Wer die heutige Drogenpolitik des Innenministeriums verstehen will, muss zumindest bis ins Jahr 2011 zurückgehen. Die damalige ÖVP-Inneministerin kündigte in ihrem ersten Amtsjahr eine restriktive Drogenpolitik der Regierung an: mit dem Ziel, „erstauffälligen“ Konsumenten „wirkungsvollen Schutz vor einer Drogenkarriere zukommen zu lassen“. Dahinter stand die Vision einer (möglichst) drogenfreien Gesellschaft, wie sie in einem Interview mit der Tageszeitung Der Standard offen einräumte.
Mikl-Leitners Sorgen galten besonders dem (Erst-)Konsum von Cannabis, das sie auch als Einstiegsdroge bezeichnete. Dabei handelte es sich um mehr als ein bloßes Lippenbekenntnis – seit Bekanntgabe ihrer Antidrogenstrategie Ende 2012 wurde jedes Jahr mehr Cannabis sichergestellt, auch die Anzeigen sind stark gestiegen.
Der tatsächliche Nutzen dieser Anstrengungen steht jedoch auf einem anderen Blatt – die Zahl der Konsumenten hat sich dem aktuellen Bericht zur Drogensituation zufolge seit 2004 nicht wesentlich verändert.
Der Bericht zur Drogensituation geht davon aus, dass 24 Prozent der 15- bis 64-Jährigen zumindest „Konsumerfahrungen“ gemacht haben, bei den 15- bis 24-Jährigen sind es sogar 35 Prozent. Dabei stellt sich allerdings die Frage, inwiefern man Selbstauskünften bei derartigen Themen vertrauen kann. Vor allem ältere Personen können dazu neigen, ihre Drogenvergangenheit zu verschleiern. Eine andere Quelle (die Bevölkerungserhebung zu Substanzgebrauch 2015) schätzt den Anteil derjenigen, die zumindest einmal in ihrem Leben Cannabis konsumiert haben, daher sogar auf 33 bis 50 Prozent der österreichischen Bevölkerung.
Inwiefern man hier mit der Kriminalisierung von Erstkonsumenten etwas erreicht, ist fraglich. Allgemein wird Cannabis in Österreich dieser Erhebung zufolge äußerst unregelmäßig konsumiert, oft beschränkt er sich überhaupt nur auf einmaliges Probieren. Lediglich fünf Prozent der Befragten gaben an, im vergangenen Jahr Cannabis konsumiert zu haben. Der Anteil derer, die in den letzten 30 Tagen Gras geraucht haben, lag überhaupt nur bei zwei Prozent.
Der Cannabismarkt zeigt kein einheitliches Bild: Manche versorgen sich durch Eigenanbau selbst, bisweilen geben sie ihr Cannabis auch einem kleineren Personenkreis weiter. In den vergangenen Jahren ist außerdem der Erwerb über das sogenannte Darknet stark gestiegen. Zuletzt bleibt der Straßenverkauf.
Auch wenn die Kriminalstatistik zu Drogendelikten einen hohen Anteil ausländischer Staatsangehöriger ausweist, zeigt sich eine maßgebliche Ausnahme: Beim Betrieb von „Cannabisplantagen“ sind österreichische Staatsangehörige führend.
Ermöglicht wird das auch durch die Rechtslage: Der Anbau von Hanfpflanzen ist nämlich erlaubt. Beratung und Kauf in Sachen Cannabis-Samen und -Stecklinge gibt es in „Grow Shops“, die oft selbst zahlreiche Hanfpflanzen in ihrer Auslage stehen haben. Strafrechtlich relevant wird der Verkauf und der Anbau erst, wenn die Absicht verfolgt wird, damit Suchtmittel herzustellen – also sobald die Pflanzen das psychotrope THC tragen.
Diese Regelung möchte die Regierung bald kippen. Das Regierungsprogramm nennt bei den angedachten Reformen im Strafrecht ausdrücklich ein Verbot des Verkaufs von Hanfsamen und Hanfpflanzen. Private Anbauer werden es künftig also wesentlich schwieriger haben.
Unter der bestehenden Regelung wurden im Vorjahr österreichweit jedenfalls 948 Cannabisplantagen ausgehoben, die meisten (208) davon in Niederösterreich, gefolgt von Oberösterreich (184) und Wien (142). Der überwiegende Teil im Vorjahr wurde innerhalb geschlossener Räume betrieben, meist handelte es sich um „Micro“- oder „Mini“-Plantagen“ mit bis zu 49 Pflanzen.
Auffliegen können derartige Plantagen etwa durch Meldungen von Nachbarn, denen die Pflanzen und/oder der cannabistypische Geruch auffällt (in Foren gibt es rege Diskussionen darüber, wie man ihn eindämmen kann). Daneben kann der Anbau auch über den jeweiligen Stromversorger auffliegen – schließlich braucht der Anbau eine starke Beleuchtung, die sich in den Stromkosten niederschlägt. Ein außergewöhnlich hoher oder sprunghaft ansteigender Energieverbrauch macht also verdächtig. Manche setzen ihre Samen in der Hoffnung, dass es niemandem auffällt, auch einfach in Wäldern aus.
