Es war ein vernichtender Sonderbericht, den der österreichische EU-Rechnungshof-Prüfer Oskar Herics vergangenes Jahr über das europäische Bahnnetz ausstellte. Der 61-jährige Burgenlandkroate bezeichnet sich selbst als „Prüfer aus Leidenschaft“ und folgt den Milliarden, die die Europäische Union ausgibt. Wir haben Herics in seinem EU-Rechnungshof-Büro in Luxemburg besucht, wo er an seinem Bericht über das europäische Schienennetz arbeitet.
Während China in den vergangenen 17 Jahren ein gigantisches Hochgeschwindigkeitsnetz von über 20.000 Kilometern Länge aus dem Boden gestampft hat, das inzwischen alle wichtigen Städte und Wirtschaftszentren miteinander verbindet, bleibt ein solcher Ausbau in Europa trotz vielfacher Absichtserklärungen auf der Strecke.
Aktuell laufen europaweit nur 17 Prozent des Güterverkehrs über die Schiene. Der Großteil der Gütertransporte findet auf der Straße statt, Tendenz steigend. Das liegt zu einem wesentlichen Teil daran, dass das EU-Kernnetz immer noch lückenhaft ist und viele Engpässe hat. Um überhaupt wettbewerbsfähig zu sein, muss zuerst einmal das grenzübergreifende Schienennetz auf einen besseren, einheitlichen Stand gebracht werden. „Auf der Schiene haben wir europaweit mehr oder weniger 26 verschiedene einzelstaatliche Eisenbahnnetze. Malta und Zypern haben nämlich keine Eisenbahnen, deswegen nur 26“, erklärt Herics und deutet auf die große Europakarte hinter seinem Schreibtisch, auf der die transeuropäischen Bahnachsen (TEN-Netz) eingezeichnet sind. Teil dieses Netzes sind auch der Brenner-Basistunnel, der Semmering-Basistunnel und der Koralmtunnel.
Der länderübergreifende Ausbau dieser Bahnachsen spielt eine wesentliche Rolle für das europäische Bahnnetz. Konkret heißt das: Ausbau auf vier Gleise, auf denen Schnellzüge mit 250 Stundenkilometern verkehren werden. Dafür gibt es großzügige Finanzierungs-Beteiligungen der Europäischen Union: Die EU stellte dafür seit dem Jahr 2000 24 Milliarden Euro zur Verfügung, von der europäischen Investitionsbank kamen zusätzliche 30 Milliarden. Beim Brenner-Basistunnel übernimmt die EU 40 Prozent der Kosten, auch die Südstrecke mit Semmering-Basistunnel und Koralmtunnel wird als Teil der Verkehrsachse zwischen dem Baltikum und der Adria mit EU-Geldern gefördert.
Das Problem dabei: Trotz der großzügigen Förderungen der EU gibt es immer noch kein gesamteuropäisches Hochleistungsnetz, das sich über den Kontinent spannt und effizient funktioniert. Herics kritisiert, dass die Mitgliedstaaten beim Ausbau ihrer Bahninfrastruktur in erster Linie auf ihre Eigeninteressen achten, so würden immer mehr national isolierte Bahnstrecken entstehen. Kann die EU hier keinen Druck auf die Nationalstaaten ausüben?
„Der EU-Kommission fehlt es an rechtlichen Instrumenten und Befugnissen, um die Mitgliedstaaten zum Bau der vereinbarten Strecken zu zwingen“, erklärt der studierte Jurist. Zum Glück, werden Kritiker sagen. Die Kehrseite: Das europäische Bahnnetz sei daher ein „unwirksamer Fleckerlteppich von nationalen und nicht koordiniert ausgeführten Hochgeschwindigkeitsstrecken“.
Was es also bräuchte, wäre eine gemeinsame Strategie aller Mitgliedstaaten. Ohne eine solche könnte ein gesamteuropäisches Hochleistungsnetz in noch weitere Ferne geraten. Dass Landesgrenzen im Schienenverkehr immer noch die größten Barrieren sind, zeigt sich auf dem ganzen Kontinent. Beispiele dafür gäbe es viele, so Herics, etwa zwischen Bilbao in Nordspanien und Bordeaux in Frankreich. „Hier gibt es auf spanischer Seite schon sehr weit gediehene Maßnahmen, aber es fehlt die Bereitschaft Frankreichs, die Strecke zwischen der Grenze und Bordeaux auszubauen.“ Solche nationalen Lösungen führen im internationalen Fernverkehr vielfach zu Engpässen, die einen europaweit durchgängigen Schienenverkehr zusätzlich erschweren. Die Bahn verliere so ihre Konkurrenzfähigkeit im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln.
Auch durch den Bau des Brenner-Basistunnels dürften diese Probleme nicht gänzlich gelöst werden. Obwohl ab 2028 die ersten Züge durch den dann längsten Tunnel der Welt fahren werden, wird er noch lange nicht seine volle Kapazität erreichen. „Wenn wir davon ausgehen, dass die Zulaufstrecken in Deutschland und Italien bestenfalls ab 2040 fertiggestellt werden, müssen wir bedenken, dass hier langfristig hohe Steuergelder und EU-Mittel brachliegen und nicht ihre Wirksamkeit erreichen“, erklärt Herics, „der Brenner ist symptomatisch für ganz Europa. Er ist ein Beispiel dafür, dass nationale Interessen einen effizienten Ausbau der Hochgeschwindigkeitsnetze verhindern können.“ Der Brenner-Basistunnel, den der Europäische Rechnungshof in seiner Prüfung vergangenes Jahr besonders genau unter die Lupe genommen hat, verdeutlicht also ein grundsätzliches Problem des grenzüberschreitenden Schienenverkehrs: Oft wird mit dem Bau von Teilstücken begonnen, noch bevor es ein klares Bekenntnis oder eine verbindliche Regelung über die gesamte Strecke gibt.
