Kann man glaubwürdig über den Beruf des Bestatters schreiben, wenn man selbst nie wirklich ausprobiert hat, wie das so ist? Vermutlich. Schließlich schreiben Journalisten auch über Ärzte und Pfleger, ohne jemals in deren Rolle geschlüpft zu sein. Der Unterschied ist: Bei einer Notoperation wären Reporter ein Sicherheitsrisiko. Als Assistent eines Bestatters jedoch können sie wenig falsch machen. Also nutzten wir die Chance und die über unsere Recherchen erlangten Zugänge und versuchten es.
Jetzt kam ich nicht mehr aus. Ich hatte eben Ja gesagt. Ein Rückzug war damit ausgeschlossen. Es würde alles so kommen, wie ich es für meine Recherchen wollte. Schon morgen Früh sollte ich Tote sehen, sie berühren und riechen. Und darüber nachdenken, wer die Menschen zu Lebzeiten waren, deren Körper ich gemeinsam mit dem Bestatter in Särge heben würde.
Über das Geschäft mit dem Tod zu schreiben und dazu zu recherchieren, das Bestattungsgewerbe zu durchleuchten und nebenbei meinen Kollegen Simon Schennach bei der Arbeit für seine TV-Reportage zu unterstützen, das gehört zu meinem Beruf. Ein Beruf, der immer öfter nur am Schreibtisch stattfindet. Aber wie soll man wirklich verstehen und weitergeben, was vor sich geht in einem Gewerbe, wenn man selbst nur vom Hörensagen davon weiß?
Ich wollte mehr erfahren und auch fühlen, kam mit einem Bestatter ins Gespräch, dessen Identität ich nicht bekanntgeben werde. Der Tod wird oft als Tabu betrachtet, der Umgang mit den Toten auch. Darf man das Reportern zeigen? Einige werden das wohl mit Nein beantworten. Deshalb soll er – nennen wir ihn Paul –, dem ich einen halben Tag lang assistierte, keinen Nachteil davon haben. Paul fand meine Idee jedenfalls gut. „Die Leute wissen viel zu wenig darüber“, sagte er. „Dein Beruf ist es, über sowas zu berichten. Treffen wir uns morgen um 9 Uhr im Bezirksgesundheitsamt.“ Nachsatz: „Das wird interessant für dich.“ Wie recht er hatte.
Am nächsten Tag erscheint Paul ein paar Minuten zu spät. Der dichte Wiener Vormittagsverkehr hat ihn und seinen Transporter, der voll mit leeren Särgen ist, aufgehalten. Bei strahlendem Sonnenschein steigt er aus, gibt mir die Hand uns sagt: „Ab ins Amt.“
Mit Toten ist es nämlich so: Anders als die Lebenden dürfen sie sich – in Wien jedenfalls – nicht frei bewegen. Wer Leichen außer Landes, also über die Stadt-, und nicht über die Staatsgrenze bringen will, muss das der Behörde anzeigen. Persönlich. Und dafür 3,27 Euro Gebühr entrichten. Vor allem privaten Konkurrenten der städtischen Bestattung Wien wird dadurch das Leben spürbar erschwert. Behördenwege kosten nämlich Zeit. Und Zeit ist Geld. Auch so kann man Wettbewerb bremsen.
Die Angehörigen des verstorbenen Herrn Kubicek (auch das ist ein Pseudonym) haben sich dennoch gegen die Bestattung Wien entschieden. Die Leiche des Toten muss deshalb in einem Krematorium außerhalb der Hauptstadt eingeäschert werden. Daher auch die heutige Anzeige beim Gesundheitsamt. „Den Körper holen wir später aus dem Spital“, sagt Paul. Um mich langsam an das Thema heranzuführen, schlägt er vor, zunächst die Leichenkammern unter der großen Aufbahrungshalle des Zentralfriedhofs zu besuchen. Wir steigen ein und fahren los.
In mir steigt die Spannung. Was wird mich erwarten? Ich fange an zu fragen, und Paul beginnt zu erzählen, dass man sich an den Anblick „normaler“ Toter rasch gewöhne, und dass sein Gewerbe – neben dem eines anderen, Sie wissen schon (Prostitution) – genauso zu den ältesten überhaupt gehöre. Gestorben wurde schon immer.
Nie gewöhnen würde man sich aber an Kinder, entstellte Leichen oder Tote, die durch die im Verwesungsprozess entstehenden Gase derart aufgebläht sein können, dass sie zu platzen drohen. Und das auch manchmal tun. „Das ist dann wirklich unangenehm“, erzählt Paul, und geht nicht näher auf Details ein. Ich erspare ihm meine Nachfrage.
Am Zentralfriedhof parkt er seinen Transporter am Hintereingang der Halle 1. Auf dem goldenen Schild neben der sich automatisch öffnenden Flügeltür steht: „Eingang nur für Kontrahenten und Zusteller“. Und zugestellt (oder abgeholt) wird hier täglich viel. Davon zeugt eine dicke Mappe im Keller des Gebäudes. Sie gibt Auskunft über die Toten, die hier liegen.
Wie sie heißen, wann sie geboren wurden, wann sie starben. Wer sie gebracht und wer sie abgeholt hat. Die überwältigende Mehrheit heute sind Alte, 1940er-, 1930er- und auch zwei 1920er-Jahrgänge. Außerdem fällt mir ein junger Mann auf, der nicht einmal 28 Jahre alt wurde.
