Als am 11. September 2001 zwei Passagierjets in die Twin Towers des World Trade Centers in New York gelenkt wurden, starben 2.759 Menschen.
Etwa gleich hoch ist die Zahl der Menschen, die in den ersten acht Monaten des Jahres 2017 beim Versuch ums Leben kamen, über die Mittelmeerroute Europa zu erreichen. Flüchtlinge und Migranten aus der ganzen Welt besteigen in Nordafrika nicht seetüchtige Schlepperboote, viele von ihnen ertrinken auf ihrem gefährlichen Weg nach Europa. Sehr viel mehr Menschen kommen durch, erhalten aber keinen Asylstatus – und dürfen mangels wirksamer Abschiebemechanismen trotzdem bleiben.
Das soll sich ändern.
Wie, das ist schon lange die Frage. Was die Europäische Union mangels Einigkeit und Durchsetzungsvermögen bisher nicht geschafft hat, will eine kleine, informelle Staatengruppe in Zukunft leisten. Seit April 2017 gibt es einen schriftlichen Plan, dessen Kernidee im Spätsommer 2016 in Wien entstanden war.
Das sieben Seiten umfassende Papier trägt den Titel „Future European Protection System“. Die an der Ausformulierung beteiligten Beamten und Experten kürzen die Idee ohne viel Fantasie mit FEPS ab. Das Papier benennt ohne große Rücksichten die Schwächen des derzeit in Europa praktizierten Asylwesens und benennt klare Alternativen. Motto: Man muss nur wollen. Weshalb sich die Gruppe selbst auch „like-minded member-states“ (gleichgesinnte Mitgliedstaaten) nennt.
Bis auf Norwegen sind alle eingebundenen Nationen (Belgien, Tschechien, Dänemark, Estland, Deutschland, Ungarn, Malta, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Slowenien, Slowakei, Schweden) Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Ebenfalls Teil dieser Koalition der Willigen sind das International Centre for Migration Policy Development (ICMPD; Generaldirektor: Ex-Vizekanzler Michael Spindelegger) und die Europäische Kommission.
Das bedeutet aber nicht, dass die EU-Institutionen dieses Vorhaben vorantreiben. Man hat eher den Eindruck, dass vor allem die für Asylsuchende und Migranten besonders attraktiven Zielländer der Union wenig Lösungskompetenz zutrauen – und sich deshalb ein anderes, flexibleres, vielleicht auch durchsetzungsstärkeres Forum gesucht haben.
Die wichtigsten Ergebnisse:
Das (bisher) Besondere an dem Plan ist, dass die Zwänge, Überlegungen und Befindlichkeiten der Politik unberücksichtigt blieben. Beamte aus Österreich und den Partnerländern bekamen von ihren jeweiligen Regierungen die Erlaubnis, frei und sachorientiert zu denken.
Seinen Ursprung hat der Plan im schmucklosen Neubau-Teil des Wiener Innenministeriums. Dort sitzt die Gruppe für Asyl, Migration und Staatsbürgerschaft. Im Spätsommer 2016 schlugen sich dort, in engen Zimmern und zwischen fensterlosen Gängen, die beteiligten Experten die Nächte um die Ohren, feilten an den Grundzügen der Idee, um sie im September Spitzenkräften der Visegrád-Staaten vorzustellen. Und tatsächlich: Obwohl Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei in Sachen Flüchtlingspolitik als Hardliner gelten, signalisierten die Gäste im Rahmen eines vertraulichen Treffens in Wien, dass sie auf Basis der vorliegenden Ideen und in Kombination mit einem wirksamen Grenzschutz im Mittelmeer durchaus bereit wären, sich an der Übernahme von Flüchtlingen aus internationalen Lagern zu beteiligen.
Mit diesem Signal aus Ländern, die gemeinsam für immerhin 65 Millionen Bürger stehen, begann man mit anderen potenziell Interessierten zu sprechen. Vor allem mit jenen Nationen, die die höchsten Asylantragszahlen pro 100.000 Einwohner aufweisen.
Die Gruppe der beteiligten Länder wuchs schnell, man traf sich in den folgenden Monaten regelmäßig und hatte am Ende einen Plan.
Derzeit zwingt Europa migrationswillige Flüchtlinge förmlich, sich in die Hände von Schleppern zu begeben und damit große finanzielle Lasten und erhebliche Gefahren auf sich zu nehmen, um endlich auf dem Territorium des Ziellandes den Asylantrag zu stellen – denn das ist nirgendwo anders möglich. Dieses Prozedere bevorzugt die (vergleichsweise) Starken und Wohlhabenden, also in der Regel junge Männer mit der Finanzkraft ihrer Familien im Rücken. Die Schwachen, also Familienverbände, alleinreisende Frauen und Kinder, alte Menschen und auch Kranke, bleiben mehrheitlich zurück.
Auf genau diese besonders hilfsbedürftigen Gruppen zielt der Plan der 14 Partnerländer ab. Mobile Teams, bestehend aus Mitarbeitern des UNHCR, des Unterstützungsbüros der Union in Asylfragen und der Partnerländer, sollen künftig ebendiese Personen in den Großlagern nahe an den Fluchtländern suchen und finden. Die Asylverfahren, so der Vorschlag, sollen parallel dazu in Europa ablaufen, die sichere Reise dorthin mithilfe humanitärer Visa ermöglicht werden.
