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Ein Land rüstet auf: Wie viel Beatmung braucht Österreich?
19. Mai 2020 Coronavirus Lesezeit 8 min
Mit den Bildern aus Italien stieg die Nachfrage nach Beatmungsgeräten. Öffentlicher Druck, behauptete Engpässe und berechtigte Sorgen befeuerten den Prozess. Die Republik investierte Millionen Euro, um auf der sicheren Seite zu sein. Nur: Wurde da auch Geld verschwendet?
Dieser Artikel gehört zum Projekt Coronavirus und ist Teil 83 einer 106-teiligen Recherche.
Bild: James Tye | AFP

Frühling 2020 in Österreich. Es ist Ende März, als die Balken in den unzähligen Corona-Dashboards auf allen möglichen Kanälen und Webseiten am höchsten klettern. Wieder ein Spitzenwert an Neuinfektionen, wieder mehr Tote. Anfang April schließlich erreicht die Zahl der akut an COVID-19 erkrankten Personen ihren Höchststand (3.4.: 9.193 Fälle). Fünf Tage später verzeichnen die Intensivstationen der Spitäler ihre maximale Auslastung mit Corona-Fällen:

2.159 Intensivbetten bundesweit meldet das Gesundheitsministerium damals in Aussendungen und Pressekonferenzen. Etwas mehr als 1.000 stünden exklusiv Corona-Patienten zur Verfügung. 267 davon waren tatsächlich belegt. Zu keinem Zeitpunkt waren es mehr, bisher zumindest nicht.

Seit dem Herunterfahren des Landes und jenen Teilen des Gesundheitssystems, die nicht mit der Versorgung von COVID-Patienten zu tun haben, haben Millionen von Österreichern gelernt, welche zentrale Ressource die Regierung mit den freiheitsbeschränkenden Maßnahmen (erfolgreich) schützen wollte: die beschränkt verfügbaren Intensivbetten in den Spitälern, oder noch präziser: Beatmungsplätze.

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Geringe Auslastung, viele Neukäufe

Wenige Wochen nach der Akutphase der ersten Pandemiewelle drängt sich nach einem Blick in Unterlagen der Krisenstäbe und Zuschlagsentscheidungen für Aufträge eine Frage auf: Verlief der Einkauf mit Augenmaß? In der Nachschau ergibt sich nämlich ein Bild, wonach Bund und Länder viele Millionen Euro – die genaue Summe ist unklar – für Beatmungsgeräte ausgegeben haben, deren Bedarf selbst zu Hochzeiten der Erkrankungswelle nicht gegeben war. Und für die vermutlich nicht ausreichend Fachpersonal zur Verfügung stand.

Man kann die Frage auch noch etwas kritischer formulieren: Wurde da Geld verschwendet? Geld, das in den nächsten Monaten und Jahren anderswo dringend gebraucht wird.

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Pamela Rendi-Wagner
Pamela Rendi-Wagner. SPÖ-Chefin und Medizinerin mit Fachkenntnis in Epidemiologie und Public Health.

2.159 Intensivbetten. 267 davon zu Spitzenzeiten mit COVID-19-Patienten belegt. Nur zweieinhalb Wochen vor diesem Spitzenwert, am 15. März, tritt SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner um 9.47 Uhr im Nationalratssaal ans Rednerpult. Es ist der Sonntag vor Inkrafttreten der Ausgangsbeschränkungen. Die Volksvertretung ist zu einer Sondersitzung zusammengetreten, um die rechtlichen Grundlagen dafür zu schaffen.

Rendi-Wagner ist nicht nur Politikerin. Sie ist Medizinerin und Expertin für Public Health und Infektionsepidemiologie, war vor ihrer Karriere als Spitzenbeamtin und Politikerin dazu auch wissenschaftlich tätig. In ihrer Rede im Nationalrat steht sie unter dem Eindruck dramatischer Bilder aus Italien, sagt, dass man alles tun müsse, damit sowas nicht auch in Österreich passiere. Und dann: „Es ist nötig, die Spitäler aufzurüsten. Mit Beatmungsgeräten.“

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Beatmung bei COVID-19, Variante 1: Zusätzliche Gabe von Sauerstoff über eine sogenannte Nasenbrille, meistens in Kombination mit einem Mund-Nasen-Schutz, um das Infektionsrisiko zu minimieren.

