Auf dem Balkan tut sich wieder etwas. Das zeigen aktuelle, uns vorliegende Zahlen aus dem Inneren der Taskforce Migration des österreichischen Innenministeriums. Geschätzte 80.000 Personen befanden sich Ende Mai/Anfang Juni 2019 zwischen dem Bosporus und Spielfeld irgendwo entlang der chaotischen Balkanroute. An einigen Stationen entlang des Weges registrieren die Behörden deutliche Anstiege im Vergleich zum Vorjahreszeitraum: plus 155 Prozent zwischen Griechenland und Nordmazedonien. Plus 76 Prozent im Schlüsselland Bosnien. Plus 31 Prozent in Kroatien.
Nachdem Italien die Überfahrten über das Mittelmeer fast auf null senken konnte, ist die Reise über den Landweg des Balkans, die von Migranten, Politikern, von den Behörden und von der Bevölkerung der Region als Game bezeichnet wird, wieder attraktiv geworden. Die Route, die Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz einst für geschlossen erklärt hatte, wird wieder durchlässig. Für das Game – eine Anspielung auf Computerspiele, in denen man unterschiedliche Levels absolvieren muss, um ans Ziel zu kommen oder einen Rekord zu brechen – braucht man Zeit, Glück und: ein Smartphone. Zwischen Ägäis und Alpen absolvieren die teilnehmenden Migranten Level für Level. Das Ziel: Österreich, Deutschland oder Schweden.
Viele kommen durch, manche stranden entlang des Weges, einige finden den Tod. Unsere Reporter Georg Gassauer und Benedikt Morak haben an den wichtigsten Stationen recherchiert. Sie trafen Teilnehmer, Haupt- und Nebendarsteller des Spiels, und bereisten dafür insbesondere Bosnien, die Schlüsselstelle auf der Route.
Einer jener, die Game spielen, ist Amir (Name geändert) aus Afghanistan. Er reiste mit einem gefälschten österreichischen Pass aus der Türkei nach Griechenland ein, wollte von dort gleich per Flugzeug nach Deutschland, musste jedoch bereits am Flughaften zurück an den Start. Die deutschen Grenzer, die in Griechenland Fluggäste kontrollierten, waren aufmerksam. Die Alternative, die Amir blieb: der Landweg.
Woher überhaupt die Strenge? Der 20. März 2016 markierte eine Art Neuanfang der europäischen Migrationspolitik. Auf der (Westbalkan-)Route wurden, auch wegen des Drucks des damaligen österreichischen Außenministers Sebastian Kurz, in vier Ländern die Grenzen auf einen Schlag geschlossen (Slowenien, Kroatien, Serbien, Nordmazedonien). Am Ägäischen Meer wiederum setzte sich die Diplomatie der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel durch, und die Ära der engeren Zusammenarbeit zwischen den EU-Mitgliedstaaten und der Türkei begann. Eine Flüchtlings- und Migrationskrise wie 2015 sollte, so die offizielle Darstellung, nie wieder stattfinden. Und tatsächlich wurden die Ankunftszahlen von damals seither nicht mehr erreicht.
Dennoch: Trotz aller Maßnahmen wurden zwischen dem 1. April 2016 und dem 31. Mai 2019 116.537 irreguläre Ankünfte in Griechenland aus der Türkei gezählt. Amir aus Afghanistan war einer der illegal Eingereisten. Und der Druck an der Grenze „wird stärker und stärker“. Jetzt, im Sommer 2019. Das sagt Gerald Tatzgern, Leiter der Abteilung für Schlepperkriminalität im Bundeskriminalamt. Er warnt davor, dass die Migranten, die sich derzeit entlang der Balkanroute aufhalten, „langsam die Geduld verlieren und weitergehen wollen“.
Ein Teil der Transitmigranten, die an der Grenze zu Griechenland das sogenannte Level 1 des Game starten, kommen in Booten auf den Ägäischen Inseln an. Häufigstes Ziel: Lesbos. Pro Tag sind es derzeit etwa hundert Personen. Für sie ist eine Weiterreise nach Nordeuropa seit dem EU-Türkei-Deal kaum noch möglich. Nur sehr wenige gelangen auf das griechische Festland. Der Grund: Für registrierte Asylsuchende gilt auf den Inseln eine Bewegungseinschränkung.
Anders ist die Lage in Evros. Die Region im Norden Griechenlands hat sich seit 2016 zu einer Drehscheibe der irregulären Ein- und Weiterreise nach Europa entwickelt. Hier registrierten die Behörden seit 2016 eine Vervierfachung der Ankünfte aus der Türkei. Waren es damals noch 3.784, wurden Ende 2018 17.473 Migranten gezählt.
