Die österreichische Neutralität wurde am 26. Oktober 1955 in einem eigenen Bundesverfassungsgesetz beschlossen. In diesem Gesetz erklärt Österreich seine immerwährende Neutralität und verpflichtet sich zur Aufrechterhaltung und Verteidigung dieser Neutralität. Außerdem verbietet das Gesetz den Beitritt zu Militärbündnissen und die Errichtung von fremden Militärstützpunkten auf österreichischem Gebiet.
Das Außenministerium betont immer wieder, dass die nähere Definition der Neutralität – in Einklang mit dem Völkerrecht – in erster Linie bei Österreich selbst liegt. Außerdem vertritt es die Ansicht, dass Österreich diesen Status einseitig beenden dürfte. Die übrigen Staaten müssten darüber lediglich in Kenntnis gesetzt werden, hätten aber kein Mitspracherecht. Der Ansicht, wonach Russland als Signatarmacht des Staatsvertrags bei einem etwaigen NATO-Beitritt Österreichs ein Mitspracherecht hätte, wird damit eine klare Absage erteilt.
Als neutraler Staat darf Österreich sich an keinem zwischenstaatlichen Krieg aktiv oder passiv (etwa durch Waffenlieferungen oder das Bereitstellen seines Staatsgebiets) beteiligen. Deswegen erteilte Österreich den USA im Zuge des Irak-Kriegs 2003 auch keine Überfluggenehmigungen. Die Neutralität schließt außerdem einen NATO-Beitritt aus. Gleichzeitig hat Österreich bereits während des Kalten Kriegs eine „aktive Neutralitätspolitik“ verfolgt. Die ebenfalls seit 1955 bestehende Mitgliedschaft bei den Vereinten Nationen stellte daher ebenso kein Problem dar wie die Teilnahme österreichischer Blauhelme an friedenserhaltenden Operationen. Das war nicht immer selbstverständlich – die Schweiz ist den Vereinten Nationen wegen neutralitätsrechtlicher Bedenken erst 2002 beigetreten.
Doch wie verhält es sich mit der EU-Mitgliedschaft? Was ist mit der österreichischen Beteiligung an der NATO-„Partnership for Peace“? Was genau verlangt die österreichische Erklärung, die Neutralität „mit allen zu Gebote stehenden Mitteln“ aufrechtzuerhalten und zu verteidigen? Welche Rolle spielt die Neutralität bei der Terrorismusbekämpfung?
Die EU-Mitgliedschaft hat die österreichische Neutralität maßgeblich verändert. Im Bundes-Verfassungsgesetz wurde der rechtliche Rahmen für die Teilnahme an Wirtschaftssanktionen und EU-Missionen aller Art – die sogenannten „Petersberg-Aufgaben“ – ermöglicht. Österreich hat an dieser Stelle keine Vorbehalte angemeldet und wirkt folglich in vollem Umfang mit. Daher spricht man heute nicht mehr von einer „integralen“, sondern von einer „differentiellen Neutralität.“ Kampfeinsätze dürfen allerdings lediglich auf Grundlage einer Autorisierung des UN-Sicherheitsrats erfolgen.
Zu den nach ihrem Entstehungsort Petersberg (bei Bonn) benannten sicherheits- und verteidigungspolitischen Aufgaben der EU zählen neben humanitären Rettungseinsätzen und militärischen Unterstützungshandlungen auch Kampfeinsätze beziehungsweise die Entsendung von Soldaten in Krisengebiete.
Die wichtigsten Erkenntnisse
Mit dem Vertrag von Lissabon wurde außerdem eine Beistandsklausel geschaffen. Hintergrund waren die Anschläge in Madrid 2004. Wenn ein EU-Mitglied angegriffen wird, „schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“. Eine derartige Verpflichtung widerspricht jedoch der österreichischen Neutralität. Daher wurde die sogenannte „irische Klausel“ eingefügt, derzufolge der „besondere Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten [gemeint sind in erster Linie die neutralen, Anm.] unberührt“ bleibt. Österreich ist damit gewissermaßen Trittbrettfahrer. Unter dieser Perspektive sieht man allgemein keinen Widerspruch zwischen Neutralität und Beistandsklausel: Wird Österreich angegriffen, müssen die nicht-neutralen EU-Mitgliedstaaten Unterstützung leisten. Umgekehrt ist Österreich nicht zur Hilfe verpflichtet, weil eben die österreichische Neutralität eine militärische Unterstützung im Kampf gegen andere Staaten nicht erlaubt.
