Fast jeder vierte Stellungspflichtige in Österreich ist untauglich.
Mitten im Sommer schlägt die ÖVP die Senkung der Tauglichkeitskriterien bei der Stellung vor – und erhält dafür mehr Applaus von Zivildienstorganisationen als vom Militär. So fordert die Partei die Einführung einer „Teiltauglichkeit“, die es bisher Untauglichen erlauben soll, einen eingeschränkten Innendienst beim Heer oder beim Zivildienst zu leisten. Seit die Zahlen der Stellungspflichtigen sinken und der Anteil der Tauglichen schrumpft, wird in Österreich debattiert, was dagegen unternommen werden kann. Dabei steht weniger das Bundesheer im Fokus als vielmehr das Sozial- und Gesundheitssystem, das – zumindest derzeit – in Bereichen wie dem Rettungswesen von Zivildienern aufrechterhalten wird.
Das ist keine Interpretation oder Mutmaßung. Als heuer im März die jüngsten Zahlen zu den Stellungspflichtigen bekannt wurden, schlugen nicht die Generäle des Bundesheers, sondern die Rettungsorganisationen öffentlichkeitswirksam Alarm. Denn viele Untaugliche bedeuten auch weniger Zivildiener. Allein das Rettungswesen lukriert pro Jahrgang 40 Prozent dieser sogenannten Wehrersatzdienstleistenden (mehr dazu: siehe Grafik).
Der deutsche Heeresexperte Carlo Masala hält den Plan des Herabschraubens von Tauglichkeitskriterien für nichtmilitärische Zwecke für fatal: „Die Tauglichkeitskriterien zu lockern, ist eine schlechte Entscheidung, weil sie junge Männer in die Armee bringt, die eigentlich nicht fit für diese Armee sind.“
Wir stellten ihm im Interview die Frage, ob die Wehrpflicht inzwischen dazu da sei, billige Arbeitskräfte zu beschaffen. Seine Antwort: „Zugespitzt formuliert: Ja.“ Masalas Befund über die österreichische Debatte fällt insgesamt kritisch aus. „Die Frage über die Zukunft der Wehrpflicht wird von Sozialpolitikern in Österreich in Geiselhaft genommen.“ Denn: „Die Tauglichkeitskriterien werden vor allem deswegen gelockert, damit man die Zivildienstleistenden bekommt, die man in Österreich braucht.“
Deutschland hat diese Debatte längst hinter sich. Auch dort warnte man vor dem Aussetzen der Wehrpflicht vor einem Mangel an Zivildienern. „Doch die Erfahrungen sind besser, als die Kritiker damals befürchtet haben.“ Der massive Einbruch in den sozialen Diensten sei ausgeblieben. Masalas Kernaussagen haben wir in der folgenden Animation zusammengefasst.
Das Ergebnis der Stellung ist die Wertungsziffer, landläufig bekannt als „Tauglichkeitsstufe“. Die Skala dieses Talente-Checks, bei dem die geistigen und körperlichen Stärken und Schwächen erfasst werden, reicht von 0 bis 9. Das Ergebnis „Tauglich“ erhalten Stellungspflichtige mit dem Wertungsziffer-Ergebnis zwischen 2 und 9.
Ab der Wertungsziffer 7 besteht die Möglichkeit, bei der Militärpilotenauswahl teilzunehmen.
Wer die Wertungsziffer 1 erreicht, ist „Vorübergehend Tauglich“. Das heißt, dass der Stellungspflichtige aufgrund eines medizinischen oder psychologischen Problems eine Beobachtungsfrist erhält. Nach dieser erfolgt eine neuerliche Stellung. Mit der Wertungsziffer 0 ist man „Untauglich“, muss weder Wehr- noch Zivildienst leisten.
Das Bundesheer selbst sieht den ÖVP-Plan kritisch, verweist darauf, dass laut Erkenntnissen des Verwaltungsgerichtshofs eine „Teiltauglichkeit“ rechtlich nicht möglich sei. Vereinfacht gesagt muss demnach ein Stellungspflichtiger für die militärische Ausbildung und den militärischen Dienst geeignet sein, um überhaupt tauglich zu sein. Im Gerichtserkenntnis heißt es:
„Der Dienst im Bundesheer umfasst jedenfalls eine militärische Komponente […] Dies bringt die Anforderung mit sich, dass der Betreffende jedenfalls eine Waffe bedienen und ein gewisses Mindestmaß an Kraftanstrengung und Beweglichkeit entwickeln kann.“
Unabhängig davon läuft derzeit im Bundesheer ein interner Evaluierungsprozess der Tauglichkeitskriterien – mit offenem Ergebnis.
Fast jeder vierte Stellungspflichtige in Österreich ist untauglich.