Sie alle liegen nun hinter einer der drei dicken Kühlhaustüren, deren Schlösser sich erst bei Kontakt mit Pauls Zugangschip öffnen. Das digitale Thermometer am Eingang zeigt 6,1 Grad Celsius an. Ich hole Luft und trete ein. Es fühlt sich merkwürdig an hier, einsam und dicht gedrängt zugleich. Paul und ich sind umgeben von mehreren Dutzend Toten. In Dreierreihen liegen sie übereinander.
Die Anwesenheit so vieler Verstorbener um mich herum lässt mich innehalten. Ganz automatisch. Ich spreche nur noch leise, fast so, als ob ich sie nicht in ihrer Ruhe stören will. Auch wenn ich – zum Glück – keinen von ihnen kenne: Respekt und Ehrfurcht vor den Toten liegen uns Menschen offenbar im Blut. „Der Geruch“, flüstere ich in die Richtung von Paul, „ist das der Tod?“ – „Ja.“
Es riecht intensiv, nussig-süß, würde ich sagen. Um ehrlich zu sein: Den Leichengeruch hatte ich mir irgendwie unangenehmer vorgestellt. Als ich darüber nachdenke, schießt mir – zum ich weiß nicht mehr wievielten Mal an diesem Tag – die Frage durch den Kopf: Ist das jetzt pietätlos? Oder ist es nur menschlich und damit normal, dass der Tod und alles, was zu ihm gehört, eine ungemeine Faszination auf uns Lebende ausübt? Paul hat inzwischen zu frieren begonnen. Er reißt mich unsanft aus meinen Gedanken. „Gehen wir. Und holen Herrn Kubicek.“
Der 71-Jährige ist vor einer Woche in einem der vielen Spitäler der Stadt verstorben. Nach dem Besuch in den Kühlhäusern des Zentralfriedhofs ist Paul offenbar der Meinung, dass ich nun bereit wäre für meinen ersten Toten. Wobei: So ganz stimmt das nicht. Schon vor ein paar Jahren hielt ich Totenwache am Leichnam meiner Großmutter. Und trotzdem: Fremde Tote sind anders. Bei Familienmitgliedern überdeckt die Trauer alle anderen Gefühle. Und bei Unbekannten?
Die Leiche von Herrn Kubicek ließ mich den Tod sachlicher und auf gewisse Weise unverfälschter begreifen. Gegenüber trat er mir in Form eines alten, von Krankheit geschwächten Körpers in der Prosektur einer Wiener Klinik. Einen Stock höher, dort, wo wir die Formalitäten mit dem Personal erledigen, schieben Eltern ihre neugeborenen Kinder über die Gänge. Einen Stock tiefer zieht Paul einen nackten, nur mit einem Leintuch bedeckten Leichnam aus der Kühlung.
„Du tust ihm nichts Schlechtes“, sagt Paul, der spürt, dass mich die Szene beschäftigt. „Benimm dich einfach ordentlich und tu, was ich dir sage.“ Die Haut des Toten wirkt auf mich wie Seidenpapier. Anfangs wage ich es nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. Bin ich ein Voyeur?, frage ich mich. Als hätte er es gehört, sagt Paul zu mir: „Irgendwer macht diese Arbeit immer. Meiner Mitarbeiterin habe ich heute freigegeben, jetzt hilfst eben du mir. Komm, gib mir den Papiersack von dort drüben, da sind seine Kleider drinnen, wir ziehen ihn jetzt an.“
Anziehen? Ich überlege kurz. Will ich das? Traue ich mir das zu? Ist das vielleicht doch ein bisschen viel für den ersten Tag als Kurzzeitassistent eines Bestatters, oder bin ich einfach nur zartbesaitet? Auch Ärzte und Pfleger sind täglich mit dem Tod konfrontiert.
Ich entscheide mich rasch. „Paul, ich glaube, ich möchte das nicht. Wenn es sein muss, helfe ich dir, aber wenn du es alleine schaffst, dann würde ich gerne draußen warten.“ „Das ist völlig in Ordnung“, sagt er, und weiter: „Hättest du nun einfach so mitgemacht, dann hätte ich das als merkwürdig empfunden.“
Die Tür zur Prosektur fällt hinter mir ins Schloss. Paul tut drinnen seine Arbeit, ich gehe draußen auf und ab, frage mich, ob ich das Richtige getan habe, oder eine seltene Chance auf eine einmalige Erfahrung verpasst habe. Als Paul wieder die Tür öffnet, bin ich mit mir selbst im Reinen: Für meinen ersten Tag als Bestatter waren es genug neue Erfahrungen. Für mich war die Entscheidung richtig.
Doch jetzt braucht Paul mich wirklich. Denn Herr Kubicek muss in den Sarg gehoben werden. Gemeinsam holen wir einen aus dem Transporter, stellen ihn geöffnet unmittelbar neben den nun angezogenen Körper. In meiner Aufregung packe ich den Toten bereits an den Knöcheln, da sagt Paul: „Zuerst die Gummihandschuhe. Zur Sicherheit.“ Zweiter Versuch.
Der ausgemergelte Körper fühlt sich leicht an, langsam legen wir ihn in den mit weißem Stoff ausgelegten Sarg. Paul bettet den Kopf von Herrn Kubicek noch auf einen Polster und verschränkt dessen Hände in der typischen Haltung, die wir alle von Film-Leichen kennen, vor der Brust. Deckel drauf. Einladen. Durchatmen.
„Glückwunsch“, sagt Paul zu mir. „Du hast das getan, was heute nur noch sehr, sehr wenige tun, obwohl es zu uns gehört wie die Geburt.“ Damit ließ er mich allein. Und dafür bin ich ihm dankbar.