Seit geraumer Zeit kursieren Berichte und Stellungnahmen, dass sich in den nächsten Jahren eine oder gar mehrere Millionen Migranten und Flüchtlinge auf den Weg nach Europa begeben könnten. Die Frage, ob und wie der gegenwärtige hohe Standard des europäischen Menschenrechtsschutzes aufrechterhalten werden kann, stellt sich immer dringender. Schließlich verdeutlichen das Bevölkerungswachstum und die globalen Flucht- und Migrationsströme die Defizite des bestehenden Flüchtlingssystems.
Hier stechen vor allem folgende Punkte hervor:
Kurzum: Das bestehende Asylsystem weist schwerwiegende Defizite auf. Darunter leiden sowohl die Flüchtlinge als auch die Bevölkerung im Zielland selbst. Integration wird oft nicht gelingen. Die Ressourcen für diejenigen, die Hilfe vor Ort brauchen, werden geringer. Die Stimmung bei vielen Wählern schwankt zwischen Sorge und Wut. Was sind die Alternativen?
Bei Abschiebungen oder der Abweisung an der Grenze sind eine Reihe menschenrechtlicher Verpflichtungen zu beachten, die auch von der EU ausdrücklich anerkannt werden (konkret in Artikel 21 der Qualifikationsrichtlinie). Darunter fallen neben neben der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention insbesondere der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und die UN-Antifolterkonvention.
Aus diesen Verträgen folgt, dass Flüchtlinge grundsätzlich nicht von der Einreise abgehalten werden dürfen (mit Ausnahme all jener, die aus sicheren Drittländern stammen).
Hinzu kommt der Abschiebeschutz. Laut Genfer Flüchtlingskonvention sind Zurückweisungen in Länder, in denen aus den in der Flüchtlingsdefinition genannten Gründen Verfolgung droht, nicht zulässig. Dieses Zurückweisungsverbot gilt allerdings nicht für Flüchtlinge, die eine Gefahr für die Sicherheit des betroffenen Landes darstellen.
Die Europäische Menschenrechtskonvention geht wesentlich weiter: Aufgrund von Artikel 3 darf niemand (also auch Straftäter oder potenzielle Terroristen nicht) an der Grenze abgewiesen oder in ein Land abgeschoben werden, wenn ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (selbiges gilt im Übrigen auch für den Pakt über bürgerliche und politische Rechte; die nachfolgenden Ausführungen gelten sinngemäß also auch für diesen Vertrag).
Unter Erniedrigung fallen etwa symbolische körperliche Bestrafungen ohne Langzeitschäden. In Ländern wie Libyen (siehe hierzu diesen Bericht von Oxfam) lassen sich derartige Formen der Polizeigewalt (oder Gewaltausübung durch Dritte) nicht ausschließen. Dementsprechend würden Abschiebungen gegen die EMRK verstoßen.
Ein vergleichbares Zurückweisungsverbot ergibt sich außerdem aus dem von Österreich ebenfalls ratifizierten Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der Betroffenen ebenfalls die Möglichkeit einer Beschwerde bietet (konkret beim UN-Menschenrechtskomitee) sofern das betroffene Land dem Zusatzprotokoll angehört (Österreich ist Vertragspartei).
Außerdem zu nennen ist Artikel 3 der UN-Antifolterkonvention, der allerdings weniger weit geht: Er beinhaltet lediglich das Verbot, eine Person in ein Land auszuweisen oder abzuschieben „wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, daß sie dort Gefahr liefe, gefoltert zu werden“ – damit bietet sie keinen Schutz vor Abschiebungen bei unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. Der (schwedische) Vorschlag, das Abschiebeverbot weiter zu fassen, wurde nicht in die Endversion von Artikel 3 aufgenommen.
Das Abschiebeverbot bei drohender Folter gilt im Übrigen absolut, also selbst bei einem etwaigen Ausstieg aus sämtlichen einschlägigen menschenrechtlichen Verträgen und auch in Ausnahmesituationen jedweder Art.
Wer sich an diesen Verpflichtungen stößt, muss die Alternativen durchdenken. Österreich (beziehungsweise andere EU-Staaten, besonders jene mit Außengrenzen) könnte versuchen,
Österreich könnte versuchen, über den Umweg eines Vorbehalts (wozu es technisch einen Aus- und Wiedereintritt in die EMRK bräuchte) einseitig festzulegen, dass das Verbot der Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung keine Abschiebungen in Länder verbietet, in denen „nur“ erniedrigende Behandlung droht. Eine andere Möglichkeit bestünde darin, den Abschiebeschutz für Terroristen und Intensiv-Straftäter abzumildern. Außerdem könnte man die gesamte EMRK dahingehend abändern. In jedem Fall würden die übrigen Menschenrechtsstandards beziehungsweise die sonstigen Verpflichtungen aus der EMRK unverändert weitergelten.
Derartige Schritte erscheinen bei näherer Betrachtung jedoch eher unrealistisch: Ein Rückschritt im Bereich der Menschenrechte wäre ungewöhnlich, weil die Konventions-Staaten nach ihrem Selbstverständnis eher darauf hinwirken sollen, die vereinbarten Rechte kontinuierlich aus- und nicht zurückzubauen.
Auch die Missachtung von EGMR-Urteilen oder gar ein endgültiger Austritt aus der EMRK stellen eine lediglich theoretische Option dar: Zwar ist der Sanktionsmechanismus der EMRK ein bisweilen schwaches politisches Instrument und die EMRK am Ende des Tages ein völkerrechtlicher Vertrag, aus dem man aussteigen kann (das gilt auch für die übrigen genannten Verträge, von der Genfer Flüchtlingskonvention bis zum Pakt über bürgerliche und politische Rechte). Österreich wäre ohne EMRK auch nicht automatisch ein Unrechtsregime: Der alte Menschenrechtskatalog im Staatsgrundgesetz von 1867 gilt weiterhin, und es kann einen den modernen Standards über weite Strecken entsprechendes Menschenrechts-Gesetz erlassen. Man darf nicht vergessen, dass der Menschenrechtsschutz auf nationalstaatlicher Ebene wesentlich älter ist als die internationalen Menschenrechtsverträge.
