Die Fähigkeiten und Schwächen von Politikern zeigen sich in Ausnahmesituationen ganz besonders. Die einen versuchen, ihr Boot ans rettende Ufer zu bringen, bei den anderen bersten die Masten, und manche stellen ihre Segel in den Wind.
In den dunkelsten Stunden verknüpfen sich die Lebenswelten der Wähler mit jenen der Gewählten. In der Krise macht Politik nicht nur betroffen, sie ist es auch. Es ist diese Situation der Augenhöhe, die, ob gezielt oder als Nebenerscheinung, in Popularität umschlägt. In Demokratien können Ausnahmesituationen wie die derzeit herrschende Pandemie wahlentscheidend sein, unabhängig davon, wann gewählt wird. Im Medienzeitalter ist der Amtsinhaber ständiger Kandidat. Der US-amerikanische Politikberater Sidney Blumenthal prägte hierfür den Begriff permanent campaign.
Dieser Dauerwahlkampf nimmt in der Krise Fahrt auf. Politik wird unmittelbar erlebt, Entscheidung und Wirkung folgen rasch aufeinander. Die Bevölkerung fühlt sich durch ein singuläres Ereignis zusammengeschweißt. Es besteht akuter Bedarf nach Hoffnung und Zuversicht. In dieser Stimmung kann die Regierung punkten: „Dem Menschen einen Glauben schenken, heißt seine Kraft verzehnfachen“, heißt es in Gustave Le Bons „Psychologie der Massen“. Ob dieser Glaube trägt, entscheidet über das Schicksal von Nationen und die Karrieren von Politikern.
Einer der größten gesellschaftlichen Disruptoren und Krisenentfacher ist der Krieg. Erfolgreiche Politik kann hier nicht nur ein Land, sondern auch schwer ramponierte Politikerkarrieren retten. Bestes Beispiel dafür ist Winston Churchill. Er hatte im Ersten Weltkrieg 1915 maßgeblich die Invasion bei den Dardanellen betrieben, die in ein militärisches Fiasko und 50.000 Toten aufseiten der Entente mündete. Die Operation endete mit seinem Rücktritt als Erster Lord der Admiralität und dem Sturz der Regierung.
Es grenzt an ein Wunder, dass er im Zweiten Weltkrieg zur Personifikation des britischen Widerstandswillens werden konnte. Doch er verstand es nach dem Desaster der Militärexpedition in Frankreich 1940, in der dunkelsten Stunde der britischen Geschichte, wie er sie nannte, zur richtigen Zeit am richtigen Ort die richtigen Worte zu finden. Churchill vermochte es, seine Verbissenheit und Ausdauer auf ein ganzes Volk zu übertragen. Ein beharrlicher Wille sei, so schrieb Le Bon, „eine unendlich seltene und unendlich mächtige Eigenschaft“.
Auch die Beliebtheitswerte Margaret Thatchers waren im Keller, als Argentinien 1982 die Falklandinseln besetzte. Ihr entschiedenes Vorgehen im darauffolgenden Krieg machte vergessen, dass ihre eigenen Einsparungen den militärischen Schutz der Inselgruppe reduziert hatten. Thatchers Wahlsieg von 1983 wird weitgehend der Rückeroberung der Falklandinseln zugeschrieben. In der Krise macht sich eine soziale Konzentrationsbewegung bemerkbar, die auch angeschlagene Führungspersonen stützt. Der Zusammenhalt in der Bevölkerung scheint zu steigen, Kritik wird als Defätismus gebrandmarkt. Man schart sich hinter der Führung. Wenn nicht gerade völlige Stümper regieren, brechen mit Krisen auch schwierige Zeiten für Oppositionspolitiker an. Die deutsche Sozialdemokratie wurde vom Ersten Weltkrieg beinahe ideologisch aufgerieben, sah sich gezwungen, ihn aus Staatsräson mitzutragen, und musste letzten Endes auch noch das Ergebnis ausbaden. Kaiser Wilhelm II. hatte bei Kriegsausbruch vor dem Reichstag einen Satz geprägt, der jeder Opposition das Genick brechen musste: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“
Man soll die politischen Gefahren nicht unterschätzen, die krisenhafte Situationen mit sich bringen können. Der Kritiker wird allzu rasch zum Verräter, und wer sich gerade noch als Nothelfer ausgezeichnet hat, kann schnell Geschmack an der Autorität finden, die ihm in schwerer Stunde zuwächst. Der Wunsch nach dem selbstlosen Anführer, dem princeps optimus, wird besonders in Ausnahmesituationen laut. Krisen gebären auch Despoten. Philippe Pétain, Frankreichs Retter des Jahres 1916, wurde zum Diktator des Vichy-Regimes von 1940.