Daneben ist es in den vergangenen Jahren immer leichter geworden, Cannabis (oder auch andere Drogen) online zu kaufen – Stichwort „Darknet“. Europaweit dürfte der Drogenverkauf gute zwei Drittel des Angebots und Umsatzes im Darknet einnehmen, Cannabisprodukte nehmen auch hier vor Heroin und Kokain die Spitzenposition ein.
Der Einstieg ins Darknet erfolgt über einen eigenen Browser, der die Information entsprechend verschlüsselt. Dort kommt es zur direkten und anonymen Kontaktaufnahme mit Verkäufern (zwecks Preisverhandlung und Art der Übergabe etwa), die Bezahlung erfolgt über Kryptowährungen wie Bitcoin – Schätzungen gehen davon aus, dass etwa die Hälfte aller Bitcoin-Transaktionen im Zusammenhang mit illegalen Aktivitäten erfolgen. Die Zustellung erfolgt oft auf dem Postweg. Wie der Suchtmittelbericht einräumt, hat die Polizei mit der Bekämpfung dieser Transport- und Handelsflüsse ihre liebe Mühe und Not. Experten fordern ein europaweites beziehungsweise weltweites Ende der Anonymität von Bitcoin-Transaktionen.
Bleibt die undankbarste Quelle für den Erwerb von Cannabis: das Kaufen vom kleinen Dealer im öffentlichen Raum. Das bringt entsprechendes Risiko mit sich, erwischt zu werden. Außerdem ist dort die Qualität wesentlich geringer als bei Eigenanbau oder dem Erwerb über das Darknet.
Die einschlägigen Umschlagplätze sind hinlänglich bekannt, Wien nimmt dabei eine Schlüsselstelle ein. Von hier aus gelangt Cannabis in andere Bundesländer (der Suchtmittelbericht nennt etwa ein nach Tirol reichendes Netzwerk afghanischer Asylwerber). Was früher der Sigmund-Freud-Park (dieser Umschlagplatz besteht seit der vieldiskutierten „Operation Spring“ nicht mehr) oder der Stadtpark war, sind heute der Bereich rund um einige Haltestellen der U6 und der Franz-Josefs-Kai, in Graz wiederum sind es bestimmte Parkanlagen.
Das Bundeskriminalamt skizziert den Ablauf eines Straßenkaufs folgendermaßen: An den Umschlagplätzen selbst findet üblicherweise (nur) die Geschäftsanbahnung statt. Der tatsächliche Verkauf erfolgt in nahe gelegenen kleineren Gassen, oft in Wohnhäusern, über die der Verkäufer mit einem Postschlüssel oder auf sonstige Art und Weise Zutritt hat. Dort sind oft größere Mengen Cannabis gelagert (damit vermeidet der Verkäufer, diese ständig bei sich zu tragen, was das Strafmaß erheblich erhöhen würde).
Den typischen Konsumenten gibt es dabei nicht, Cannabis wird laut dem aktuellsten Lagebericht Suchtmittelkriminalität des Bundeskriminalamts quer durch alle Gesellschafts- und Altersschichten konsumiert. Die bereits genannte Bevölkerungserhebung zeigt jedoch gewisse Tendenzen: Männer, Stadtmenschen und Menschen mit höherem Bildungsgrad kommen eher mit Cannabis in Berührung.
Erste Cannabis-Erfahrungen macht man außerdem wenig überraschend meist in jungen Jahren. Wer bis 30 kein Cannabis konsumiert hat, wird es wohl auch später nicht mehr tun. Auch der aktive Konsum ist bei Menschen in ihren frühen 20ern am häufigsten, mit der Übernahme von beruflicher und familiärer Verantwortung nimmt er wieder ab.
Der Konsum selbst erfolgt zumeist im privaten Bereich. Obwohl nicht nur der Zug am Joint, sondern sogar die bloße Weitergabe strafrechtlich relevant ist, werden diese Handlungen übrigens oft als Kavaliersdelikt wahrgenommen – der Lagebericht Suchtmittelkriminalität lamentiert in diesem Zusammenhang gleich zweimal „fehlendes Unrechtsbewusstsein“.
Unabhängig davon ist es für Konsumenten, Händler und Produzenten in den vergangenen Jahren wesentlich ungemütlicher geworden. Während es 2008 nur 15.063 Anzeigen im Zusammenhang mit Cannabis gab, wurde 2013 erstmals die 20.000-Marke überschritten. Seither hat sich die Zahl jedes Jahr weiter erhöht, 2017 wurde mit 34.686 Anzeigen ein neuer Rekord erreicht – das ist die überwiegende Mehrheit aller Anzeigen im Drogenbereich.