Realpolitisch ist beides schwer denkbar: Sämtliche europäische Staaten sind Mitglieder der EMRK, Österreich gehört zu jenen Ländern, die EGMR-Urteile stets umsetzen. Ein Ausstieg aus der Genfer Flüchtlingskonvention, der UN-Antifolterkonvention oder dem Pakt über bürgerliche und politische Rechte ist ebenfalls eine eher theoretische Option. Abgesehen davon würde das Abschiebeverbot der Charta der Grundrechte der Europäischen Union weiter gelten. Österreich müsste also aus den bedeutendsten menschenrechtlichen Verträgen aussteigen und obendrein die EU verlassen.
An der Rechtslage lässt sich also nur schwer rütteln. Eher folgt aus ihr eine Quasi-Verpflichtung zum Handeln. Als realistische Alternative zum Status quo und zur Verhinderung weiterer unkontrollierter Zuwanderung bleibt damit der Versuch der EU und ihrer Mitglieder, vor Ort Bedingungen zu schaffen, die den menschenrechtlichen Standards genügen. Als Mindest-Erfordernis müsste das allgemeine Sicherheitsniveau so weit angehoben werden, dass Fälle von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung die absolute Ausnahme darstellen. Um ein langfristiges Funktionieren des jeweiligen Staates zu garantieren, wären auch in anderen Bereichen – von Bildung bis Gesundheit – Investitionen notwendig. Dabei darf man auch nicht vergessen, dass Wohlstandsgewinne zumindest auf kurze Sicht zu mehr Migration führen (sobald die Mittel für die Reise nach Europa zur Verfügung stehen).
Man spricht in diesem Zusammenhang von „Nation-Building“, also dem (Wieder-)Aufbau funktionierender Strukturen in dysfunktionalen Staaten. Ein Beispiel wäre EULEX, die Rechtsstaatlichkeitsmission der EU im Kosovo, der in vielen EU-Ländern als sicherer Herkunftsstaat gilt.
Die Voraussetzungen in Ländern wie Libyen, dem Irak oder Afghanistan, um drei der in diesem Zusammenhang bedeutsamsten Länder zu nennen, wären jedoch ungleich schwieriger. Dort müsste vielfach überhaupt erst Frieden geschaffen werden. Der politische Wille hierfür ist derzeit äußerst gering. Zur Erinnerung: Libyen ist auch deswegen ins Chaos abgeglitten, weil sich Großbritannien und Frankreich entgegen der Erwartungen nicht am Wiederaufbau beteiligt haben.
Doch auch sonst ist Skepsis angebracht: Die USA haben es weder im Irak noch in Afghanistan geschafft, ein funktionierendes und stabiles Staatswesen aufzubauen. Schwer vorstellbar, dass EU-Länder dabei mehr Erfolg hätten.
Eine zweite, immer wieder ins Spiel gebrachte Möglichkeit besteht darin, Teile des Staatsgebiets der großen Herkunfts- oder Transitländer zu „mieten“, um dort Schutzzonen für Flüchtlinge zu errichten. Kritiker verwiesen sogleich auf unangenehme Parallelen zur Zeit des Kolonialismus: China etwa hat Hongkong nicht ganz freiwillig für einen Zeitraum von 99 Jahren an die Briten vermietet. Auch andere Beispiele, wie die auf einem fraglichen Mietvertrag aus dem Jahr 1934 (der ein einseitiges Kündigungsrecht der USA, nicht jedoch für Kuba enthält) beruhende US-Kontrolle über Guantánamo wecken nicht gerade positive Assoziationen.
Prinzipiell ist die Vermietung von Staatsgebiet völkerrechtlich allerdings kein Problem. Grundvoraussetzung wäre eine auf Freiwilligkeit beruhende Einigung (sie darf also nicht aufgrund der Androhung oder Anwendung von militärischem oder sonstigem Zwang erfolgen) zwischen den betroffenen Staaten. Außerdem wäre aufgrund der territorialen Kontrolle der EU beziehungsweise ihrer Mitglieder die EMRK anwendbar.
Ob sich Staaten finden, die einen derart weitgehenden Einschnitt in ihre Souveränität akzeptieren, lässt sich schwer sagen. Bei Ländern wie Libyen würde sich zusätzlich die Frage stellen, ob die international anerkannte Regierung (die nur einen Teil des Staatsgebiets kontrolliert) einen derartigen Vertrag überhaupt abschließen kann.
Eine menschenrechtskonforme Lösung der Flüchtlingskrise wird vor diesem Hintergrund zur Herkulesaufgabe. Die EU müsste die Situation in den Herkunfts- und Transitländern entschieden verbessern oder zumindest Schutzzonen errichten. Dazu braucht es nicht nur ziviles Personal, sondern auch Soldaten.
Sonderlich realistisch erscheinen derartige Schritte noch nicht. Derzeit will die EU Migration durch die Kooperation mit afrikanischen und arabischen Regierungen und sogar den libyschen Milizen eindämmen. Offiziell bestehen die Möglichkeit zur Asylantragstellung und das umfassende Zurückweisungsverbot damit zwar weiterhin. Faktisch sollen die Menschen aber gar nicht erst an Europas Grenze gelangen, um diese Rechte in Anspruch nehmen zu können. Die hohen Asyl- und Menschenrechtsstandards gelten damit letztlich nur auf dem Papier.