Buchstäblich bei der Ankunft am jeweiligen Zielflughafen soll der Asylstatus vergeben werden. Einzige Voraussetzung: die Unterzeichnung einer Absichtserklärung, das zuvor zugewiesene Zielland nicht in Richtung eines der anderen Partnerländer zu verlassen. Nur so könnten die zuvor vereinbarten Aufnahmequoten unter den Teilnehmerländern eingehalten werden.
Halten sich Asylberechtigte später nicht mehr an ihre Absichtserklärung, droht ihnen zunächst die Aberkennung von Sozialleistungen und – bei wiederholten Verstößen – sogar die Außerlandesbringung.
Im geschlossenen System der österreichischen Behörden denkt man schon länger darüber nach, wie man für jene, die tatsächlich Schutz brauchen und nach Österreich kommen, innerhalb der Bevölkerung eine höhere Akzeptanz erzielt. Ziel sind eine bessere Integration, die Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Zusammenhalts und die Vermeidung von Fremdenfeindlichkeit.
Der Ansatz: Man trägt authentische Geschichten von Betroffenen nach außen. Etwa jene über das Leben der 13-jährigen Alin in einem Flüchtlingslager oder jene des 12-jährigen Ahmed, der fürs eigene Überleben schwerste Kinderarbeit leisten muss.
Für Österreich arbeitete Peter Webinger führend an dem Plan. Der Beamte des Innenministeriums ist hauptverantwortlich für die Bereiche Asyl und Migration. Für ihn ist die Akzeptanz von Flüchtlingen in den Zielländern ein entscheidender Faktor. Einerseits für eine erfolgreiche Integration, andererseits dafür, dass Zuwanderer nicht mehr so leicht von den „politischen Zentrifugalkräften“ für die Stimmenmaximierung missbraucht werden können. Im Interview erklärt er das so:
Um das Sterben auf dem Meer zu beenden, braucht es laut Plan jedoch noch mehr. So sieht das Vorhaben der beteiligten Staaten die Errichtung sogenannter „Search and Rescue Center“ an strategisch bedeutenden Punkten vor. Diese Zentren haben nichts mit den von einigen Politikern schon ins Spiel gebrachten extraterritorialen Gebieten zu tun, die man zur Errichtung von Lagern und zur Abwicklung von Asylverfahren selbst militärisch sichern will.
Solche Verbünde würden laut FEPS-Plan weiterhin wie Magnete auf Migranten und Flüchtlinge aus aller Welt wirken. Solange irgendwo nur die geringste Chance auf das Erreichen Europas bestünde, würden sich Menschenmassen auch dorthin bewegen.
Deshalb sollen die Search and Rescue Centers von afrikanischen Partnerländern selbst betrieben werden, genauso wie die Küstenwache, die die Schlepperboote abfängt und die Flüchtlinge in diese Zentren bringt; Unterstützung bei der Rückkehr inklusive. Die Hoffnung dahinter: Via Internet dürfte sich ziemlich schnell herumsprechen, dass der Seeweg nicht nur dicht ist, sondern Aufgegriffene und Gerettete sich nicht in Europa, sondern in Nordafrika wiederfinden. Das soll rasch und massiv dazu beitragen, dass sich in den Ursprungsländern weniger Menschen auf den Weg machen.
Bisher war eher das Gegenteil der Fall. Die EU-Grenzschutzagentur FRONTEX hat auf einer Karte alle ihr bekannten Rettungsaktionen (NGOs und Behörden gemeinsam) zusammengefasst und verortet. Diese Karte zeigt deutlich, dass die Helfer den Flüchtlingen seit 2014 immer näher gekommen sind, und sich umgekehrt die Schlepper immer mehr darauf verlassen haben, dass ihre Kunden auch aus gefährlichen Situationen befreit werden. Viel zu oft stellte sich diese Annahme als tödlicher Trugschluss heraus.
Von zentraler Bedeutung sind klarerweise die Fragen, wie, wo und mit wem das funktionieren soll. Zuverlässige Quellen sprechen davon, dass mit einem möglichen Partnerland, dem Wunschpartner, bereits erste Gespräche geführt wurden. Um diese Gespräche nicht zu gefährden, wird von einer Veröffentlichung abgesehen.
Die Europäer würden diesem Land Ausrüstung (etwa Schiffe für die Küstenwache), Know-how, Ausbildung für Behörden sowie Geld zur Verfügung stellen. Außerdem ist vorgesehen, Search and Rescue Centers zunächst nur für einen befristeten Zeitraum zu betreiben, um – im Interesse des Partnerlandes – reagieren zu können, wenn sich diese Zentren wider Erwarten doch zu Anziehungspunkten entwickeln sollten. Nach einer vorsichtigen Hochrechnung soll das Projekt weniger kosten als jene Summe, die man sich in Europa durch die zurückgehenden Flüchtlingszahlen erspart – die Rede ist von zwei bis drei Milliarden Euro.
Wie realistisch ist die Umsetzung des Konzepts? Ein Spitzenvertreter aus einem der Teilnehmerländer sieht innerhalb der Gruppe „breite Unterstützung“ für den Plan. Selbst im sehr migrationsfreundlichen Schweden, so seine Einschätzung, kehre langsam „Realismus“ ein. Man erkenne inzwischen auch dort, „dass ein Zuviel an Migration Probleme machen kann“. Die Quelle sagt, dass nun langsam der Zeitpunkt komme, an dem die Politik die Experten-Ideen diskutieren und darüber entscheiden müsse. Zeitplan für den Projektstart: Erstes Halbjahr 2018.