtlingen in Deutschland über zwei Jahre mit den Kosten für die Versorgung aller Flüchtlinge unter UNHCR-Mandat während eines Jahres. Zudem werden mögliche Einnahmen, die durch die erfolgreiche Integration wenigstens eines Teils der Versorgten in den Arbeitsmarkt zu erwarten sind, gänzlich außer Acht gelassen. Der Unterschied bleibt freilich dennoch substanziell. Selbst wenn er nur auf das Verhältnis 20:1 hinausliefe, könnte durch die Freisetzung dieser Gelder in Europa für die derzeitigen Gastländer der Geflüchteten einiges erreicht werden.
Fest steht, dass es sich um ein wirklich großes Vorhaben handelt, was naturgemäß die Frage nach den Chancen seiner Umsetzbarkeit aufwirft. Ist es überhaupt möglich, zusätzliche Arbeitsplätze für zwei Millionen Flüchtlinge in der Türkei oder für eine Million im Libanon und darüber hinaus auch zusätzliche Jobs für die einheimische Bevölkerung zu schaffen? Selbst wenn Handelsbarrieren nach Europa abgebaut würden und Westeuropa Importe aus den SEZs forcierte, könnte wohl nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Situation innerhalb weniger Jahre verbessern würde. Längerfristig hingegen ist natürlich denkbar, dass auch über eine gesteigerte Binnennachfrage in den Gastgeberländern hohe Wachstumsraten und mehr Beschäftigung entstehen.
Leicht wird das nicht: Die Weltbank schätzt, dass die Zahl der Personen im erwerbsfähigen Alter in allen Entwicklungsländern bis 2050 um 2,1 Milliarden steigen wird. Bei gleichbleibender Beschäftigungsrate in den betroffenen Ländern würden circa 900 Millionen davon keine Arbeit finden. Davon entfallen auf Nordafrika und den Nahen Osten 204 Millionen im erwerbsfähigen Alter und 120 Millionen, die keinen Arbeitsplatz finden könnten – keine guten Voraussetzungen, um Kapazitäten für Geflüchtete frei zu machen.
Darüber hinaus müsste als Voraussetzung für die Einrichtung solcher Zonen in den potenziellen Partnerländern die politische Stabilität erhöht werden, um sicherzustellen, dass den Geflüchteten politische Rechte und tatsächlicher Schutz gewährt werden. Wenn Schutzsuchende in den Gastgeberländern selbst wenig Sicherheit und politische Rechte erhalten, wieso sollten sie nicht nach Europa weiterziehen? Kritiker befürchten, dass der Vorschlag als Ausrede reicher Länder benutzt werden könnte, um das Aussetzen ihrer humanitären Verantwortung zu legitimieren, dass man also zwar im ersten Schritt die Migrationsrouten schließen, aber dann im zweiten Schritt nicht die nötigen Anstrengungen zur Entwicklung der mit der Versorgung und Verpflegung der Migranten alleingelassenen Regionen unternehmen könnte.
Als kurzfristige Lösung für die Reduktion der Migrationsströme nach Europa kommt das Konzept von Collier und Betts eher nicht infrage. Klar muss aber auch den Kritikern sein, dass es zu einer langfristigen Entwicklungsstrategie, die Geflüchtete und Migranten langfristige Perspektiven in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft eröffnet, keine Alternative gibt.