Bei der multilateralen Planung von grenzübergreifenden Hochleistungsnetzen läuft also offensichtlich vieles falsch. Aber auf welchen Grundlagen werden die politischen Entscheidungen über derartige Infrastrukturprojekte getroffen?
„Im Fall des Brenner-Basistunnels haben wir weder ausreichende Bedarfsanalysen noch aussagekräftige wirtschaftliche Betrachtungen“, kritisiert Herics. „Die letzte Kosten-Nutzen-Analyse für den Brenner stammt aus dem Jahr 2007.“ Alle der Analyse zugrunde liegenden Fahrgast- und Güterverkehrs-Annahmen kommen also aus der Zeit vor der Finanz- und Wirtschaftskrise. Dass sich seither einiges getan hat, ist kein Geheimnis. Ungeachtet dessen halte man aber immer noch an dieser Analyse fest. Politik und Justiz seien bei solchen Entscheidungen in Wirklichkeit eben überfordert. Die Kosten des Projekts sind seither um ca. 50 Prozent gestiegen, die geplante Inbetriebnahme verzögert sich von 2016 um mindestens zwölf Jahre auf derzeit 2028, vielleicht sogar noch später.
Die Hauptaufgabe des Rechnungshofes ist naturgemäß zu prüfen, ob und inwiefern sich solche Projekte wirtschaftlich rechnen, und ob sich solche Infrastrukturprojekte wirtschaftlich überhaupt rechnen müssen.
Vom betriebswirtschaftlichem Standpunkt würde sich ein Projekt wie der Brenner-Basistunnel wahrscheinlich ohnehin nie rechnen, erklärt Herics. Dafür seien die Kosten einfach zu hoch. „Es hat sich ein wissenschaftlicher Standard herausentwickelt, dass man solch große Infrastrukturprojekte gesamt- und volkswirtschaftlich betrachtet.“ Das heißt, es werden hier die Kosten dem möglichen sozioökonomischen Nutzen gegenübergestellt. Der besteht vor allem darin, dass die Bahn weniger Schadstoffe ausstößt und es zu weniger Lärmbelästigung kommt, dass die Sicherheitsfragen besser für die Bürger geregelt und mehr Kapazitäten für Frächter und Unternehmer geschaffen werden. Erst, wenn man diese Indikatoren miteinberechnet, so Herics, könne man solche Projekte gesamtwirtschaftlich bewerten.
Jeder errichtete Schienenkilometer für den Hochgeschwindigkeitsverkehr kostet auf dem Freiland etwa 25 Millionen Euro, spezielle Tunnelkosten noch nicht miteingerechnet. Der Brenner-Basistunnel kostet sogar 145 Millionen pro Kilometer . „Obwohl der Tunnel für 250 km/h ausgelegt wäre, wissen wir aufgrund der vorliegenden Betriebsdaten, dass hier im Durchschnitt nur rund 115 km/h erzielt werden dürften“, erklärt der Rechnungshofprüfer. Da sowohl Güterzüge als auch Personenzüge durch den Tunnel fahren werden und Güterzüge viel langsamer unterwegs sind, wird das den gesamten Verkehr ausbremsen. Damit fehle eine hinreichende Legitimierung einer so teuren Hochleistungsstrecke.
Trotz zahlreicher Versprechungen, diese Hürden abzubauen, tritt hier die europäische Verkehrspolitik also auf der Stelle. Dafür müssten dringend verkehrspolitische Rahmenbedingungen gesetzt werden, die eine Verkehrsverlagerung zugunsten der Schiene fördern würden, fordert der Rechnungshofprüfer. „Die Wettbewerbsfähigkeit der Schiene ist sonst nicht gegeben.“ Straße und Schiene würden nämlich mit völlig ungleichen Waffen kämpfen. Während Güterzüge für jeden Kilometer zahlen müssen, gibt es in Österreich für den Lkw-Verkehr auf der Straße keine flächendeckende Maut, sondern nur auf Autobahnen und Schnellstraßen, was einem Anteil von rund 2 Prozent am gesamten Straßennetz entspricht. In vielen europäischen Mitgliedstaaten gibt es überhaupt keine Maut-Regelungen, in Österreich sind zumindest Bundesstraßen davon ausgenommen.
Insgesamt ist es ein ernüchterndes Zeugnis, das Oskar Herics dem europäischen Schienennetz ausstellt. Die europäischen Bahnachsen kommen nach wie vor nicht auf Schiene, den Milliardeninvestitionen der EU fehle es an Wirksamkeit. In Zeiten, in denen der Ruf nach einem nachhaltigen Verkehrsnetz über den Kontinent immer lauter wird, muss man den Befunden des Experten zufolge eine nüchterne Bilanz ziehen: Europa hat die Modernisierung der Schiene verschlafen.
Aktuell arbeiten der Rechnungshofprüfer und sein Team bereits an einem neuen Bericht über das europäische Schienennetz. Auch darin wird er sich kein Blatt vor den Mund nehmen, kündigt er an.