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„Ich hatte das Gefühl, es ist ihnen egal“: Nach Fehldiagnose im Rollstuhl
24. Februar 2020 Behandlungsfehler Lesezeit 7 min
Marija P. ist seit 2013 querschnittsgelähmt, nachdem im LHK Graz eine Autoimmunerkrankung übersehen wurde. Drei Gutachten bescheinigen ihr, dass sie nicht im Rollstuhl sitzen müsste, hätten die Ärzte richtig gehandelt.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Behandlungsfehler und ist Teil 4 einer 6-teiligen Recherche.
Bild: Peter Mayr | Addendum

Sie wollte jung Mutter werden. Weil sie es toll fand, dass ihre Mutter sie so jung zur Welt gebracht hat. „Wir sind quasi beste Freundinnen“, erzählt sie. Marija P. ist eine junge Frau, die weiß, was sie will. Und die ihre Pläne durchzieht: Schon mit 17 Jahren zieht sie 2011 von zu Hause aus und mit ihrem Freund Thomas zusammen. Er ist nun ihr Mann, aber Kinder haben sie bis heute nicht. „Diese Entscheidung wurde uns genommen“, sagt sie. Marija P. sitzt seit 2013 mit einer Querschnittslähmung im Rollstuhl, nachdem ihr die Autoimmunerkrankung Lupus diagnostiziert wurde und sie eine krankheitsbedingte neunstündige Notoperation knapp überlebt hat.

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Marija und ihr Mann Thomas

Die Krankheit ist immer präsent, sagt sie, in jedem Moment. Was sie auch sagt: Das müsste nicht so sein. Das sollte nicht so sein. Sie sollte Kinder haben, alle paar Wochen ihre Verwandten in Kroatien besuchen, auf Konzerte gehen. „Auf jedes zweite Konzert müssen wir verzichten, weil es mir nicht gut geht“, erzählt die heute 25-Jährige. Der Lupus ist ihr ständiger Begleiter. „Unser Alltag und unsere Pläne richten sich nach ihrer Krankheit. Wir stehen in der Früh auf und schauen, wie es ihr geht“, sagt ihr Mann Thomas. Ein Lupus wäre eigentlich gut unter Kontrolle zu halten. Wenn er rechtzeitig erkannt wird – und das war bei ihr nicht der Fall. Deshalb hat sie nach einem gescheiterten Schlichtungsverfahren 2016 die Kages auf 130.000 Euro geklagt, den Spitalsträger des Landeskrankenhauses Graz, wo ihre Erkrankung übersehen wurde. Der Prozess läuft immer noch, im März wird weiterverhandelt und sie hofft, dass es danach endlich vorbei ist. „Ich habe von mehreren Seiten gehört, dass sie versuchen, Prozesse so lange wie möglich hinauszuzögern.“ Seitens der Kages ist bis Redaktionsschluss keine Stellungnahme eingelangt.

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Magersucht und ein gewalttätiger Freund?

Sie geht noch zur HAK, als sie Ende 2011 plötzlich Schmerzen bekommt. „Ich war davor eigentlich nie krank, hatte immer ein gutes Immunsystem und war sehr sportlich.“ Sie geht Mitte 2012 zu ihrem Hausarzt, der Rheuma vermutet – die Knöchel, die Knie, die Ellenbogen schmerzen. Einige Monate später „ist es wirklich schlimm geworden. Ich habe meistens nur noch drei Stunden geschlafen und bin nachts spazieren gegangen, weil die Bewegung einigermaßen angenehm war.“ Im September 2012 wird sie vom Krankenhaus in Weiz nach Graz verwiesen, wo sie auf der Neurologie landet. „Da hat alles angefangen.“

Magersucht, das war die Diagnose der Ärzte dort. Es wird die Nervenleitgeschwindigkeit getestet, es wird ihr Blut abgenommen; und alles deutet darauf hin, dass etwas Gröberes nicht stimmt. Marija P. hat extrem erhöhte Entzündungswerte, die Monat für Monat steigen, die Nervenleitgeschwindigkeit nimmt gleichzeitig mehr und mehr ab. „Sie waren trotzdem der Meinung, dass ich magersüchtig bin und nicht genug esse.“ Ihre Schmerzen, ihre Befunde: All das wurde nicht ernst genommen. Im Gegenteil: „Sie haben vermutet, dass mein Freund gewalttätig ist, dass ein psychisches Problem vorliegt.“ Nicht einer, sondern insgesamt vier Ärzte unterstellen ihr Magersucht. „Aber ich habe nur abgenommen, weil ich nicht mehr schlafen konnte.“

