Es ist nun schon 15 Jahre her. Und trotzdem erinnert sich Alfred Lugert daran, als ob es gestern gewesen wäre. Weil es ihn empört. Weil die Folgen inzwischen voll durchschlagen. Weil der in der Verfassung verankerte Milizstand des Bundesheeres dadurch, wie er sagt, „zerstört“ wurde. Und weil es sich, das glauben jedenfalls Lugert und seine Mitstreiter, eine Gruppe von Berufssoldaten in einem von Sparmaßnahmen gebeutelten Heer auf Kosten Dritter bequem gemacht hat. Lugert urteilt hart. Er weiß das.
Warum er das tut?
„Es war am Vorabend der Veröffentlichung des Berichts der Bundesheer-Reformkommission im Jahr 2004“, erzählt uns der Oberst in Ruhe ganz in der Nähe einer seiner ehemaligen Wirkungsstätten, der Landesverteidigungsakademie in Wien. „Aus der Runde um den Vorsitzenden Helmut Zilk war damals durchgesickert, dass der Stand der Berufssoldaten im Bundesheer gestärkt, jener der Miliz geschwächt werden sollte.“
Lugert, heute selbst ehemaliger Soldat und Oberst außer Dienst, ging den Gerüchten nach. „Ich traf also Friedrich Wallner, inzwischen leider verstorben, damals aber in der Personalvertretung unter Ex-Geheimdienstchef General Alfred Schätz tätig. Also erkundigte ich mich bei ihm, warum die sogenannte Zilk-Kommission offenbar durch die Hintertür und gegen den Wortlaut der Verfassung aus dem Bundesheer eine Berufsarmee machen wolle.“
Wallner, damals ebenfalls im Rang eines Oberst, antwortete laut Lugert und der Erinnerung eines weiteren Zeugen, mit dem wir sprachen, so: „Wir, die Personalvertretung der Berufssoldaten, glauben, dass es in Zukunft nicht mehr Geld fürs Heer geben wird. Das Wenige, was da ist, wollen wir jedoch für uns. Und daher wollen wir alles, was nicht wir sind, abschaffen.“
Und tatsächlich: In den Folgejahren dirigierten mehrere Regierungen das Bundesheer genau in diese Richtung. Anders als die Gruppe der Berufssoldaten wurde der Milizstand seither personell stark beschnitten, die verpflichtenden Übungen von Grundwehrdienern nach dem Wehrdienst gestrichen. Heute klafft in Sachen Mannstärke und Ausrüstung der Miliz eine große Lücke zwischen dem Papier und der Realität. Und auch in Sachen Wertschätzung, das hört man zumindest aus der Miliz, selbst wenn der persönliche Umgang stets gut sei. Dabei ist die Ausgestaltung des Bundesheers in der Verfassung klar beschrieben: „Es ist nach den Grundsätzen eines Milizsystems einzurichten.“
Der Spielraum für Interpretationen, was der Gesetzgeber damit einst meinte, ist gering. In den Erläuterungen dazu ist das nämlich genau festgehalten. Für Lugert ist klar: „Armeeführung und Regierung ignorieren die Verfassung.“
Hat das fast ausschließlich aus Beamten bestehende Berufspersonal, wie Kritiker glauben, die Miliz also erfolgreich „geschnitten“? Und falls ja, wie?
Oder halten die Befürworter der Milizidee nur an einem veralteten Konzept von Armee fest, wie viele Berufsmilitärs glauben?
(1) Dem Bundesheer obliegt die militärische Landesverteidigung. Es ist nach den Grundsätzen eines Milizsystems einzurichten.
(2) Das Bundesheer ist, soweit die gesetzmäßige zivile Gewalt seine Mitwirkung in Anspruch nimmt, ferner bestimmt
1. auch über den Bereich der militärischen Landesverteidigung hinaus
a) zum Schutz der verfassungsmäßigen Einrichtungen und ihrer Handlungsfähigkeit sowie der demokratischen Freiheiten der Einwohner
b) zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit im Inneren überhaupt;
2. zur Hilfeleistung bei Elementarereignissen und Unglücksfällen außergewöhnlichen Umfanges.
(3) Weitere Aufgaben des Bundesheeres werden durch Bundesverfassungsgesetz geregelt.
