„Ich kann nicht lange gehen, ich kann nicht lange sitzen, der Fuß schläft mir ständig ein“, sagt Alexander B. (Name geändert). Aber das Schlimmste sind die Schmerzen. „Ich bin mittlerweile auf Opiaten, und die helfen nichts mehr.“ Im vergangenen Jahr hatte er eine Bandscheibenoperation, aber danach wurde nichts besser. Im Jänner waren die Schmerzen so schlimm, dass er zehn Tage im Spital lag.
Er hat ein MRT, das einen Riss von 5 bis 6 Millimetern zeigt, der auf die Nervenwurzel drückt. Der hätte nun verödet werden sollen; in der Hoffnung, dass die Schmerzen danach verschwinden. Aber die Behandlung wurde wegen der Corona-Krise abgesagt, einen neuen Termin konnte man ihm nicht nennen. Er hätte nicht einmal ein Bett gebraucht. „Das ist eine Sache von einem halben Tag, danach ist man wieder draußen.“ Dieser Eingriff gilt jedoch nicht als unaufschiebbar oder dringend, deshalb wird Alexander B. noch länger mit seinen Schmerzen leben müssen. Wie lange, das weiß er nicht.
Den realen Schmerzen von Alexander B. steht eine theoretische Zahl gegenüber: 100.000 Tote. Diese Zahl nannte Bundeskanzler Sebastian Kurz für den Fall, dass die Regierung nicht die Maßnahmen gesetzt hätte, die sie gesetzt hat. Wie er zu dieser Zahl gekommen ist, die er im „Zeit im Bild 2“-Interview am 6. April nannte, ist nicht bekannt. Bislang ist Österreich weit davon entfernt. Aktuell (Freitag, 17.4., 12:00) steht das Land bei 371 Corona-Toten, auch der prognostizierte Ansturm auf die Spitäler ist nahezu komplett ausgeblieben.
Von 18.506 Spitalsbetten sind 729 oder vier Prozent belegt – das sind wohlgemerkt jene Betten, die für COVID-19-Patienten reserviert sind. Insgesamt verfügt das Land – abseits von Privatspitälern – über 44.183 Betten. Dazu kommen 2.451 Intensivbetten, von denen 1.151 für COVID-19-Patienten reserviert wurden. Von diesen Betten sind 238 belegt, 21 Prozent der reservierten. (Stand Freitag, 17.4., 12:00)
Gleichzeitig wurden zur Vorbereitung auf den Ansturm bereits Mitte März sämtliche nicht akut notwendigen Behandlungen und Operationen verschoben . Am Landesklinikum Klagenfurt wurden die Operationen beispielsweise von 150 auf 30 täglich heruntergefahren. Der Eindruck, dass die Spitäler während der Corona-Krise nicht überfüllt, sondern eher leer waren, „täuscht nicht“, sagt der Pressesprecher der Tirol-Kliniken, Johannes Schwamberger. „Auf den Normalstationen haben wir viele Kapazitäten frei.“
Ein Rundruf bei den Krankenanstaltenträgern der restlichen Bundesländer ergibt ein ähnliches Bild: In Oberösterreich etwa liegt die Auslastung der Spitalsbetten bei 42 Prozent, nicht wie üblich bei 85 Prozent. Bis dato sind die Spitäler dennoch weiter im Krisenmodus, und jene Patienten, deren Behandlungen verschoben wurden, „zeigen erstaunlich, fast überraschend viel Verständnis“, sagt Schwamberger.
„Ich habe dafür überhaupt kein Verständnis mehr“, sagt dagegen Traude Triebel, sie lebt in Niederösterreich, nicht in Tirol. Ihr Internist hat sie zum MRT ins Spital in Wiener Neustadt geschickt, weil abgeklärt werden muss, ob ihre Arterie frei oder verstopft ist. Oder anders ausgedrückt: Ob sie Gefahr läuft, einen Schlaganfall zu erleiden oder nicht. Anfang März bekam sie einen Termin für den 2. April, der nun verschoben ist. Für wie lange, das kann ihr niemand sagen. „Bei allem Mitgefühl für die Corona-Patienten, man kann ja nicht sagen, hoffentlich sterben jetzt die anderen nicht“, sagt sie. Sie ist eine von tausenden, die nun vertröstet werden. Die sich Sorgen machen, dass der Aufschub ihrer Gesundheit abträglich ist. Dass sie vielleicht sogar sterben müssen.