Das hat auch mit den rechtlichen Rahmenbedingungen zu tun. Die irreguläre Einreise aus der Türkei nach Griechenland über die Landgrenze ist seit 2002 durch ein bilaterales Abkommen geregelt, und ist nicht Teil des EU-Türkei-Pakts von 2016. Das bedeutet auch, dass es hier weder eine Einschränkung der Bewegungsfreiheit für Asylsuchende noch schnelle Asylverfahren gibt, die zu einer Abschiebung in einen sicheren Drittstaat führen können.
In dieser verlassenen Ecke Griechenlands steht das Aufnahmezentrum Fylakos. Seine Kapazität von nur knapp 300 Plätzen reicht vor dem Hintergrund der jüngsten Anstiege jedoch nicht für längere Aufenthalte der Migranten. Um das Lager zu entlasten, werden die Migranten einige Tage nach ihrer Registrierung – unbeaufsichtigt – in öffentlichen Fernbussen nach Thessaloniki geschickt: zur Weiterverteilung in ihre Quartiere durch die Polizei. Diese interessiert sich aber offenbar nicht ernsthaft für die Ankommenden, was den Migranten die Weiterreise ermöglicht. Erst Stunden nach der Ankunft der mit Migranten gefüllten Busse am Busbahnhof erschienen oft die Behörden. Die Fahrgäste waren da schon lange wieder unterwegs: in den Norden, in Richtung Mitteleuropa.
Die meisten, die sich von Griechenland aus auf den Weg nach Mitteleuropa machen, versuchen ihr Glück im Game über die Zwischenstation Bosnien. Zwei Routen führen dorthin, eine über Albanien und Montenegro, die andere durch Serbien. Amir aus Afghanistan entschied sich für Serbien, wo er eine längere Zwischenstation in einer überfüllten Game-Spieler-Wohnung in Belgrad machte.
Dass die Wege zusehends durchlässiger werden, beobachtet auch das Flüchtlingshochkommissariat der UNO (UNHCR). Dessen Sprecher, Neven Crvenković, nannte uns im Interview Zahlen.
Doch wie genau sehen die Wege nach Bosnien aus?
Während der Flüchtlingskrise 2015 war der Weg durch Albanien unbeliebt: zu steil das Gelände, zu streng die Kontrollen, zu teuer die Schmuggler. Zudem war es auf den Alternativrouten schlichtweg leichter durchzukommen. Seit Anfang 2018 wird Albanien wieder beliebter, sowohl bei Migranten als auch bei Schleppern. Mit der Verschärfung der Grenzkontrollen entlang der anderen Wege wuchs die Risikobereitschaft der Migranten. Es sind vor allem Reisende aus Nordafrika, die sich für dieses Level im Game entscheiden.
Abzulesen ist die Entwicklung am Anstieg der Zahl jener illegalen Grenzübertritte, die die albanischen Behörden dokumentieren. Zwischen Jänner und Mai 2019 waren es 2.800, was einem Anstieg von 22 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum entspricht. Bereits im Mai 2018 machte die EU-Kommission darauf aufmerksam, dass sich hier eine neue Achse entwickelt, und reagierte. Seit Mai 2019 ist Albanien der erste Drittstaat, mit dem eine gemeinsame Grenzschutzoperation über die Grenzschutzagentur der Union, Frontex, genehmigt wurde.
Sicherheits- und Migrations-Analysten sind der Meinung, dass es hierfür drei Gründe gibt: Erstens zeigt die konsequente Schließung der zentralen Mittelmeerroute der italienischen Regierung Wirkung. Zweitens wurde im April 2019 auch die westliche Mittelmeerroute durch ein spanisch-marokkanisches Abkommen de facto geschlossen. Beide Routen wurden bis zuletzt von vielen Marokkanern und Algeriern verwendet. Drittens haben sich auch verstärkt nordafrikanische Menschenschmuggler entlang dieser Achse etabliert.
Der damalige Außenminister Sebastian Kurz wollte die Balkanroute gänzlich verriegeln. Im März 2016 geschah das auch zeitgleich an mehreren Stellen. So wurden innerhalb kürzester Zeit die Grenzen zwischen Kroatien und Serbien sowie Serbien und Nordmazedonien faktisch geschlossen. Abertausende Migranten strandeten entlang der Westbalkanroute. Vereinzelt wurde Asyl beantragt. Doch die meisten versuchten ihr Glück weiter an der Grenze zu Ungarn oder warteten einfach ab. Das Warten lohnte sich: Diese Route blieb nämlich nicht lange verriegelt und gilt heute als die Hauptroute in den Norden.