Bei den 2004 verübten islamistischen Bombenanschlägen auf Madrider Züge wurden 191 Menschen getötet und 2.051 weitere verletzt.
Nach den Anschlägen von Paris im November 2015 rief Frankreich die Beistandsklausel aus. Außenminister Sebastian Kurz verkündete damals, dass es bei Terrorismus keine Neutralität gebe. Frankreich ging es primär jedoch nicht um den militärischen Beistand bei der Selbstverteidigung gegen den „Islamischen Staat“. Vielmehr sollten die übrigen EU-Mitgliedstaaten Frankreich bei seinen Auslandseinsätzen entlasten. Österreich erhöhte daraufhin die Anzahl seiner Soldaten in Mali und bot zusätzliche Hercules-Lufttransporte an.
Vor dem Hintergrund der gestiegenen Terrorgefahr wird die heutige Rolle der österreichischen Neutralität besonders deutlich. Terrorismus ist kein Krieg. Die Terrorismusbekämpfung richtet sich im Regelfall nicht gegen Staaten, sondern gegen Gruppierungen, die sich oft nur schwer erfassen lassen. Solange kein Staat dahintersteht, tritt die Neutralität in den Hintergrund. Damit begründete Österreich auch die Beteiligung an der Allianz gegen den „Islamischen Staat“. Diese flog auch Luftangriffe gegen die in Syrien gelegenen Stellungen, die ohne Einwilligung des syrischen Präsidenten Assad durchgeführt wurden. Eine militärische Beteiligung Österreichs stand dabei jedoch nicht im Raum. Also wurden auch keine neutralitätsrechtlichen Bedenken aufgeworfen.
Heinz Gärtner unterrichtet Internationale Politik an der Universität Wien, der Diplomatischen Akademie und der Donau-Universität Krems. Er ist einer der renommiertesten Fürsprecher der österreichischen Neutralität:
1994 rief die NATO die „Partnerschaft für den Frieden“ ins Leben. Damit wird eine Kooperation auch ohne Beitritt ermöglicht. In einigen Fällen (Tschechien, Kroatien, Polen) ist die Partnerschaft allerdings einem späteren Beitritt vorausgegangen. Derzeit gehören ihr 21 Länder an, neben Österreich (seit 1995) auch andere neutrale Staaten wie Finnland, Schweden und sogar die Schweiz. Wichtig bei der Einschätzung der Partnerschaft ist die Tatsache, dass sie jeweils unterschiedlich weit geht. Der Begriff der Partnerschaft darf also nicht überbewertet werden – seit 1994 besteht auch eine NATO-Partnerschaft mit Russland (sie liegt seit dem Ukraine-Konflikt jedoch auf Eis). Österreich kooperiert mit der NATO im Kosovo und in Afghanistan, außerdem stehen Truppen für weitere Einsätze bereit (eine Entsendung muss vom Ministerrat autorisiert und vom Hauptausschuss des Nationalrats genehmigt werden). Sowohl für die Präsenz im Kosovo als auch in Afghanistan bestehen aufgrund der jeweiligen Mandate der Vereinten Nationen keine neutralitätsrechtlichen Bedenken.
Das gilt nicht für die NATO-Luftangriffe auf Serbien 1999: Dafür lag keine Autorisierung des Sicherheitsrats vor. Deswegen wäre eine österreichische Beteiligung rechtlich nicht möglich gewesen.
An der Neutralität scheiden sich die Geister. In der Bevölkerung genießt sie jedenfalls nach wie vor einen hohen Stellenwert. Doris Bures von der SPÖ sprach im Rahmen des Nationalfeiertags 2016 von einem „Grundstein der Identität unseres Landes, ein Grundstein unserer demokratischen Republik“. Gleichzeitig wird sie oft angezweifelt und als überholt angesehen, die frühere „Standard“-Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid etwa bezeichnete sie schon 2007 als Mythos.
Österreich ist mittlerweile in ein dichtes Sicherheitsnetz eingebettet. Zwischenstaatliche Kriege sind zu einer Rarität geworden, die meisten Kriege finden innerhalb von Staaten statt. Terroristische Bedrohungen oder Konflikte wie in Syrien gelten wiederum nicht als Krieg im Sinne des Neutralitätsrechts. Faktisch wurde die Neutralität aufgrund der weltpolitischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in der Tat zunehmend bedeutungslos.