Angaben zur Person:
Weißt du, ich habe eine Geschichte. Eine Schwulengeschichte. Verstehst du? Weil mein Land ein islamischer Staat ist und sie diese Schwulensache nicht erlauben, verstehst du? Also kam ich hierher, um Schutz zu finden. Ich habe ein Jahr und vier Monate hier verbracht und sehe immer noch keine Verbesserung bei mir, ich stecke immer noch im Verfahren. Ich sehe die anderen Menschen in anderen Ländern, und sie haben keine Papiere bekommen. Italien ist das einzige Land, das Papiere hergibt. Ich will nicht wie die anderen sein, ich will nicht in Europa umherwandern, dort Zeit verschwenden und keine Papiere bekommen. Verstehst du? Deswegen habe ich ein Opfer gebracht, ich bringe einfach ein Opfer und bin hierher gekommen. Weißt du, ich brauche etwas. Ich brauche etwas für meine Zukunft. Und was ich brauche, ist hier: Ich brauche einfach nur Schutz.“
Ich habe gemerkt, dass es ihm nicht gut geht. Er hat fortwährend dieselben Dinge wiederholt. Seine Mantras, die ihm Sicherheit geben: ein Jahr, vier Monate; neues Leben; Neustart; Gott wollte mich hier …
Omar, 20, ist 2016 aus dem Senegal gekommen. Er wurde in der ersten Instanz zurückgewiesen und wartet jetzt auf die Berufungsentscheidung. Er sagt, sein Fall sei klar. Sie haben ihm sogar geglaubt, aber er konnte keine Beweise liefern.
Seine Anhörung liegt acht Monate zurück, seither wartet er auf diese eine letzte Chance. Wie alle anderen Asylwerber, scheint es mir, trägt er seinen gesamten Akt, sein Leben und im Endeffekt den Grund für seine Mittelmeer-Überfahrt mit sich. In Klarsichtfolien gehüllt und in einen vergammelten pinken Rucksack gestopft, den die Caritas gespendet hat. Ich schätze, das ist das Wichtigste, was man hat, wenn man von acht Uhr morgens bis acht Uhr abends auf den Straßen leben muss: Dein lebenswichtiger Zugang zu einem letzten kleinen Stück Normalität, zu deiner Identität – verliere es, und du kannst noch ein Jahr warten. Noch ein Jahr im Fegefeuer.
Mir sind einige Überschneidungen zu früheren Gesprächen mit anderen Migranten aufgefallen, insbesondere jenen aus dem Senegal. Nicht nur, dass sie sehr wortgewandt sind, sie haben auch ein Geheimnis angezapft, das nur wenige von uns kennen – die Endlichkeit der Zeit und die Bedeutung, die aus dieser Erkenntnis fließt. Er sprach unaufhörlich davon, sich selbst zu bilden, zu verbessern und eine bessere Zukunft zu schaffen. Beziehungsweise, klarer ausgedrückt, ein neues Leben zu beginnen, auf das er stolz sein kann. Davon, dass Herumstreunen reine Zeitverschwendung ist.
Nach dem Interview ging er mit uns zu der Brücke, bei der alle Neuankömmlinge in Udine schlafen. Auf dem Weg dorthin erklärte er, nur wenig Kontakt mit Freunden und Familie zu haben und darauf zu warten, sein Leben von Neuem zu beginnen. Er will mit niemandem sprechen, da er sich schämt, noch kein Geld zu verdienen und keine Arbeitsstelle zu haben. Ich kann das – nach meinen eigenen langen Phasen der Arbeitslosigkeit – nur zu gut nachempfinden.
Als ich das Thema Drogen und Drogenhandel ansprach, erklärte er, dass die meisten Leute Drogen nehmen, da sie dem Druck nicht standhalten. Die Angst, ein Jahr lang nichts zu tun und dann zurückgewiesen zu werden, bringt das Fass bei vielen zum Überlaufen. Andere verkaufen Drogen, um über die Runde zu kommen. Ich habe ihn gefragt, ob es die Nigerianer sind. Er blieb stehen: „Nigerianer beschädigen den Ruf von uns allen. Sie betteln, stehlen und verkaufen Drogen. Ein Senegalese hat Selbstachtung … Du siehst mich nicht stehlen, du siehst mich keine Drogen verkaufen …“ Er brachte uns zur Brücke und ließ uns dort zurück.