Wie viele Menschen hier genau unterwegs sind, weiß niemand. Das UNHCR berichtet zum Beispiel, dass in Nordmazedonien zwischen Jänner und Mai 2019 10.239 Transitmigranten aufgegriffen wurden. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) hingegen verzeichnete 1.586. Das österreichische Innenministerium wiederum nennt für diesen Zeitraum 7.060. In einem Punkt sind sich aber alle einig: Die Flüchtlingszahlen steigen. Alle Trends zeigen nach oben. Das Zahlenspiel lässt sich auch im nächsten Transitland, Serbien, fortsetzen.
Mit all seinen Begleiterscheinungen, wie uns eine freiwillige Helferin vor Ort, eine Ärztin, erzählte.
Auch die kriminellen Netzwerke haben auf die öffentlich kommunizierte „Schließung“ der Balkanroute im Jahr 2016 längst reagiert. War es vor 2016 großteils die klassische organisierte Kriminalität, die Schlepper-Dienstleistungen erbrachte, ist das Bild heute ein anderes. Inzwischen sind kleine, informelle Netzwerke von sogenannten „Facilitators“ am Werk, die die Durchreise der Migranten organisieren. Facilitators bieten ihre Dienstleistungen meist online über Facebook oder Whatsapp an, und das dann nur exklusiv für ihre eigenen Volksgruppen.
Nach den Grenzschließungen im Jahr 2016 mussten Schlepper neue Wege suchen und Netzwerke etablieren. Anfang 2018 entdeckten die Menschenschieber dann die Lösung: Bosnien. Durch seine schwachen staatlichen Institutionen, die lange grüne Grenze zu Serbien und die bescheiden ausgerüstete Grenzpolizei war das Land vergleichsweise leicht zu durchqueren. So wurde Sarajevo Anfang 2018 zur neuen Drehscheibe für Migranten nach Nord- und Mitteleuropa. Und zum vermutlich wichtigsten Level im Game, der schicksalhaften Reise der Migranten in die EU.
Auch Amir aus Afghanistan, den wir begleiteten, ging über Sarajevo. Noch während seines Aufenthalts in Belgrad fand er in einer Facebook-Gruppe Berichte von einer „bosnischen Lücke“. Eine Lücke, die er nutzte. Doch was macht das Land so durchlässig?
Im Land sind es die vergleichsweise guten, für jedermann nutzbaren Verkehrsverbindungen, die die Migranten, meistens per Zug, aus Sarajevo in Richtung kroatische Grenze bringen (siehe folgender Videoclip).
Andererseits sind es die politischen Strukturen im Land. Die Migrationskrise in Bosnien ist auch eine Krise des Vertrauens der Bürger in den bosnischem Staat. Denn Bosnien-Herzegowina ist kein Zielland für Flüchtlinge und Migranten. Obwohl seit Anfang 2018 mehr als 30.000 von ihnen die Region durchquert haben, sind immer nur 6.000 bis 8.000 auf einmal im Land. Trotzdem reichten die 21,7 Millionen Euro, die die EU in den vergangenen 12 Monaten zur Versorgung der Migranten bereit stellte, nicht aus: weil die unzähligen bosnischen Verwaltungsbehörden, die nach dem Krieg mit dem Daytoner Friedensabkommen geschaffen wurden, häufig gegeneinander arbeiten, nicht miteinander. Das sagt immerhin der Österreicher Valentin Inzko, Hoher Repräsentant der UNO für Bosnien-Herzegowina:
Am 14. Dezember 1995, auf einem Luftwaffenstützpunkt außerhalb von Dayton, Ohio, wurde das Daytoner Friedensabkommen unterschrieben. Es sollte eine Nachkriegsordnung schaffen, in der alle Kriegsparteien ihre Forderungen erfüllt bekamen, aber gleichzeitig schuf es die vielleicht komplexeste Staatskonstruktion der heutigen Zeit. Denn auf Basis des Abkommens entstand die mehrheitlich von Serben bewohnte Republika Srpska und eine bosniakisch-kroatische Föderation. Gemeinsam bilden sie den Staat Bosnien und Herzegowina. Bei der Vergabe von öffentlichen Ämtern ist vorgesehen, dass alle drei Volksgruppen vertreten sind: Kroaten, Bosniaken und Serben. Bosnien-Herzegowina hat drei Präsidenten, vier Regierungschefs und 15 Parlamente. Auf dem Territorium Bosnien-Herzegowina liegen ein Quasi-Nationalstaat, ein Zwei-Nationen-Staat und zehn Kantone. Der von den Vereinten Nationen eingesetzte Hohe Repräsentant, der Österreicher Valentin Inzko, warnt immer wieder vor sezessionistischen Tendenzen in der Republika Srpska.