„In zehn Tagen am Limit“

Zwei Wochen später wiederholt Rendi-Wagner ihre Forderung, erhöht den Druck auf die Bundesregierung, wird deutlich. Dieses Mal im „Roten Foyer“ des Parlamentsklubs ihrer Partei. Das „Social Distancing“ der letzten Wochen, sagt sie, habe nicht ausgereicht, um die Überlastung der Spitäler mit Sicherheit zu verhindern. Wieder fordert sie deshalb mehr Beatmungsgeräte, eine zentrale, effiziente Beschaffung von Bund und Ländern, denn: „Wenn die Ausbreitungsgeschwindigkeit anhält, dann wissen wir, dass wir in etwa zehn Tagen an das Limit für Beatmung kommen werden.“

Ob es Rendi-Wagners wiederholte Forderung war, die Bilder aus Italien, aus Frankreich, oder ob die Entscheidung womöglich gänzlich andere Gründe hatte: Aufträge für die Lieferung von Beatmungsgeräten wurden dieser Tage im Gesundheitsministerium und in den Bundesländern in rauen Mengen vergeben. In Mengen, deren Sinn Experten wie – zum Beispiel – der Wiener Medizingerätetechniker Hermann Gilly (AKH) kritisch sehen. Und auf eine Art und Weise, die weit weniger geordnet erscheint als die täglichen, live im Fernsehen übertragenen Pressekonferenzen der Bundesregierung.

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Bis zu 25.000 Euro pro Stück

745 Stück. So hoch bewertete das Gesundheitsministerium den kurzfristigen Zusatzbedarf an Beatmungsgeräten. So steht es in Addendum vorliegenden Dokumenten eines mit der Corona-Krise betrauten Führungsgremiums der Republik. 90 Prozent davon sind laut den Unterlagen bereits bestellt. Kosten je nach Verwendungszweck und Hersteller: zwischen 11.000 und 25.000 Euro pro Stück.

Abgesehen davon, dass zu Spitzenzeiten nur etwas mehr als jedes zehnte Intensivbett mit einem COVID-Patienten belegt war, wussten Österreichs Gesundheitsbehörden offenbar zu keinem Zeitpunkt verlässlich darüber bescheid, wie groß die Kapazitäten tatsächlich waren. Es sieht so aus, als ob der Millioneninvestition kein solides Wissen über das Lagebild zugrunde lag. Dafür gibt es zumindest Indizien.

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Beatmung bei COVID-19, Variante 2: Bei sogenannter CPAP-Beatmung wird die Lunge des Patienten mit leichtem Überdruck gebläht. Das erleichtert die Atmung, die noch selbstständig erfolgt.

Am 30. März, jenem Tag, an dem Rendi-Wagner zum zweiten Mal mehr Beatmungsgeräte forderte, meldete das Gesundheitsministerium für ganz Österreich einen Bestand von 2.584 Stück. Nur einen Tag später stieg diese Zahl nach Medienrecherchen und Presseaussendungen der Länder plötzlich auf 3.478. Das entspricht einem plötzlichen Anstieg von immerhin 35 Prozent. In einer Zeit, in der eine deutliche höhere Intensivkapazität bedeutend gelindere Maßnahmen und damit erheblich geringere Kollateralschäden in Wirtschaft und Gesundheitssystem ermöglicht hätte, war das keine Kleinigkeit.

Losgelöst davon, wie schlüssig die plötzlich nach oben revidierten Zahlen waren (Beispiel: Allein Wien wies mit einem Schlag 1.058 statt zuvor 367 Beatmungsplätze aus): So manche Entscheidung zu Neuanschaffungen erfolgte wohl zwangsläufig im Blindflug. Vermutlich stets in guter Absicht, aber auch für Krisenlagen nicht optimal. Denn:

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Unabhängig von den Planungen und Annahmen der Bundesregierung drängten auch die Bundesländer in Eigenregie auf den Markt für Beatmungsgeräte, trafen Annahmen zum Bedarf, holten – formal – Angebote ein und bestellten. Die Zahlen zeigen: ebenfalls in bedeutenden Mengen.

All diesen abgeschlossenen Verträgen ist gemein, dass praktisch kein Wettbewerb bestand. Obwohl aufs Land verteilt mehrere Lieferanten und Hersteller für diese hochspezialisierten Medizinprodukte verfügbar wären, lag stets nur jeweils ein Angebot vor.