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„Sie haben nicht gewusst, ob ich überlebe“

Sie bekommt Fieberschübe, hat extreme Schmerzen im linken Fuß. Anfang Oktober wird sie zu einer Nervenbiopsie zur Neurologie verwiesen, die nicht durchgeführt wird. Sie ist gestresst, kann wegen der Schmerzen nicht mehr in die Schule. Die neurologische Abteilung des Spitals überweist sie in die Kinderpsychiatrie – nicht in die Rheumatologie. „Das war extrem schwer für mich. Man geht mit der Hoffnung ins Spital, dass einem die Ärzte helfen. Dass du ernst genommen wirst. Es war das Gegenteil. Das habe ich nicht erwartet.“ Sie bekommt Schmerzmittel, mehr nicht. Später wird ihr die Klinik vorwerfen, dass sie nicht auf eigene Faust auf die Rheumatologie gegangen ist.

Im Frühjahr des folgenden Jahres spitzt sich die Situation dramatisch zu: Wegen Taubheitsgefühlen in Fingern und Händen wird Marija P. am 20. April 2013 in die Klinik in Graz eingewiesen, diesmal landet sie auf der Inneren Medizin, nicht in der Neurologie. Drei Tage später finden die Ärzte dort heraus, was ihr wirklich fehlt. Bei einem rheumatischen Konsil wird ihr Lupus erkannt. Da ist es fast schon zu spät. Der linke Vorfuß ist mangelhaft durchblutet, sie hat einen Verschluss der Fußrückenarterie. An beiden Armen und Beinen bekommt sie Lähmungserscheinungen, es wird eine Entzündung des Rückenmarks festgestellt. Sie erleidet einen Darmdurchbruch, braucht eine Not-OP.

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„Ich glaub, die OP hat neun Stunden gedauert. Sie haben dann zwei Wochen lang nicht gewusst, ob ich überhaupt überlebe.“

Wer hätte gedacht, dass es so weit kommt?

Sie sagt es in einem genervten Tonfall, wie sie da am Küchentisch ihrer Wohnung im steirischen Weiz sitzt und ihre Geschichte erzählt. Es klingt ein bisschen, als wollte sie sagen: Sogar das hätten sie fast noch verbockt, mich einfach nur am Leben zu erhalten. Zwei Wochen ist sie nach den Operationen im künstlichen Koma, als sie zum ersten Mal wieder aufwacht, ist sie gerade in der Druckkammer. „Ich habe nicht gewusst, wo ich bin, bin panisch geworden, habe versucht mir die Schläuche rauszureißen.“ Das zweite Aufwachen ist angenehmer: „Da war gerade die Mama zu Besuch, ich habe sie angeschaut und als Erstes gesagt: ‚Mama, du bist so hübsch!‘“

Nachdem die Ärzte ihr erklärt haben, dass sie ihr Leben im Rollstuhl verbringen wird, als sie im Spital auf die Reha wartet, trifft sie auf eine jener Ärztinnen, die ihr Magersucht diagnostiziert haben. „Mein Gott, wer hätte gedacht, dass es so weit kommt“, habe sie zu ihr gesagt. Nach der Reha zieht sie mit Thomas zu ihren Eltern zurück, ihre gemeinsame Wohnung war im zweiten Stock ohne Lift. Ihr Auto müssen sie verkaufen, es ist zu klein für den Rollstuhl. Die ersten beiden Jahre sind hart. Sie geht kaum raus, will nicht, dass sie Leute so sehen, die sich noch von früher kennt.