Inzwischen kippt auch die Stimmung im zentralen Level des Game. Anfangs nämlich zeigte sich vor allem die Bevölkerung hilfsbereit und solidarisch mit den Reisenden und Flüchtenden. Vor gar nicht so langer Zeit waren es nämlich die Bosnier selbst gewesen, die Zuflucht in Europa, unter anderem in Österreich, gesucht hatten. Sie gründeten kleine Verbände und boten Verpflegung und Unterkunft an. Als sich die Nachricht von einer bosnischen „Flüchtlingskrise“ verbreitete, etablierten sich kurz darauf die ersten internationalen Freiwilligenorganisationen. Doch die Willkommenskultur hielt nicht lange.
Heute ist die Beziehung zwischen Hilfsorganisationen, Behörden, Einheimischen, Migranten und internationalen Organisationen äußerst angespannt. Immer mehr setzte sich im Land die Erkenntnis durch, dass viele der Durchreisenden nicht vor Krieg, sondern vor der schlechten Konjunktur im Herkunftsland fliehen. Das belastete auch die Stimmung zwischen der Bevölkerung und den meist ausländischen, aus der EU stammenden Freiwilligen, die in ihrem idealistischen Handeln nicht zwischen Flüchtlingen im Wortsinn und Wirtschaftsmigranten unterscheiden, und alle unterstützen, die möglichst schnell durchs Land wollen.
Der hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, der Österreicher Valentin Inzko, sprach im Interview mit uns darüber, dass der Strom der Migranten im innerbosnischen Konflikt missbraucht werde, um politisches Kleingeld zu wechseln. Bosnien besteht nämlich aus zwei sogenannten Entitäten, die über eine jeweils eigene Exekutive und Legislative verfügen: die (überwiegend muslimische) Föderation und die (serbische) Republika Srpska.
Die Republika Srpska und das Nachbarland Serbien, so der Vorwurf der Kritiker, betreiben eine Politik des Durchwinkens der Flüchtlinge und Migranten, um Bosnien zu spalten. Und Serbien unternehme nicht genug, seine südlichen Grenzen zu Nordmazedonien oder Montenegro zu schützen.
Die serbische Regierung bestreitet das vehement. Serbien, so heißt es von offizieller Seite, sei ja nicht das „Endziel“, die Transitmigranten nutzten Serbien nur, um „Asyl-Shopping“ zu betreiben. Da Serbien seinen internationalen Verpflichtungen nachkomme, könne es Menschen, die einen Asylantrag gestellt haben, nicht abschieben. Sollten sich die Transitmigranten wieder auf den Weg machen, während das Asylverfahren noch laufe, könne Serbien sie nicht aufhalten.
Ein Level im Game, das symptomatisch für die chaotischen Zustände im Umgang mit Flüchtlingen und Migranten steht, wird im kleinen Dörfchen Otoka absolviert. Hier kommt täglich um 23 Uhr ein Expresszug aus Sarajevo vorbei, der die Reisenden von der Hauptstadt an die Grenze zu Kroatien, in die Stadt Bihać, bringt.
Weil die Lager dort überfüllt sind, versuchen die bosnischen Behörden in Otoka Zeit zu gewinnen, indem sie den Zug kontrollieren und vorläufig all jene Personen in Gewahrsam nehmen, die über keine gültigen Aufenthaltspapiere verfügen.
Damit endet die Reise der Migranten jedoch nicht. Sobald die Beobachter der internationalen NGOs den Schauplatz verlassen, setzt die Polizei die Reisenden in Kleinbusse und bringt sie im Schutz der Nacht ins Hinterland, wo sie auf ungenutzten Feldern wieder freigelassen werden. Amir aus Afghanistan hat dieses Level hinter sich gebracht.
Wie die anderen absolvierte er nach diesem Transfer in der Dunkelheit den Rest des Weges zur kroatischen Grenze zu Fuß. Wir trafen ihn anschließend am Start zum nächsten Level: in Bihać.