Umso mehr Ansehen genießt, wer die Schwäche des Staates nicht ausnützt. Lucius Quinctius Cincinnatus galt den Römern als legendäres, besonders tugendhaftes Beispiel staatsbürgerlicher Pflichterfüllung. Er war erstmals 458 v. Chr. zum Diktator ernannt worden, um einen militärischen Angriff auf die Stadt abzuwehren. Cincinnatus besiegte die Feinde Roms, legte das Amt noch vor Ablauf der gesetzten Frist nieder und kehrte auf seine Felder zurück, ohne einen Lohn für sein Krisenmanagement zu verlangen.
Es gibt wenige moderne Beispiele, die dem legendenüberlagerten cincinnatischen Ideal nahekommen. Der norwegische König Haakon VII. etwa drohte nach dem Einmarsch der Wehrmacht in sein Land mit Abdankung, sollte auf die deutschen Forderungen eingegangen werden. Das Parlament übertrug ihm und seiner Regierung Sondervollmachten, bevor er ins Exil ging. Haakon VII. fand sich nach seiner Rückkehr 1945 wieder lautlos in die Rolle des konstitutionellen Monarchen ein.
Kriege gehören zumindest in Westeuropa mittlerweile zu den Ausnahmeerscheinungen. Die Krisen, die österreichische Politiker zu bewältigen haben, sind wirtschaftlicher Natur, Lawinenkatastrophen oder – wie aktuell – gesundheitliche Ausnahmesituationen.
Dass Bilder die Politkommunikation bestimmen, hat Bundeskanzler Sebastian Kurz längst verstanden. Nicht umsonst leitete er in den vergangenen Tagen jede Pressekonferenz zur Coronapandemie mit gewohnt perfektem Auftreten und Statements, neben denen die Aussagen des eigentlich zuständigen Ministers verblassten. Als die gesundheitliche zu einer ökonomischen Bedrohung wurde, schnürte die Bundesregierung ein Milliardenpaket und gab die einprägsame Botschaft aus: Man werde die Wirtschaft vor dem Kollaps bewahren, „koste es, was es wolle“.
Krisensituationen verführen zu solchen Vereinfachungen, da sie umfassend sind und ebensolche Maßnahmen erfordern. Jedes Krisenmanagement lässt sich letztlich auf drei Sätze verkürzen: „Hier sind wir. Dort ist die Gefahr. Das ist der Weg.“ Allerdings fordern krisenhafte Situationen nicht nur rasches und großangelegtes Handeln, sie bringen zu verschiedenen Zeitpunkten schwierige Abwägungsfragen mit sich. Die Bekämpfung der Ausbreitung des Coronavirus zeigt das recht deutlich. Das Vorgehen des Gesundheitsministers bringt schwere Einschnitte für die österreichische Wirtschaft. Wie viele Arbeitsplätze sichert ein Skigebiet? Und ist das nicht nur eine leichte Grippewelle? Was sind 38 Milliarden Euro Schulden gegen ein paar tausend Arbeitslose mehr? Ist eine allgemeine Ausgangssperre ein zu schwerer Eingriff in die Grundrechte?
Diskussionen darüber sind in einer demokratischen Gesellschaft selbst in angespannten Lagen notwendig, können aber auch Unsicherheit schaffen, wenn sie sich hinziehen und zunächst nur Teilergebnisse nach außen dringen. Während die Bundesregierung am 12. März die Bekanntgabe neuer Maßnahmen zur Virusbekämpfung für den kommenden Tag ankündigte, kursierten die wildesten Gerüchte. Das Innenministerium sah sich veranlasst, in einer Aussendung vor Falschmeldungen zu warnen. Einen Tag später erklärte Innenminister Karl Nehammer im Ö1-Mittagsjournal: „Es wird natürlich keine Ausgangssperren geben.“ Am 15. März wurden allerdings Verkehrsbeschränkungen über ganz Tirol verhängt, kurz darauf folgte das restliche Bundesgebiet. Mittlerweile hört man von den Verantwortlichen Worte wie „derzeit“ und Sätze wie „Wir können nichts ausschließen“. Die Politik, die in der Krise beruhigen will, verspielt ihr Kapital, wenn sie nicht mit offenen Karten spielt.