(4) Welche Behörden und Organe die Mitwirkung des Bundesheeres zu den im Abs. 2 genannten Zwecken unmittelbar in Anspruch nehmen können, bestimmt das Wehrgesetz.
(5) Selbständiges militärisches Einschreiten zu den im Abs. 2 genannten Zwecken ist nur zulässig, wenn entweder die zuständigen Behörden durch höhere Gewalt außerstande gesetzt sind, das militärische Einschreiten herbeizuführen, und bei weiterem Zuwarten ein nicht wieder gutzumachender Schaden für die Allgemeinheit eintreten würde, oder wenn es sich um die Zurückweisung eines tätlichen Angriffes oder um die Beseitigung eines gewalttätigen Widerstandes handelt, die gegen eine Abteilung des Bundesheeres gerichtet sind.
An einigen Fakten gibt es nichts zu rütteln. Zum Beispiel: Seit der Zeit vor der Bundesheer-Reform-Kommission hat die politische Führung die Zahl der hauptberuflichen Soldaten nur geringfügig um 8 Prozent reduziert, nämlich von 14.789 auf 13.648 (Stand: Jahresbeginn 2019). Der Stand der Milizsoldaten erlebte im selben Zeitraum jedoch einen Aderlass um 58 Prozent (von 71.386 auf 29.722).
Das klingt immer noch nach viel, und es dient vor allem den Planungsoffizieren des Verteidigungsministeriums als starkes Argument dafür, dass man die Miliz als Teil des Heeres nach wie vor ernst nehme und schätze. Denn tatsächlich bemüht sich das Heer mit Marketingmaßnahmen Freiwillige zu rekrutieren. Im Feld sieht das anders aus. Genau dort, im Rahmen einer Übung der Miliz auf dem Truppenübungsplatz Glainach, sagte uns Kärntens Militärkommandant Walter Gitschthaler, dass man „die Miliz offensichtlich nicht so ernst nimmt, wie man müsste“.
Die Zahlen dazu kommen quasi aus dem Nebenzimmer von Verteidigungsminister Thomas Starlinger. Erwin Hameseder, Raiffeisen-Manager und Milizbeauftragter des Ministers, schaltete im vergangenen Sommer ganzseitige Inserate in Tageszeitungen. Darin teilte er im Kleingedruckten mit, dass gleichzeitig lediglich vier Milizbataillone und vier Pionierkompanien der Miliz voll ausstattbar seien.
Am Ende bleibt folgende Rechnung: Von den 29.722 Soldaten (Stand: Anfang 2019) des Milizstandes üben 16.741 sogenannte unbefristet Beorderte regelmäßig, also im Zeitraum zwischen einem und drei Jahren. Gleichzeitig, und wie im Fall einer Mobilisierung ausstatt- und damit einsetzbar, wären davon und laut Rechnung des Milizbeauftragten 3.340 Mann.
Trotz der recht eindeutigen Formulierung der Verfassung, halten Teile des Generalstabs die Miliz-Idee von den Bürgersoldaten, die nur zum Üben und für den Einsatz zusammen kommen, für überholt und nicht mehr zeitgemäß. Wir sprachen darüber mit mehreren Spitzenkräften, informell, und ohne Nennung von Namen. Bis auf wenige Ausnahmen sei der Trend international zuletzt in Richtung Berufsarmeen gegangen. Und die entsprechende Verfassungsbestimmung seit – offenbar ungeachtet der bereits erwähnten Erläuterungen des Gesetzgebers dazu – weit interpretierbar.
Ganz anders die offizielle Kommunikation nach außen. Hier wird argumentiert, dass man sich strikt an die Verfassung und das Ergebnis der Volksbefragung im Jahr 2013 halte.
Das tut auch Thomas Starlinger. Er sagt: „Die Miliz muss die gleichen Aufgaben erfüllen können wie hauptberufliche Soldaten. Deshalb brauchen ihre Mitglieder auch die gleiche Ausrüstung. Ich will keine Zweiklassenarmee.“
Dazu muss man wissen: Starlinger galt – zumindest in der Vergangenheit – als Befürworter einer Berufsarmee. Oder zumindest eines Heeres, das einen Gutteil seiner Kräfte mit Zeitsoldaten stellt. In seiner Diplomarbeit, die mit einem militärischen Sperrvermerk belegt ist, soll er sich medial verbreiteten Bruchstücken zufolge eindringlich mit Alternativen zur Wehrpflicht auseinandergesetzt und davor gewarnt haben, dass die aktuelle Personalstruktur des Bundesheers (fast ausschließlich Beamte) mittelfristig in die Zahlungsunfähigkeit führe.
