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Wenn Medikamente krank machen
24. Februar 2020 Behandlungsfehler 8 min
Bis zu 250.000 Menschen sind in Österreich abhängig von Schlaf- und Schmerzmitteln. Tendenz steigend. Der Grund: Viele Ärzte verschreiben diese Medikamente oft zu leichtfertig.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Behandlungsfehler und ist Teil 6 einer 6-teiligen Recherche.

Begonnen hat es mit Erschöpfung. Rosa (Name von der Redaktion geändert) kann nicht mehr schlafen und geht zum Hausarzt. Mit einem Schlafmittel geht sie nach Hause. Vier Jahre später ist sie schwer abhängig und hat zusätzlich eine Depression und eine Angststörung entwickelt. Die Versuche, von den Medikamenten loszukommen, scheitern. Jedes Mal, als sie Hilfe sucht, wird sie nach Hause geschickt. Dort macht sie den Entzug auf eigene Faust.

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Ich habe mich verbarrikadiert in meiner Wohnung und einen kalten Entzug gemacht. Das waren die härtesten zwei Wochen meines Lebens.
Rosa

Medikamentensucht ist die dritthäufigste Sucht in Österreich, und der Entzug ist gefährlicher als bei den meisten anderen Suchtmitteln. Rosa hätte bei ihrem kalten Entzug sterben können, da es im Falle eines abrupten Absetzens zu starken Muskelkrämpfen und epileptischen Anfällen kommen kann. Das musste auch der weltweit bekannte Autor und Psychologe Jordan Peterson am eigenen Leib erfahren. Er ließ sich Anfang des Jahres bei einer kontroversen Behandlung in Russland in künstlichen Tiefschlaf versetzen, um seinen kalten Entzug von Benzodiazepinen möglichst unbeschadet überstehen zu können. Nun leidet er unter Einschränkungen seines Bewegungsapparats und ist seitdem nicht mehr öffentlich aufgetreten.

Schätzungen zufolge sind in Österreich zwischen 150.000 und 250.000 Menschen von Medikamentensucht betroffen. Vorrangig geht es um Schlaf- und Schmerzmittel, die eigentlich nur im Notfall für wenige Wochen genommen werden dürfen. Zur dauerhaften Behandlung von Schlafstörungen oder chronischen Schmerzen eignen sie sich nicht. Innerhalb weniger Wochen kann sich eine körperliche und psychische Abhängigkeit entwickeln. Obwohl diese Medikamente in einer Hausapotheke nichts verloren haben, steigt die Zahl der Verordnungen an. Ein Behandlungsfehler mit System.

So auch bei Rosa: „Ich bin zu meiner Hausärztin gegangen, und die hat mir Benzodiazepine verschrieben. Begonnen habe ich mit fünf Tropfen, die ich immer mehr steigern musste. Im Endeffekt habe ich nach etwa drei bis vier Jahren 150 bis 200 Tropfen nehmen müssen.“

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Steigende Nachfrage

Im Gespräch mit Ärzten erfahren wir, dass der Druck seitens der Patienten enorm ist. Sie fragen die schnell und gut wirksamen Medikamente oft vehement nach, mitunter bei mehreren Ärzten gleichzeitig. Dennoch gilt, dass bei chronischen Schlafstörungen eine kognitive Verhaltenstherapie als geeignetste Behandlungsform empfohlen wird und Benzodiazepine in diesem Fall nicht geeignet sind. Die meisten Benzodiazepine sind lediglich für eine Anwendungsdauer von acht bis vierzehn Tagen zugelassen. Rosa hat die Medikamente über Jahre genommen.

Patientenanwalt Gerald Bachinger fordert daher im niedergelassenen Bereich eine stärkere Kontrolle der Verschreibungspraxis. Diese gleiche einem „schwarzen Loch“. Es brauche mehr Transparenz.

Problembereich Privatrezepte

Der Apotheker und Gesundheitswissenschaftler Prof. Gerd Glaeske von der Universität Bremen kennt dieses Problem. Als in Deutschland die Krankenkassen ihre Daten nutzten, um die Verschreibungspraxis der Ärzte zu überprüfen, stieg plötzlich die Zahl der Privatrezepte in Bezug auf problematische Beruhigungs- und Schmerzmedikamente an, da Privatrezepte nicht registriert werden. Glaeske verglich die Verkaufszahlen im Bereich der Benzodiazepine und der Z-Medikamente (neueres Benzodiazepin) mit der Zahl der Verordnungen. Das Ergebnis: Über 50 Prozent aller Schlaf- und Beruhigungsmittel waren nicht mehr registriert. Er vermutet, dass die Situation in Österreich ähnlich ist.

Das aktuelle Regierungsprogramm sieht eine Ergebniskontrolle von Ärzten vor, der Begriff „population health management“ (PHM) ist als eigener Punkt im Bereich Gesundheit gelistet. Das sogenannte Bevölkerungsgesundheitsmanagement versucht, die Gesundheitsergebnisse einer Gruppe zu verbessern, indem einzelne Patienten innerhalb dieser Gruppe überwacht und identifiziert werden. Mithilfe der Daten sollen die klinischen Ergebnisse verfolgt und verbessert werden. Das Vorhaben ist nicht neu, ähnliche Ansätze gab es bereits 2003. 

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