Diese Zahlen sind freilich mit Vorsicht zu genießen: Wir wissen lediglich, dass die meisten Anzeigen wegen „unerlaubten Umgangs mit Suchtgift“ erfolgen. Diese Bestimmung im Suchtmittelgesetz ist allerdings sehr breit, umfasst sie doch den Erwerb, Besitz und auch die Weitergabe von Cannabis. Wie viele der Anzeigen auf Konsumenten und wie viele auf Händler entfallen, lässt sich daher nicht sagen. Bei den Verurteilungen unterscheiden die Zahlen außerdem nicht zwischen den einzelnen Drogenarten.
Dazu kommt es allerdings oft gar nicht. Mittlerweile hat die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine strafrechtliche Verfolgung von Suchtmittelkonsumenten im Regelfall keine positiven Effekte erzielt. Daher gilt der Grundsatz „Therapie statt Strafe“: Wenn jemand Cannabis nur für den eigenen Gebrauch oder den persönlichen Gebrauch von jemand anderem erwirbt (ohne dadurch einen Vorteil zu erzielen), wird von der Strafverfolgung abgesehen, wenn der Betroffene sich untersuchen lässt und sich gegebenenfalls einer Therapie unterzieht.
Ein ähnliches Bild zeigt sich auch bei den Beschlagnahmungen von Cannabisprodukten. 2017 wurden rund 1,7 Tonnen sichergestellt, die Mengen anderer Drogen sind ungleich geringer. Zum Vergleich: Vergangenes Jahr wurden 70 Kilo Heroin, 71,4 Kilo Kokain, 446.465 Stück Ecstasy, 50,3 Kilo Amphetamin und fünf Kilo Methamphetamin sowie 633,5 Kilo Khat – ein vor allem am Horn von Afrika (Somalia) oder der arabischen Halbinsel angebauter Strauch, der in seinen Zweigspitzen und Blättern verbotene Substanzen enthält, weswegen der Handel strafbar ist – sichergestellt (wobei man natürlich die Unterschiede hinsichtlich Wert, Wirkung und Intensität dieser Drogen bedenken muss).
Das entspricht dem europaweiten Trend. In Europa entfallen 40 Prozent der sichergestellten Drogen auf Cannabiskraut, bei Cannabisharz sind es 29 Prozent, erst weit abgeschlagen folgen Kokain und Crack mit neun Prozent, Amphetamine mit fünf Prozent und MDMA mit drei Prozent.
Dieses Kürzel steht für Methylendioxy-Methylamphetamin. Es handelt sich um die bekannteste Form von Ecstasy, ursprünglich wurde überhaupt nur MDMA als Ecstasy bezeichnet.
Vor zehn Jahren wurden also noch gute 383 Kilogram Cannabis weniger sichergestellt (gleichzeitig waren es 40 Kilo mehr Heroin und sieben Kilo mehr Kokain).
Für den starken Anstieg gibt es drei Erklärungen: Zum einen hat sich die Rechtslage seit damals geändert, zuletzt hat insbesondere das erleichterte Vorgehen gegen Dealer im öffentlichen Raum zu mehr Anzeigen geführt. Hinzu kommt, dass Drogen heute leichter verfügbar sind denn je, vor allem über das Darknet. Die entscheidende Erklärung liegt aber vornehmlich darin, dass das Innenministerium die Anstrengungen bei der Bekämpfung des Drogenmarkts intensiviert hat. So wird betont, dass es sich bei Tathandlungen im Drogenbereich um „Kontrolldelikte“ handelt – je mehr Ressourcen in die Bekämpfung der Drogenkriminalität eingesetzt werden, desto mehr Anzeigen und Beschlagnahmungen. Wer suchet, der findet also.
Mit „Darknet“ bezeichnet man einen schwer zugänglichen Bereich des Internets, wo unter anderem verbotene Substanzen gehandelt werden.
Die These, dass Cannabis eine Einstiegsdroge darstellt, gilt als umstritten. Sie scheint aber ein Eckpfeiler der Strategie bei der Bekämpfung von Drogen zu sein. Ob diese Strategie erfolgreich war und ist, darf bezweifelt werden. Die Zahl der Menschen, die Cannabiserfahrungen machen, hat sich seit Jahren nicht verändert, den Daten nach ist sie nur unwesentlich leicht gestiegen – und das trotz strengerer Kontrollen und mehr Anzeigen. Gleichzeitig konsumieren die meisten Menschen Cannabis entweder nur einmal oder nur über einen kurzen Zeitraum. Der Bericht zur Drogensituation 2017 betont in diesem Zusammenhang ausdrücklich, dass nur ein äußerst kleiner Anteil der Konsumenten, die erwischt wurden und sich einer Untersuchung unterzogen haben, einer Behandlung bedarf. Das Innenministerium muss sich die Frage nach dem Sinn seines „War on Cannabis“ gefallen lassen.