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„Möglich, dass Menschen vor Corona flüchten wollen“
1. April 2020 Coronavirus Lesezeit 5 min
Sylvia Sperandio, Leiterin des Gesundheitswesens beim Bundesheer, hält es für möglich, dass die Ausbreitung des Coronavirus Migration aus (medizinisch) unterentwickelten Staaten nach Europa auslösen könnte. Sie bemängelt, dass der Pandemie-Plan des Bundes nie aktualisiert wurde. Bis heute rechnet dieser nämlich mit Notfallkapazitäten des Bundesheers, die es längst nicht mehr gibt.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Coronavirus und ist Teil 38 einer 106-teiligen Recherche.
Bild: Carina Karlvits | Österreichisches Bundesheer

Frau Sperandio, Sie zählen Migration und Klimawandel zu den größten Treibern einer möglichen Pandemie. Warum?

Den Klimawandel deshalb, weil es dadurch vermehrt zu Zoonosen kommen kann, also dass Erkrankungen von Tieren auf Menschen übertragen werden. Ein gutes Beispiel ist die Malaria. Die Mücke, die sie überträgt, braucht über einen gewissen Zeitraum eine gewisse Temperatur, die bei uns hier zumindest derzeit die meiste Zeit des Jahres nicht gegeben ist. Aber je wärmer es wird, desto näher rücken diese Erkrankungen auch in unseren mitteleuropäischen Raum.

Warum erhöht Migration das Pandemie-Risiko?

Weil die Gesundheitssysteme der Länder, aus denen die Migrantinnen und Migranten kommen, nicht die gleichen Präventionsmethoden haben wie wir. Ich sage nur: Impfraten. Und: Man hat schon vor circa hundert Jahren bei der Spanischen Grippe gesehen: Wenn sich große Personenmengen von A nach B bewegen, dann kommt es ganz natürlich zu einer schnelleren und häufigeren Ausbreitung von Erregern. Egal welcher Art.

Kaum sonstwo auf der Welt gibt es derart viele Spitalsbetten wie in Österreich. Was, wenn das neue Coronavirus in weniger gut gerüstete Staaten kommt? Dazu zählt praktisch ganz Afrika.

Eines ist klar: Wegen der viel schlechteren Gesundheitsversorgung werden sie wohl mit viel mehr Toten zu rechnen haben. Das kann auch etwas auslösen. Es ist möglich, dass die Menschen davor flüchten wollen. Aber das ist derzeit für mich nicht wirklich einzuschätzen.

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Sylvia Carolina Sperandio, (Jg. 1966)
Leitet im Generalsrang (Brigadier) die Abteilung für militärisches Gesundheitswesen im Bundesheer. Sie war weltweit in Krisenregionen zur humanitären Katastrophenhilfe als Expertin des United Nation Disaster Assessment Coordination Teams und des European Civil Protection Teams im Einsatz.

Wann haben bei Ihnen, im militärischen Sanitätswesen, in Bezug auf das neue Coronavirus erstmals die Alarmglocken geschrillt?

Wir haben Mitte Jänner damit begonnen, ernsthaft darüber nachzudenken.

In einer Publikation des Verteidigungsministeriums haben Sie zum Jahreswechsel vor den „extremen Auswirkungen“ einer Pandemie gewarnt und die Sicherheitsvorsorge dazu in Österreich als „unzureichend“ beurteilt. Wie kamen Sie darauf?

Nationale Vorsorgepläne müssen aktualisiert und evaluiert werden. Das wurde möglicherweise von der Politik – da sind wir aber sicherlich nicht alleine in Europa – nicht so ernst genommen, wie es vielleicht hätte sein sollen. Pandemie-Pläne, die es ja gibt, sind Rahmenvorgaben. Diese müssten jedoch deshalb regelmäßig aktualisiert und evaluiert werden, weil sich Erreger sehr unterschiedlich verhalten.

Und das ist nicht geschehen?

Zumindest in den Fällen nicht, in denen das österreichische Bundesheer beteiligt ist. Das Wichtigste bei Aktualisierungen von Pandemieplänen oder Einsatzplänen ist, dass man Übungen macht, um zu sehen, ob die Strukturen in „meinem“ Staat auch wirklich up to date sind. Was zum Beispiel der Sanitätsdienst des Bundesheers noch vor 15 Jahren hatte, hat sich deutlich verändert. Das sind Details, die man eigentlich in einen Pandemieplan einbringen muss. Auch die Gesundheitsstruktur insgesamt hat sich seither in Österreich verändert. Man muss aber wissen, wo denn die Stellen sind, mit denen ich dann in der Krise rechnen kann.

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Anmerkung der Redaktion: Diese Kapazitäten wurden deutlich zurückgefahren, existieren zum Teil gar nicht mehr. Tatsächlich ist jedoch heute noch im Pandemieplan des Bundes die „Verwendung von Betten in militärischen Sanitätseinrichtungen, soweit sie nicht für den Eigenbedarf des Bundesheeres benötigt werden“ vorgesehen.

Hat uns der alte, nie aktualisierte Plan aktuell behindert?