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„Ich war auf jeden wütend“, erzählt sie. „Mir war nicht bewusst, dass sich in dem Moment auch das Leben von Thomas und meiner Familie komplett geändert hat. Ich dachte, dass das nur mich betrifft und dass das nur mir angetan wurde.“

Die Wut auf die Ärzte

Aber sie hat sich ins Leben zurückgekämpft. Leicht war es nicht. Ihr Alltag ändert sich komplett, ihre Unabhängigkeit ist verloren. „Du kannst nicht schnell mal einkaufen gehen. Die Haare waschen, Gemüse schneiden, das ging am Anfang auch nicht alleine. Weil bei mir auch die Feinmotorik nicht funktioniert.“ Sie wohnt jetzt wieder mit Thomas zusammen, 2016 haben sie geheiratet. Sie wollen es alleine schaffen, ohne Pfleger, ohne Hilfe. „Das hat uns nie interessiert.“ Schwierig ist es oft. Sie wohnen jetzt im zweiten Stock mit Lift, aber der ist oft kaputt. „Dann bin ich in der Wohnung eingesperrt.“ Sie liebt es, Pflanzen im Hochbeet auf der Terrasse anzubauen, doch die Stufe zwischen Wohnung und Terrasse ist fünf Zentimeter hoch. Alleine kommt sie dort nicht hin.

Ihre Wut beginnt sie auf die Ärzte zu kanalisieren. „Jetzt ist der Thomas davon entlastet“, sagt sie lachend. Sie wendet sich an die Schlichtungsstelle der steirischen Ärztekammer, die 2016 Gutachten von Oliver Kastrup, leitender Arzt für Neurologie in Essen, einholt. Es ist so formuliert, dass es die Kages dazu veranlasst, aus dem Schlichtungsverfahren auszusteigen. Schließlich findet sich im Gutachten der Satz: „Grundsätzlich wird ein Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst nicht gesehen.“

Er wird um eine Konkretisierung gebeten, die wirft ein anderes Licht auf die Vorgänge: Sie besagt, dass nach „erneuter Sichtung der Aktenlage und der bisher von mir vorgelegten Gutachten eine überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht, dass wenn im Herbst 2012 hochdosiert Steroide oder Immunsuppressiva begonnen worden wären, die Grunderkrankung im Frühjahr nicht aufgeflammt wäre. Zumindest wäre diese allerdings mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in deutlich abgedämpfter Form nur aufgetreten.“

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Querschnittslähmung wäre vermeidbar gewesen

Marija P. entscheidet sich, vertreten von der Anwältin Karin Prutsch, zivilrechtlich zu klagen. „Wir haben von Anfang an gesagt, wenn wir den Weg gehen, gehen wir ihn bis zum Schluss“, sagt sie. Der Weg ist nun schon jahrelang. Auch das Gericht holt ein Gutachten ein, es fällt noch kritischer aus. Der Neurologe Udo Zifko sieht gleich sieben Diagnoseschritte, die nicht lege artis, also nach den Regeln der ärztlichen Kunst, durchgeführt wurden. Die Querschnittlähmung sei „eine vermeidbare Krankheitsfolge“. Das Gericht beauftragt einen zweiten Gutachter, er kommt zum selben Schluss: Mit „an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ wären die aufgetretenen Schäden abwendbar gewesen, hätte Marija P. rechtzeitig eine adäquate Immuntherapie bekommen. Nun wartet sie auf den Gerichtstermin im März, hofft auf ein baldiges Urteil.

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„Ich war immer ein totales Sommerkind“, erzählt sie.

Nicht dass es alles wieder gut machen könnte. Ihr Leben wird nie mehr dasselbe sein, und der Lupus quält sie weiter. Sie hat Zysten in den Eierstöcken, die wegen ihrer Erkrankung nicht operiert werden können. Alle drei bis vier Monate muss sie diese Zysten nun punktieren lassen. Die Sommer verbringt sie in der Wohnung, der Lupus und die Sonne vertragen sich nicht.

Aber sie träumt von einem eigenen Haus ohne Barrieren, einem Beet, das sie alleine beackern kann, von dem sie keine fünf Zentimeter Stufe trennen. Das könnten sie sich vielleicht leisten, wenn sie Schadensersatz zugesprochen bekommt. Es ist nicht das Einzige, worum es ihr geht. „Es geht mir auch darum, dass jungen Menschen Aufmerksamkeit geschenkt wird, dass es nicht heißt: ‚Das Mädchen ist dünn, die hat sicher Magersucht.‘“ Als die behandelnden Ärzte beim Prozess aussagen mussten, haben sie sie komplett ignoriert. „Ich hatte das Gefühl, es ist ihnen egal“, sagt sie. Es sind Erlebnisse wie dieses, die ihre Wut weiter füttern. Die Wut, die ihr die Kraft gibt weiterzumachen. 

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Der Artikel wurde am 24. Februar um 16:15 Uhr aktualisiert.

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