Später fragten wir uns, ob es leichter ist, die Behörden von der eigenen Homosexualität zu überzeugen, oder ob es umgekehrt ihnen leichter fällt, diese zu bestreiten. Jedenfalls ist es eine seltsame Situation, wenn man bedenkt, dass Omar nahezu sein gesamtes Erwachsenenleben damit verbracht hat, sich zu verstecken und seine sexuelle Orientierung zu verleugnen, nur um jetzt das Gegenteil zu tun und sie zu beweisen; selbst um etwas so Banales wie einen Mitgliedsausweis in der italienischen Gay Community zu bekommen. Es ist eine skurrile Welt.
Als wir über die Piazza gehen, treffen wir auf Bilal, als er nervös vorm Gemeindeamt sitzt und wartet. Er wartet einfach. Dieses Mal ist er allein, seine Reisekumpane Hassan und Omar sind zum Beten in die Moschee gegangen. Ich spüre seine Nervosität, seine Anspannung darüber, was als Nächstes kommt, und ein wenig von seiner Enttäuschung und Verlegenheit, so naiv gewesen zu sein, an das europäische Wundermittel zu glauben.
Bilal ist homosexuell. Vor acht Tagen versteckte er sich in der Türkei in einem Container, mit dem er nach Griechenland und dann weiter nach Slowenien gereist ist. Dort hat man ihn aufgefordert, den Container zu verlassen und nach Italien zu gehen. Er dachte, er hätte es geschafft: Er war endlich in Europa, wo man offen schwul sein kann. Dieses Bild wurde sogleich zerstört. Als die italienische Polizei ihn anschreit und der Übersetzer ihn auffordert, den Mund zu halten, lügt er auf seinem Antrag: Offiziell ist er hier, um zu arbeiten. Er konnte ihnen nicht vertrauen. Jetzt sitzt er auf einem leeren Platz und denkt fortwährend an diese Entscheidung. Er hat jetzt viel Zeit, sie zu bereuen. Er stellt uns Fragen: Welche Auswirkungen das auf seinen Antrag haben wird? Wie lange es dauert? Ob es stimmt, dass 90 Prozent der Pakistani abgewiesen werden? Wann sie in andere Camps gebracht werden?
Ich mag es nicht, in dieser Lage zu sein. Ich denke an all die Gespräche der letzten beiden Jahre und sage ihm die Wahrheit: dass der schwierigste Teil erst kommt. Warten, Anspannung und ständige Blicke der lokalen Bevölkerung, die zeigen, dass man nicht willkommen ist. Ich denke an die Mantras von Omar aus dem früheren Gespräch: Neubeginn, ein Jahr und vier Monate …
Er wirkt verzweifelt. Wir bieten ihm eine Zigarette an. Eine kurze Pause, dann beginnt er zu reden: „Das ist nicht richtig … Ich brauche Schutz. Wenn ich zurückgehe, werden sie mich töten. Sie denken, ich bin Ungeziefer.“ Als er in den bewölkten Himmel schaut, füllen seine Augen sich mit Tränen. „Ich habe nicht gedacht, dass alles so dermaßen ablehnend sein würde.“
Er beginnt, von sich zu erzählen: Er habe sich immer schon anders gefühlt, habe versucht, sich in Mädchen zu verlieben, aber einfach nicht gekonnt. Seine Liebhaber habe er vor Familie und Freunden geheim gehalten. In Pakistan, erklärt er, bringe es Schande über die ganze Familie. Eines Tages hätten ihn Verwandte und Freunde gefesselt und in einen Keller geworfen. „Sie haben mit mir die schlimmsten, unvorstellbaren Dinge getan“, es habe Schläge gegeben, auch mit Metallstäben, sie hätten ihn mit Steinen beworfen, ihm Brandwunden zugefügt. Danach aber sei das Schlimmste gekommen. Sie hätten aufgehört, mit ihm zu reden. Seine Brüder, Cousins und der Onkel hätten ihn einfach ignoriert. Nur sein Vater und seine Mutter seien ihm beigestanden und hätten ihn nach Karachi geschickt, in die größte Stadt Pakistans.