Starlingers mündliche Unterstützung der Miliz hilft ihm nun bei seiner Offensive für mehr Mittel für das Heer. Die Miliz besteht nämlich zu großen Teilen aus Infanterie (im Bundesheer aus Jägern). Eine interne Präsentation der Planungssektion des Ministeriums zeigt, dass sich der Preis für die Ausstattung eines Jägerzugs zwischen 1997 und 2020 aufgrund des technischen Fortschritts vervierfacht hat. Berücksichtigt man dabei auch die dafür nötigen Fahrzeuge, muss man etwa mit dem Elffachen, also etwa 8,9 Millionen Euro, rechnen. Ein Zahlenspiel, mit dem sich die Forderung nach mehr Geld gut begründen lässt.
Personalstarke Armeen wie Milizheere sind unter diesen Rahmenbedingungen natürlich besonders schwer auszustatten. Es sei denn, man verfolgt eine Strategie, wie Alfred Lugert sie von seinem Kameraden Friedrich Wallner beschrieben bekam (alles für den Berufsstand). Oder wie Finnland.
Die Skandinavier sind wie Österreich Mitglied der EU und ebenfalls neutral. Sie setzen bei der Landesverteidigung auch auf das Milizprinzip. Mit entscheidenden Unterschieden: Sie leben es intensiv, halten die hauptberufliche Komponente klein und haben auch sonst einige Rahmenbedingungen darauf abgestimmt.
Zuletzt gab Finnland 1,2 Prozent des BIP (Haushaltsabschluss 2018: 2,9 Milliarden Euro) für Verteidigung aus. Österreich 0,56 Prozent (2,3 Milliarden Euro). Allerdings: Österreichs BIP ist deutlich höher, und das Bundesheer betreibt, anders als die finnischen Streitkräfte, auch keine Marine. Deren Kosten schätzen Experten des Verteidigungsministeriums in Wien auf ca. 25 Prozent der Gesamtausgaben. Am Ende bleibt so ein jährlicher Gesamtetat, der mit einem Schnitt von 2 Milliarden Euro im Lauf der vergangenen fünf Jahre exakt auf dem Niveau des österreichischen Verteidigungsbudgets liegt. Dafür – siehe Grafik – bekommen die Steuerzahler nur etwa halb so viel Berufspersonal, aber ein riesiges Milizheer mit guter Ausrüstung, das sich im Fall des Falles selbst dem großen Nachbarn Russland entgegenstellen soll. Inklusive Raketenluftabwehr auf mittlere Distanz, die Österreich gänzlich fehlt. Die Dauer des Wehrdienstes beträgt je nach Waffengattung sechs bis zwölf Monate.
Klingt ein wenig nach Verlängerung des alten Konflikts zwischen Ost und West; ist aber, das glaubt jedenfalls der Politologie Franz-Stefan Gady, die militärische Zukunft. Gady stammt aus der Steiermark und arbeitet am New Yorker East-West-Institute als Senior Fellow und Analyst für Militärstrategie. Aus der Zusammenschau der Fakten ergibt sich für ihn der Schluss, dass Berufsarmeen zuletzt zwar im Trend lagen, die Zukunft – aus unterschiedlichen Gründen – jedoch wieder größeren, personalstarken Heeren gehöre. Warum, das hat er uns vor der Kamera erklärt.
Möglich wäre das, so sich Politik und Generalstab tatsächlich wieder in diese Richtung bewegen würden, wohl nur mit Pflicht statt Freiwilligkeit. Also mit einer Rückkehr zum alten System, in dem nach dem Wehrdienst Übungen vorgeschrieben wurden, in deren Rahmen der Berufskader auch die nötige Anzahl von Soldaten für das militärische Training bekam. Derzeit rüsten Wehrpflichtige nach sechs Monaten voll ausgebildet ab. Das Bundesheer sieht sie nie wieder.
Bis auf einige wenige, die sich aus Idealismus und anderen Gründen freiwillig dazu bereit erklären, im Ernstfall einzurücken. Egal, welches Gerät man ihnen dafür zur Verfügung stellt. Egal, was sich Gegner, Befürworter und Experten öffentlich ausrichten.