„Es kann sein, dass im März 2020 mehr Menschen gestorben sind, weil sie nicht ins Spital gegangen sind, als wir Corona-Tote haben“, sagt Bernhard Metzler, Kardiologe an der Universitätsklinik in Innsbruck. „Wir haben zunächst beobachtet, dass es bei uns in Innsbruck im März weniger Infarktpatienten gab“, erzählt er. Das hätte aber auch mit den Gegebenheiten in Innsbruck zu tun haben können: „Nachdem wir derzeit keinen Tourismus in Tirol haben, hätte auch das der Grund sein können.“ Also fragte er in seiner Funktion als Generalsekretär der kardiologischen Gesellschaft bei seinen Kollegen in den kardiologischen Abteilungen des ganzen Landes an. Das Ergebnis: 40 Prozent weniger Infarktpatienten in ganz Österreich. Mittlerweile gibt es solche Berichte auch von Kardiologen aus England, Italien, den USA und China: „Dort gibt es dasselbe Phänomen.“
Es gebe zwei Möglichkeiten: „Entweder diese Personen sind zu Hause geblieben, weil sie Angst hatten, dass sie sich anstecken, oder sie hatten das Gefühl, dass sie jetzt nicht ins Krankenhaus gehen sollten – was natürlich nicht stimmt“, sagt Metzler. Es sei wichtig, den Menschen mitzuteilen, dass sie bei Schmerzen weiterhin ins Spital kommen sollen. Für andere Abteilungen liegen keine Zahlen zu Patientenrückgängen vor, allerdings „höre ich in informellen Gesprächen mit Kollegen, dass es in anderen Bereichen zu einem ähnlichen Rückgang gekommen ist. Wobei man dazusagen muss, dass es wenige Fächer gibt, die einen so hohen Einfluss auf die Todesrate haben wie die Kardiologie, vielleicht noch die Neurologie mit den Schlaganfällen.“
Metzler will damit nicht die Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus an sich infrage stellen: „Wir haben gesehen, wie die Lage in Italien ist, nicht weit weg von hier: Die Probleme, in die wir ohne diese Maßnahmen hineingelaufen wären, sind riesig.“ Aber er sagt: „Was sich aus den Zahlen ablesen lässt, sind auf jeden Fall deutliche Kollateralschäden in Österreich.“
Der Schritt, Operationen und Behandlungen zu verschieben, sei „wichtig, richtig und gut“ gewesen, sagte Gesundheitsminister Rudolf Anschober im Rahmen einer Pressekonferenz am Freitag und kündigte eine langsame Öffnung des Gesundheitswesens an. Diese werde schrittweise erfolgen: „Niemand kann erwarten, dass es von heute auf morgen geht. Es wird sicher noch länger keine Normalsituation in den Spitälern geben.“ Einen konkreten Zeitplan präsentierte er nicht. Michael Binder, Mitglied des Beirats des Gesundheitsministeriums und Medizinischer Direktor des Wiener Krankenanstaltenverbundes, wurde wenig konkreter: „Das lässt sich nicht in zwei Wochen umstellen.“ Vor allem müsse eine Teststrategie gefunden werden, um sicherzustellen, dass Menschen das Virus nicht wieder ins Spital einschleppen.
Die Spitäler seien nun gefordert, für ihre Häuser Strategien zu erarbeiten. „Da gibt es viele Dinge zu klären: Welche Eingriffe erfordern einen Intensivplatz? Welches Personal braucht man für welche Bespielung?“, sagt Johannes Schwamberger von den Tirol-Kliniken. Es laufe wohl zunächst auf einen „Hybrid-Modus“ hinaus, keinen kompletten Normalbetrieb, sagt Jutta Oberweger, Pressesprecherin der Oberösterreichischen Gesundheitsholding. Der könnte Ende April in Kraft treten.