Dieses falsche Gefühl von Sicherheit sei allerdings nur von kurzer Dauer gewesen. Sein Onkel habe ihn aufgespürt und versucht, ihn zur Vernunft zu bringen. Sie würden ein Mädchen für ihn finden, er müsste nur eine Ehe vorspielen, die Ehre der Familie wäre damit gerettet. Ein letztes Mal habe er es versucht, es aber einfach nicht gekonnt.
„Ich bin nicht so wie die anderen Männer, die dich wie einen Fetzen benützen und nachher einfach wegschmeißen, um zu ihren Frauen zurückkehren.“
„Ich kann es nicht, ich werde jemand anderes Leben nicht ruinieren. Es ist nicht fair gegenüber meiner zukünftigen Frau, und auch nicht gegenüber dem Menschen, den ich wirklich liebe. Sie würden ein elendes Leben führen.“ Er schaut wieder über den Platz. „Das ist genau die Scheinheiligkeit, die Leben zerstört.“
Danach habe er beschlossen, nach Sicherheit zu suchen und sich an den einzigen Ort zu begeben, von dem er gedacht hatte, dass dieser ihn akzeptieren würde: Europa.
„Ich kann nicht zurück. Sie werden mich töten. Ich kann niemandem vertrauen, wenn diese Typen (seine Reisekumpane) es herausfinden, werden sie mich schlagen. Ich kann es der Polizei auch nicht sagen, weil sie nicht Englisch sprechen, und ich vertraue den Urdu-Dolmetschern nicht.“ Als ich ihn frage, ob er mit Aktivisten für Homosexuellenrechte in Kontakt getreten ist, weiß er nicht, dass es so etwas gibt. „Diese Art von Dingen in Pakistan zu googeln, ist nicht sehr sicher.“ Da hat er wohl recht.
Ich fühlte mich schlecht, ihn so auf dem Platz zurückzulassen, aber es gab nichts, was ich für ihn tun konnte. Mitnehmen? Keine gute Idee. Nach Österreich schmuggeln? Aus rechtlicher Sicht wäre das für ihn schlechter gewesen. Schließlich gab ich ihm die Telefonnummer eines italienischen Anwalts, den ich vor Wochen interviewt hatte. Während ich seine Hand schüttelte, empfahl ich ihm abzuwarten, den Anwalt zu kontaktieren und um Gottes willen niemandem sonst seine Geschichte zu erzählen. Er ist immer noch nicht in Sicherheit.
Bilal hatte aber mit seinem ersten Einwand recht: „Es ist nicht richtig.“
Denn das Recht auf Asyl besteht genau zu diesem Zweck: um Menschen Schutz zu geben, die dafür bestraft werden, wer sie sind, oder für ihre Glaubensgrundsätze. Der Schutz der Menschen, mit denen ich gesprochen habe, ist eine moralische Pflicht und ein Gebot, das bewusst missbraucht wird. Andererseits, wer würde in der „Slumdog Millionaire“-Welt nicht alles versuchen, um rauszukommen? Ich weiß, ich wäre der Erste, der es tun würde.
Addendum, 27. Dezember 2017: Bilal wohnt jetzt in einem offiziellen Erstaufnahmezentrum (CARA) und wartet auf die erste Prüfungskommission. Das Lagerleben beschreibt er als grau und öd. Privatsphäre gibt es nicht. Obwohl die anderen im Lager nichts von seiner wahren Identität wissen, fürchtet er sich dennoch, da Vergewaltigungen unter den Asylwerbern keine Ausnahmen sind. Er will endlich in die Anonymität einer größeren Stadt wie Udine oder Rom.