Unfälle, Naturkatastrophen und Seuchen gehorchen nicht denselben Gesetzmäßigkeiten wie Kriege. Es gibt keinen unmittelbaren Feind, dem man die Schuld geben kann. Die Flutwelle, die Lawine und die Epidemie sind Auswüchse höherer Gewalt. Dementsprechend sucht man die Verantwortung bei jenen, die etwas dagegen hätten tun müssen: Wer hat vor der Lawinenkatastrophe in Galtür die letzten Transporthubschrauber des Bundesheers verkauft? Warum hat der Rechnungshof verlangt, dass das Bundesheer die Heeresspitäler verschlankt und Intensivbetten abbaut , die man nun brauchen würde?
Die Kriegspartei hat einen Feind, das Katastrophenopfer sucht einen Verantwortlichen. Entsprechend schnell kann die Politik ins Visier geraten. Zu rigorose Sparprogramme oder zu großzügige Genehmigungen der Vergangenheit werden zum Bumerang. Die Tatsache, dass es unter ihrer Verantwortung zur Katastrophe kommen konnte, beschädigt manche Politiker dermaßen, dass sie nicht mehr glaubwürdig als Krisenmanager auftreten können. Das zeigte sich etwa nach dem Loveparade-Unglück in Duisburg 2010, wo eine Massenpanik 21 Menschen das Leben gekostet hatte. Nachdem sich Oberbürgermeister Adolf Sauerland weigerte, die Verantwortung zu übernehmen und zurückzutreten, musste er unter Polizeischutz gestellt werden. Er wurde schließlich 2012 abgewählt, nachdem eigens eine gesetzliche Grundlage dafür geschaffen worden war.
Der schwerwiegendste Vorwurf an ein Krisenmanagement lautet, zu wenig getan und zu spät gehandelt zu haben. Entsprechend energisch treten Politiker oft auf. Der Aufstieg des späteren deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt begann 1962 mit einer Sturmflut. Schmidt organisierte als Hamburger Innensenator die Katastrophenhilfe auch unter Einsatz der Bundeswehr, ohne entsprechende rechtliche Grundlage. Er habe in diesen Tagen nicht ins Grundgesetz geschaut, sagte er später selbstbewusst.
Nach Unglücken hilft es, schnell Geld auf das Problem zu werfen, um sich Vorwürfen zu entziehen. Höhere politische Kunst ist es, dem Geld auch noch das richtige Mascherl zu geben. Als 2002 eine Hochwasserkatastrophe den Donauraum heimsuchte, nutzte Bundeskanzler Wolfgang Schüssel sie, um zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Da der Ankauf von Eurofightern für das Bundesheer breite Kritik ausgelöst hatte, gab er die Reduktion der Stückzahl von 24 auf 18 bekannt, um das so ersparte Geld in die Hochwasserhilfe fließen zu lassen. Eine weitere Maßnahme führte allerdings zum Zusammenbruch der Koalition: Die von Schüssel geforderte Verschiebung der geplanten Steuerreform hatte den FPÖ-Parteitag in Knittelfeld und vorgezogene Neuwahlen zur Folge. Für den Bundeskanzler zahlte sich seine Strategie als Krisenmanager letztlich aus: Die ÖVP erreichte 42,3 Prozent der Stimmen.
Ob jemand gestärkt aus einer Krisensituation hervorgeht, hat nicht immer mit seiner Verantwortung oder seinem tatsächlichen Beitrag zur Lösung der Problemlage zu tun. Oft geht es eben einfach nur darum, bei Katastrophen vor Ort zu sein und Mitgefühl zu zeigen. Ein falsches Wort, eine falsche Geste und vor allem falsche Bilder können fatal sein.
Öffentliche Trauer gehört zu den schwierigsten Herausforderungen in der Politik. Man darf nicht kalt wirken, aber auch nicht die Fassung verlieren. Und es gilt die richtige Worte für jene Menschen zu finden, deren Leben gerade zusammengebrochen sind. Der Einsatz und die persönliche Anteilnahme der steirischen Landeshauptfrau Waltraud Klasnic nach dem Grubenunglück von Lassing 1998 brachten ihr den Ruf als Landesmutter und bei der Wahl zwei Jahre später einen Stimmenzuwachs von elf Prozentpunkten ein. In anderen Fällen, wie beim Brand der Kapruner Gletscherbahn im Jahr 2000, versagte das Krisenmanagement der heimischen Politik hingegen kläglich.