Wer Otoka und die nächtlichen Märsche durchs Land hinter sich gebracht hat, erreicht in Bihać das nächste Level. So wie Amir aus Afghanistan. Er und der Tross der Migranten werden hier, ganz in der Nähe zur kroatischen Grenze (und damit zur EU), inzwischen äußerst kritisch von der Bevölkerung gesehen. UN-Repräsentant Valentin Inzko beschrieb uns die Lage so:
Wir waren vor Ort. Die Lage ist angespannt. Im Kanton Una Sana, in dem sich Bihać befindet, halten sich derzeit 6.300 Migranten auf. Zweiter Brennpunkt neben Bihać ist Velika Kladuša. Gemeinsam bringen es die beiden Städte auf eine Aufnahmekapazität von 3.200 Personen. Die Folge: Viele der jungen Pakistanis, Afghanen oder Algerier, die keinen Platz mehr bekommen, besetzen entweder leerstehende Häuser von in Österreich oder Deutschland lebenden Gastarbeitern oder schlafen vor den offiziellen Aufnahmelagern im Freien.
Inzwischen gibt es unter den Transitmigranten Revierkämpfe. Schlägereien gehören mittlerweile zum Alltag.
Die nächste Stufe im Game: die Grüne Grenze nach Kroatien. Für Migranten wie Amir aus Afghanistan, den wir durch Bosnien begleiteten, ist das Ausspähen der Schlupflöcher zum Spiel mit den Behörden geworden. Der Übertritt nach Kroatien ist wichtig, weil es von da nur noch 80 Kilometer bis zum Schengen-Land Slowenien sind. UN-Repräsentant Valentin Inzko erklärt sich die Durchlässigkeit dieser Grenze so:
Doch der Weg ist gefährlich. Die Migranten bewegen sich häufig im steilen Gelände des Plješevica-Gebirges. Auf dem Weg helfen Smartphones, Google Maps, und in Whatsapp-Gruppen und auf Facebook gesammelte Informationen bei der Orientierung. Ein Problem lösen diese Werkzeuge jedoch nicht: Als Überbleibsel des bosnischen Bürgerkrieges liegen im Land noch geschätzte 80.000 Minen im Boden vergraben. Gerade die Grenzregion zu Kroatien gilt diesbezüglich als besonders gefährlich.
Nicht selten werden für die Übertritte auch Grenzpolizisten bestochen. Unter Migranten ist das ein offenes Geheimnis. Wer jedoch bestechlich ist, und wer nicht, das wissen – meistens – nur die Schlepper. Sie lassen sich dieses Wissen, und damit die Tickets ins nächste Game-Level nach Kroatien derzeit mit Beträgen zwischen 1.000 und 1.500 Euro bezahlen.
Die Reise durch Kroatien hat Amir bereits mehrfach gemacht, ehe er von Slowenien immer wieder zurückgeschoben wurde. Vom Weg dorthin berichtete er uns so:
Während die Öffentlichkeit über Italiens Maßnahmen zur Eindämmung der gefährlichen Flüchtlingsüberfahrten am Mittelmeer sprach, entwickelten sich die beiden Grenzstädte zu Slowenien, Triest und Görz, zu neuen Drehschreiben für Flüchtlinge und Migranten. Von hier aus verteilen sich ihre Ströme in die eigentlichen Zielländer Frankreich, Deutschland, Schweden und auch: Österreich.
Eine der schwierigeren Etappen des Game ist unmittelbar hinter der Grenze, in Slowenien, zu absolvieren. Greifen die Behörden dort illegal Reisende auf, werden diese in aller Regel über Kroatien direkt zurück nach Bihać in Bosnien abgeschoben. Reisende berichteten uns, dass die Behörden ihre Mobiltelefone beschlagnahmten, um ihnen die weitere Teilnahme am Game zu erschweren.
Amir aus Afghanistan, den wir im Mai ein Stück weit begleiteten, passierte genau das: die Abschiebung nach Bihać. Nachdem wir uns von ihm trennten, schaffte er im Lauf des Juni schließlich doch die Einreise in sein Zielland in Mitteleuropa. Sein Game, die Reise über den für Migranten immer durchlässigeren Balkan, absolvierte er nach mehreren Anläufen – aus seiner Sicht – erfolgreich. Das Spiel mit den Behörden beginnt aber erst.
In dem monatlichen Flow-Monitoring-Bericht der IOM weckt die Organisation auch Zweifel an den offiziellen Zahlen und zitiert das nordmazedonische Rote Kreuz, das im Zeitraum von Jänner bis April 7.858 Transitmigranten mit humanitärer Assistenz im Grenzgebiet zu Serbien unterstützt hat, fast 400 Prozent mehr als im Vorjahr gezählt hat.)