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Beatmung bei COVID-19, Variante 3: Bei vielen Patienten reicht die Unterstützung der eigenen Atmung nicht mehr aus. Dann bekommen sie ein Röhrchen in die Luftröhre (Intubation), über das das Atemgas in die Lunge strömt.

Bund und Bundesländer: Jeder für sich

Das kleine Vorarlberg investierte im Zuge der COVID-Krise 419.294 Euro, was bei durchschnittlicher Preisgestaltung etwa 20 Geräten entspräche. Die Steiermark zahlte 1,22 Millionen Euro (ca. 60 Geräte) an einen Lieferanten. In Salzburg konnten wir Vergaben in der Höhe von 1,95 Millionen Euro dokumentieren, wobei nach Auskunft der regionalen Landeskliniken ein größerer Auftrag wegen Lieferschwierigkeiten storniert werden musste. Wirksam wurden dort Bestellungen in Höhe von 1,25 Millionen Euro. Von den übrigen Bundesländern konnten wir keine exakten Bestellsummen erheben.

Aber wie ermittelten die Gesundheitsbehörden nun ihren Bedarf? Das Gesundheitsministerium beantwortete unsere Fragen im Lauf einer Woche trotz wiederholtem Ersuchen nicht. Die Salzburger Landeskliniken hingegen machten das sofort. Demnach wurde die Summe der zu beschaffenden Geräte auf der Grundlage von „Erfahrungen in China, Italien und Frankreich“ und mit den Rechenmodellen der Krisenstäbe von Gesundheitsministerium und Land erhoben. Geräte, die nun zu viel seien, würden jedenfalls für künftige Krisensituation vorgehalten.

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Ein Arzt beim Kalibrieren eines Beatmungsgeräts.

Kritik an „Quereinsteigern“

Und trotzdem: Personen, die jahrzehntelange und vor allem praktische Erfahrung mit Beatmungsmaschinen haben, zweifeln an der Sinnhaftigkeit des Plans der Massenbestellungen. Eine dieser Personen ist Hermann Gilly. 40 Jahre lang war er im Wiener AKH als Physiker und biomedizinischer Techniker im Bereich der Anästhesie tätig. Er war Professor, forschte und lehrte zur hochkomplexen Medizintechnik.

Heute sagt er: Um COVID-19-Patienten einen längeren Zeitraum beatmen zu können, braucht es Infusionspumpen für unterschiedlichste Medikamente, spezielle Betten, um die Kranken fachgerecht lagern und umlagern zu können, eine Vielzahl weiterer Maschinen und vor allem: Personal. „Dieses Personal“, sagt Gilly, „sehe ich aber nicht.“

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Medizinisches Personal behandelt einen deutschen Patienten mit einem Beatmungsgerät.

Andere Dinge seien klarer erkennbar: Wildwuchs. Und zwar bei Marktneulingen. In den vergangenen Wochen und Monaten drängten weltweit Forschungseinrichtungen und Unternehmen auf den Markt, die vorher nichts bis wenig mit der komplexen Beatmungstechnik zu tun hatten. Gilly zeigt durchaus Respekt für deren Leistungen. Dennoch: „Ich wehre mich gegen Schnellschüsse und dagegen, dass man solche Entwicklungen der Bevölkerung nun so verkauft, als hätte man das Rad neu erfunden.“

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Keine Zertifikate, keine Prüfverfahren

Beatmungsgeräte sind Medizinprodukte. Für solche gibt es europaweit strenge Regeln. Bevor die für den Betrieb notwendigen Zertifikate überhaupt ausgestellt werden dürfen, sind aufwendige Prüfverfahren zu absolvieren. Zahlreiche Teilsysteme müssen ausfallsicher, also doppelt (redundant) vorhanden sein.

Auch in Österreich wurden zuletzt zwei schnelle Entwicklungen der Öffentlichkeit vorgestellt (hier und hier). Zum Teil mit Unterstützung aus der Politik. Zweifellos, urteilt Hermann Gilly, handle es sich dabei um beachtenswerte Entwicklungsleistungen. „Echte Beatmungsgeräte können und dürfen sie dennoch nicht ersetzen.“

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Viel PR, wenig Brauchbares?

