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In den Fängen der Bettelmafia
12. August 2018 Bettler Lesezeit 3 min
„Iwan“ wurde zweieinhalb Jahre zum Betteln gezwungen und musste all seine Einkünfte abgeben. In Kürze wird er als Kronzeuge gegen die international tätige Bettelmafia aussagen.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Bettler und ist Teil 3 einer 3-teiligen Recherche.

Seine Bewegungen sind fahrig, die Augen verfolgen nervös jede Bewegung seines Gegenübers. Jede Geste des 60-jährigen Mannes zeigt, dass er auf der Hut ist, misstrauisch ist, ob er in Burgas an der bulgarischen Schwarzmeerküste eine Unterkunft gefunden hat, die nicht mit einer kriminellen Organisation unter einer Decke steckt.

Der Mann, um den es hier geht, hat den Decknamen „Iwan“ – und er war über zweieinhalb Jahre in den Fängen der international tätigen Bettelmafia. In Burgas ist er in einer Wohnung untergebracht, deren Adresse von den Behörden geheim gehalten wird. Der Grund ist maximale Sicherheit, die „Iwan“ gewährt werden soll – in wenigen Monaten wird er in einem Prozess in Sofia gegen seine Peiniger als Kronzeuge aussagen. Bis zu dieser Aussage ist er in Lebensgefahr – seine Erlebnisse könnten die Capos hinter Schloss und Riegel bringen.

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Was Betteln bedeutet

„Iwan“ wurde von einem kleinen bulgarischen Dorf nach Frankreich gebracht. Schulden und die Aussicht im reicheren Teil Europas Geld zu verdienen, waren die Anreize. Anfangs. In Toulouse wurde ihm dann klar, was Betteln bedeutet. Täglich stand er mit anderen aus seiner Heimat an einer Verkehrsampel mit dem Auftrag, den Fahrern der wartenden Autos Almosen zu entlocken. Klar, in was er da reingeraten war, wurde ihm, als seine Aufpasser das erbettelte Geld am Ende des Tages von ihm abkassierten. Ihm blieb von 30.000 Euro, die er in dieser Zeit vor „seiner“ Ampel erbettelte, kein Cent.

Ein Capo schenkte ihm eine Uhr. Mit viel vorgetäuschter Zuneigung, weil er ja so toll bettelte. Der Hintergrund des Geschenks war ein anderer: „Iwan“ sollte pünktlich in der Früh an der Ampel stehen.

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Prügel statt Medizin

Die Zeit in Frankreich hatte Folgen. „Iwan“ hat einen kaputten Magen. Manchmal bricht er in Tränen aus, scheinbar grundlos. Einmal konnte er fliehen. Er hatte wieder Magenprobleme, wusste, dass er dafür in der „Organisation“ kein Verständnis bekommen würde. Er setzte sich in die U-Bahn und fand einen Schlafplatz unter einer Brücke. Die Magenprobleme wurden ärger, er hatte keinen Zugang zu Medikamenten. In der Hoffnung, dass er von seinen Capos wenigstens Tabletten für seinen kaputten Magen bekommen würde, entschloss er sich, wieder zurückzukehren. Zur Begrüßung bekam er statt Medizin Prügel – und sein Reisepass wurde einkassiert. Als Sicherheit, dass er nicht noch einmal flieht und dann vielleicht nicht mehr zurückkommt.

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Auch in Österreich

Gefunden wurde „Iwan“ schließlich in einem Abbruchhaus. Als der Bagger schon begann, die Wände einzureißen, bemerkte ein aufmerksamer Arbeiter den Bulgaren auf einer Matratze. Die Polizei brachte ihn in Sicherheit und führte ihn nach Bulgarien zurück. Zwei Wochen vor unserem Gespräch bezog „Iwan“ seine jetzige Bleibe. Der volle Kühlschrank, gefüllt mit Margarine, Extrawurst, Milch und Brot ist für ihn Luxus.

Seine Aussagen und die Recherchen der Behörden zeichnen ein Bild, wie strukturierte Kriminalität funktioniert: „Iwan“ war einer von ungefähr 300 Menschen, die zum Betteln gezwungen wurden und all ihre Einkünfte an die Capos abgeben mussten.

Klar wurde auch, dass die Bande in ganz Europa operierte – auch in Österreich. Und dass besonders erfolgreiche Bettler wie „Iwan“ unter den Bossen weiterverkauft wurden. „Iwan“ zweimal. Pro Transfer um 1.000 Euro.

Die Uhr, die „Iwan“ von einem der Bettelbosse geschenkt wurde, trägt er noch immer. Sie und seine Erinnerungen sind alles, was ihm von seinem zweieinhalbjährigen Martyrium geblieben ist. 

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