Die größeren Probleme könnten dann andere sein als zu wenige Betten: „Wenn Sie mir vor drei Monaten gesagt hätten, dass ich mir überlegen muss, wie ich zu Pipettenspitzen komme, hätte ich Sie ausgelacht“, erzählt ein Pathologe, der namentlich nicht genannt werden will. Er hat mit einem Materialmangel zu kämpfen, der immer größer werden könnte, solange die Corona-Krise herrscht und die Versorgung mit simpelsten Materialien nicht sichergestellt ist. „Ich kenne heute keine Firma in Europa mehr, die Gummihandschuhe produziert. Lösungsmittel, Antikörper, viele Reinsubstanzen in der Pharmabranche: Das alles wird in Europa nicht mehr produziert“, sagt er.
Mittlerweile, erzählt er, muss er jeden Tag improvisieren: „Sie müssen sich das so vorstellen: Sie wollen ein Haus bauen, und plötzlich gibt es keine Schrauben mehr. Und irgendwann fangen Sie an zu überlegen, wo Sie vielleicht wieder Schrauben entfernen können, weil Sie die woanders dringender brauchen. Wir suchen uns alles jeden Tag irgendwo zusammen.“
Auch Kardiologe Metzler hält die Knappheit an medizinischer Ausrüstung für ein großes Problem: „Wenn wir jetzt alle Masken und Handschuhe aufbrauchen und dann eine zweite Welle kommt, haben wir ein Problem. Bei der Spanischen Grippe war auch die zweite Welle die schlimmere.“ Aber umgekehrt weiß auch er, dass es nicht ewig so weitergehen kann: „Auch jeder Tag Stillstand macht mir Sorgen.“
Dieser Stillstand sorgt nicht nur in den Kliniken für Probleme: Ein Physiotherapeut, der namentlich nicht genannt werden will, weil er Angst hat, dem „Gegenwind des Systems“ ausgeliefert zu sein, berichtet von „höchst verunsicherten Patienten“ und fürchtet Langzeitschäden für viele von ihnen. „Wenn ich das Knie nur zehn Grad bewegen kann und zwei Monate länger mit Krücken gehen muss, dann hat das einen massiven weiteren Muskelabbau zur Folge.“ Er erzählt von einem 15-jährigen Patienten mit einer Knieverletzung, dessen Knieschiene der Hausarzt anlegte, weil er nicht in die Klinik konnte – der tat das allerdings so schlecht, dass Langzeitschäden nicht auszuschließen sind.
Er befürchtet, dass aktuell „der Teufel mit Beelzebub ausgetrieben wird“, dass die Parole, Kranke zu schützen, im Endeffekt mehr Kranke produziert. „Wir sehen jetzt auch schon die ersten Quarantäneopfer: Menschen, die mit akuten Beschwerden zu uns kommen, weil sie sich viel zu wenig bewegen.“
Daniela Luckinger arbeitet als freiberufliche Logopädin vor allem in Pflege- und Altenheimen in Kärnten; und sie sagt, sie kann „die Passivität, zu der wir derzeit verurteilt sind, nicht mit meiner Berufsethik vereinbaren“. Seit 16. März kann sie ihre Patienten nicht mehr besuchen. „Das sind Menschen mit Schlaganfällen, mit Multipler Sklerose, Krebspatienten. Die bekommen seitdem alle keine Therapie mehr.“ Logopädie mag zunächst wie eines jener Fächer wirken, auf die in der Krise am ehesten verzichtet werden kann. Eine falsche Annahme, sagt Luckinger: „Meine Patienten haben ein erhöhtes Aspirationsrisiko und damit verbunden auch das Risiko, eine Aspirationspneumonie zu bekommen.“ Die würde bei einem von fünf Patienten innerhalb von 30 Tagen zum Tod führen. Zwei ihrer Patienten seien seit Beginn der Quarantäne gestorben, und sie hat zumindest die Vermutung, dass sie durch eine Therapie zu retten gewesen wären.
Luckinger fordert die Ausarbeitung von Schutzmaßnahmen, „damit Patienten in Pflegeheimen wieder die Behandlung bekommen, die sie benötigen“. Sie habe sich an ihre Standesvertretung und an das Gesundheitsministerium gewandt, bislang allerdings erfolglos. „Wir haben in Kärnten aktuell 111 COVID-19-Erkrankte, da fällt das Verständnis schon schwer. Wir dürfen die Menschen in den Altersheimen nicht ihrem Schicksal überlassen.“