Während sich Regierungen und Medien im Panikmodus befanden, schafften es dennoch alle möglichen neuen Projekte in die Nachrichten, die mit Beatmungsgeräten auf Intensivstationen faktisch wenig zu tun haben. Donald Trump befahl General Motors in die Produktion einzusteigen, in Afghanistan engagierten sich technisch versierte Jugendliche und auch Unternehmen wie Tesla, Dyson und Foxconn stiegen öffentlichkeitswirksam in das Geschäft ein.

Allerdings dürfte es einen Grund haben, dass die Hersteller von Beatmungsmaschinen (Dräger, Getinge, Hamilton etc.) ihr Wissen im Lauf von Jahrzehnten aufgebaut haben und nicht innerhalb weniger Wochen. Ein starkes Indiz dafür lieferte das Scheitern eines Projekts mehrerer Formel-1-Teams. Ein britischer Verbund von Motorsport-Unternehmen, in denen hochqualifizierte Ingenieure arbeiten, schaffte es zwar, ein Basisgerät zu entwickeln, laut Medizinern erwies es sich letztlich für den Einsatz am Patienten als unbrauchbar.

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Invasive Beatmung ist fürs Überleben zu wenig.
Christoph Hörmann, Intensivmediziner

Kritiker werden kaum gehört

Dennoch wurden und werden kritische Stimmen wie jene von Hermann Gilly kaum gehört. Ganz ähnlich erging es Niklas Kuczaty, der in Deutschland die Arbeitsgemeinschaft Medizintechnik im Maschinenbauverband VDMA leitet. Quereinstieg im Bereich Hightech-Medizin? „Bei Produkten wie einem Beatmungsgerät halte ich das nicht für realistisch“, zitierte ihn die Deutsche Presseagentur.

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All das beschreibt die technische Seite ganz gut. Eindrücke von der medizinischen Situation vermittelt ein Gespräch mit Christoph Hörmann. Der Anästhesist und Intensivmediziner leitet im Universitätsklinikum St. Pölten die entsprechende Abteilung und hat im Lauf der vergangenen Wochen die unterschiedlichsten COVID-19-Patienten gesehen. Anfangen bei jenen, bei denen zusätzlicher Sauerstoff zur Unterstützung reichte, bis hin zu Fällen, in denen nur noch der Einsatz eines ECMO-Geräts, und damit die Anreicherung des Bluts mit Sauerstoff außerhalb des Körpers, half.

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Christoph Hörmann
Primar der Intensivmedizin am Universitätsklinikum St. Pölten, spezialisiert auf Beatmung

Auch Herz, Hirn oder Nervensystem betroffen

Hörmann sagt: „Es ist nicht geholfen, wenn man sehr viele Beatmungsgeräte kauft.“ Beatmung therapiere COVID-19 nämlich nicht. Sie überbrücke nur. Und auch nur Probleme bei der Sauerstoffzufuhr. „Die invasive Beatmung der Lunge alleine“, so der Intensivmediziner, „ist für das Überleben zu wenig.“

Das neue Coronavirus könne nämlich auch weitere Organe (Herz, Gehirn, Leber, Niere) befallen. Dann brauche es zusätzlich Medikamente und Therapien wie Kontrolle von Kreislauf und Blutgerinnung oder eine Nierenersatztherapie. Zwar sieht Hörmann die Personalsituation nicht so kritisch wie Hermann Gilly, aber: Wenn COVID-Kranke Beatmung bräuchten, dann meistens lang. Und damit automatisch Intensivmediziner und Pflegepersonal mit Beatmungserfahrung. „Solche Leute kann man nicht im Schnellsiedekurs dazu ausbilden.“

Auf die Schnelle Beatmungsgeräte kaufen kann man hingegen schon. Während der Spitzenzeiten der Pandemie entstand so stellenweise der Eindruck, dass Politik und Behörden zumindest aktiv sind. Auch Hörmanns Arbeitgeber, die Niederösterreichische Landeskliniken Holding, kaufte neue Geräte zu. Ausschließlich Geräte, die in den bestehenden Gerätepark passen. So können diese in Zukunft, selbst wenn sie jetzt nicht gebraucht werden, zumindest nahtlos als Ersatzgeräte genutzt werden. Oder im Zuge einer zweiten Welle. Falls sie kommt. 

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