Das glaube ich nicht. Es wurde recht rasch mit den Krisenstäben eine Koordination aufgebaut, mit der man einen guten, gemeinsamen Weg zwischen Bund und Ländern gefunden hat.

Das Verteidigungsministerium bewertet und reiht seit Jahren nach objektiven Kriterien die Gefahren, mit denen wir uns als Gesellschaft auseinandersetzen sollten. Diese Bewertung, die zwischen Schadensmaß und Eintrittswahrscheinlichkeit unterscheidet, ist öffentlich. Blackout, systemischer Terrorismus und Pandemie stehen ganz oben auf der Liste. Vorsorge für Blackout und Terrorismus ist seit einigen Jahren Thema. Warum wurde der Bereich Pandemie-Gefahr vernachlässigt?

Ich glaube, das hat damit zu tun, dass wir die Verbreitung neuartiger Erreger in den letzten Jahren sehr gut überstanden haben. Weil unser Gesundheitssystem damit auch nicht schwer belastet war, hat man auch kein Augenmerk darauf gelegt. Wie gesagt: Damit waren wir in Österreich sicher nicht alleine. Wenn das Bewusstsein dafür fehlt, was so ein Szenario, wie wir es jetzt haben, bedeuten kann, fragt man sich, warum man in die Vorsorge investieren soll. Gewisse Sachen vorzuhalten, bindet nämlich natürlich auch finanzielle Ressourcen.

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Risikomatrix des Verteidigungsministeriums: Horizontal ist die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Risikos dargestellt, vertikal die angenommene Auswirkung auf die Sicherheit Österreichs. Ganz oben: Systemischer Terrorismus, Blackout und: Pandemie.

Wie erging es Ihnen persönlich, als Ihre Warnung zum Jahreswechsel plötzlich Realität wurde?

Als ich den Artikel schrieb, rechnete auch ich nicht mit einer so schnellen Aktualität des Themas.

Wie wirkt eine Pandemie auf die Widerstandskraft, Militärs würden es vielleicht sogar Durchhaltefähigkeit nennen, einer Gesellschaft?

Wir haben vor einigen Jahren die Resilienz-Strategie für Österreich entwickelt. Damals schon war die Pandemie eines jener Ereignisse, die schwer beurteilbar waren und die gesondert noch einmal analysiert worden sind. Die Gesundheit des Einzelnen, vor allem aber die große Angst darum, sind wichtige Faktoren. Angst spielt überall mit: Bei den Gedanken um sich selbst, sein persönliches Umfeld, die Kapazitäten im Gesundheitssystem. Ich glaube, es wurde nicht daran gedacht, dass es derartige wirtschaftliche Konsequenzen hat. Und dass es den Menschen ganz persönlich in seinem Sein trifft.

Seit dem Aufkommen des neuen Coronavirus gibt es auch gewagte Theorien über dessen Herkunft. Eine lautet, fremde Geheimdienste sollen es nach China gebracht haben. Laut einer anderen ist das Virus eine biologische Waffe, die den Chinesen selbst außer Kontrolle geraten ist. Gibt es Hinweise darauf, dass da etwas dran ist?

Mir ist nichts darüber bekannt, dass es ein absichtlich ausgelöstes Virus sein könnte.

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Was kostet eine adäquate Vorbereitung auf eine Pandemie?

Ich kann Ihnen keine Zahlen nennen. Es gibt aber Nationen, da hat das Militär ein ganz anderes Standing. Dort übernimmt das Militär in solchen Situationen die Führung in der Krise. Natürlich als Teil der Regierung, aber in einer viel präsenteren Form. Ich glaube, dass das Militär es durchaus schaffen kann, dabei ein wichtiges Gefäß zu sein. Dazu braucht es aber eine gewisse Vorbereitungszeit, um diese Strukturen wieder aufzubauen. Auch im Sanitätsdienst. Etwa mit mobilen Feldspitälern, die man in Anlehnung an Krankenhäuser in den Einsatz bringen könnte.

Welche Vorkehrungen hat das Bundesheer für sich selbst getroffen?

Wir versuchen jede nicht notwendige Bewegung einzuschränken; was im sicherheitspolizeilichen Einsatz nicht möglich ist. Es gibt gewisse Einschränkungen bei der Ausbildung. Wir verdoppeln die Möglichkeiten der Unterkünfte für unsere Grundwehrdiener, damit so wenig wie möglich in den Räumen sind. Und wir versuchen das Personal dafür zu sensibilisieren, dass die Maßnahmen wie Händewaschen und Abstand halten eingehalten werden.

In Spitälern mussten wegen Corona-Infektionen schon ganze Abteilungen geschlossen werden. Was, wenn das zentrale Stellen im Militär trifft?

Wie haben sehr rasch Maßnahmen getroffen, dass Schlüsselpersonal – wo nur möglich – in Schichten arbeitet, sodass selbst dann, wenn ein Team sich anstecken würde, das zweite weiterhin einsatzfähig ist. Das betrifft nicht nur die Führungspersonen, sondern zum Beispiel auch die Luftraumüberwachung und den sicherheitspolizeilichen Einsatz. 

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