Die Datenlage: Im Bundesschnitt beträgt der Anteil der Untauglichen 24,4 Prozent. Das zeigt die aktuelle Detailauswertung des Verteidigungsministeriums zum Geburtsjahrgang 1998. Demnach waren von den 40.500 Stellungspflichtigen 30.600 Männer tauglich, 9.900 untauglich.
Die Zahl dieser knapp 10.000 Untauglichen bleibt zwar seit Jahren relativ konstant, doch insgesamt sinkt die Zahl der Stellungspflichtigen aufgrund von geburtenschwachen Jahrgängen. So umfasste der Geburtsjahrgang 1985 noch 46.793 Stellungspflichtige, beim 2001er-Jahrgang waren es nur noch 37.007.
Dazu kommt, dass dass sich in den vergangenen zehn Jahren der Anteil an Geburten mit ausländischer Staatsbürgerschaft fast verdoppelt hat und bei mittlerweile 20 Prozent der Gesamtzahl liegt.
Hauptgründe für die Untauglichkeit sind laut Bundesheer der Lebensstil der jungen Männer und Umwelteinflüsse, genannt werden in diesem Zusammenhang Bewegungsarmut, Allergien, Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparats sowie der inneren Organe, eingeschränkte Sehkraft und Hörvermögen sowie psychische Ursachen.
Eine Anfragebeantwortung vom damaligen Verteidigungsminister Kunasek von Mai 2018 zeichnet ein etwas konkreteres Bild: Bei Stellungspflichtigen, die aufgrund einer einzelnen Krankheit untauglich sind, steigt die Anzahl der Diagnosen im Bereich „Psychische und Verhaltensstörungen“ sowie im Bereich „Ernährungs- und Stoffwechselerkrankungen“ seit dem Jahr 2007 leicht an. Starkes Übergewicht kann ebenfalls ein Untauglichkeitsgrund sein: Zuletzt (im Jahr 2017) schieden aufgrund von Adipositas 1.194 junge Männer aus dem System aus. Das waren 2,54 Prozent aller Stellungspflichtigen. Zum Vergleich: Österreichweit sind rund 16 Prozent der Erwachsenen fettleibig (Body-Mass-Index über 30), am häufigsten sind Männer im Alter zwischen 55 und 74 Jahren von Adipositas betroffen.
Nach Bundesländern betrachtet gibt es teils große Unterschiede. Vorarlberg hat sozusagen die gesündesten jungen Männer, nämlich nur 20 Prozent Untaugliche. Die Hauptstadt im Osten liegt am anderen Ende der Skala: Wien ist mit einem Anteil von 28 Prozent nicht wehrfähiger Männer klares Schlusslicht.
Gesundheitsstatistiker wie jene vom Institut für Sozialmedizin der MedUni Wien erkennen seit Jahren ein generelles Ost-West-Gefälle in Österreich. Je weiter man im Osten lebt, desto höher sind etwa die Mortalitätsraten in Bezug auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen – die damit verbundenen bekannten Risikofaktoren sind Übergewicht, Bluthochdruck, körperliche Aktivität bzw. Inaktivität. Auch sind generell Menschen im Westen sportlicher als jene im Osten.
56,1 Prozent der Stellungspflichtigen (17.200 Männer) melden sich aktuell zum Grundwehrdienst und 43,9 Prozent (13.400) zum Zivildienst. Die Zivildienstmeldungen gehen seit 2015 generell leicht zurück.
Heute gibt es bezüglich Entscheidung für das Heer oder den Zivildienst große regionale Unterschiede: Nur in Wien und Vorarlberg entscheiden sich noch mehr Taugliche für den Zivildienst und gegen das Militär.
So ist in der Hauptstadt der Anteil der Wehrdiener mit 46,5 Prozent am geringsten. Ganz im Gegensatz zu Kärnten, wo sich fast drei Viertel der jungen Männer für das Bundesheer entscheiden.
Und dennoch: Einer jener, die von Anfang an der Überzeugung waren, dass in der Adaptierung der Tauglichkeitskriterien der Schlüssel zum Erfolg liegt, ist Gottfried Hirz. Hirz ist Klubobmann der oberösterreichischen Grünen, selbst ehemaliger Zivildiener und bis heute beim Roten Kreuz engagiert. Er forderte schon im Frühling die türkis-blaue Bundesregierung auf, Untaugliche zum Zivildienst zuzulassen. Außerdem regt er unterschiedliche Tauglichkeitskriterien für Zivildienst und Heer an.
„Ich glaube, dass junge Männer, die nicht die Tauglichkeit für den Dienst an der Waffe ausgestellt bekommen, trotzdem hervorragende Zivildiener sein können. Es kann doch nicht sein, dass manche Männer keinen Zivildienst machen können, weil sie eine Gluten-Unverträglichkeit haben“, sagt er im Interview mit uns.