Auch George W. Bushs Ansehen litt 2005 massiv darunter, dass er sich zu spät um die Opfer des Hurrikans Katrina zu kümmern schien. Die Mitarbeiter des Präsidenten diskutierten darüber, wer ihm beibringen musste, dass sein Urlaub kürzer ausfallen würde. Der ehemalige Clinton-Berater Sidney Blumenthal erklärte, Bushs Amerika sei vorüber: „The deepest wound is not that he was incapable of defending the country but that he has shown he lacked the will to do so.“ Dabei war Bush es gewesen, auf dessen Druck die Evakuierung von New Orleans überhaupt erst angeordnet worden war. Es waren aber die zögerliche Hilfe der Bundesbehörden und ein Foto, die den Umgang des Präsidenten mit der Krise prägten. Das Bild zeigte Bush, wie er sich die Verwüstung vom Flugzeug aus ansieht, auf dem Heimweg nach Washington.
Bilder, die Distanz und Abgehobenheit signalisieren, sind in solchen Situationen eine Katastrophe für die Polit-PR. Das österreichische Äquivalent dazu ist der in gelben Gummistiefeln durchs Wasser watende Viktor Klima. Der Bundeskanzler sah so aus, als hätten ihm seine Mitarbeiter gerade irgendwo Gummistiefel gekauft, um Fotos von seinem Besuch bei einer Überschwemmung machen zu können – und genauso war es wohl auch. Wer, wie der niederländische Premier Mark Rutte, der Öffentlichkeit erklärt, man solle angesichts der Corona-Krise aufs Händeschütteln verzichten, nur um anschließend selbst jemandem die Hand zu geben, erzeugt eher Häme als Sicherheit.
Wer keine politische Macht besitzt, dem werden keine fehlende Unterstützung, mangelhafte Ausrüstung oder zu kleine Budgets vorgeworfen. Gerade konstitutionelle Monarchen und Staatspräsidenten mit repräsentativen Aufgaben sind prädestiniert, aus Krisen gestärkt hervorzugehen. Man macht sie für die Verhältnisse nicht verantwortlich, ihre öffentliche Anteilnahme und Aufrufe zur Einigkeit erweisen sich jedoch regelmäßig als psychologisch stabilisierender Faktor.
Das hat sich bei den Besuchen des japanischen Kaiserpaars nach der Katastrophe von Fukushima 2011 ebenso gezeigt wie beim Ibiza-Skandal 2019. Bei der Havarie des Öltankers Prestige 2002 vor der spanischen Atlantikküste trauten sich madrilenische Politiker kaum in die betroffenen Küstengebiete. Die Behörden hatten dem Schiff das Einlaufen in einen spanischen Hafen verweigert, was die Auswirkungen aber deutlich verringert hätte. König Juan Carlos kam und brachte den Menschen das, was sich viele in Krisensituationen wünschen: Aufmerksamkeit. Was aber neben fehlendem Verantwortungsbewusstsein niemandem verziehen wird, ist mangelnde Empathie. Elisabeth II. soll es bis heute bereuen, dass sie 1966 zu spät nach Aberfan in Wales fuhr, wo ein Bergwerksunglück 144 Menschen, die meisten davon Kinder, getötet hatte. Ihre lange Abwesenheit wurde ihr öffentlich vorgehalten, was sich 1997 beim Unfalltod ihrer ehemaligen Schwiegertochter Diana wiederholte. Die Queen wurde angesichts der Massentrauer für ihre mangelnde öffentliche Anteilnahme kritisiert. Sie hatte den emotionalen Tsunami unterschätzt, der über das Land rollte.
Schon Gustave Le Bon erkannte, dass sich Menschen „niemals von den Vorschriften der reinen Vernunft leiten lassen“. Die Massen seien „durch logische Beweise nicht zu beeinflussen“ und begriffen „nur grobe Ideenverbindungen“. So wie in der Massenpsychologie Meinungen schwerer wiegen als Fakten, zählt in der Krisenbewältigung die Meinungsforschung letztlich mehr als das Ergebnis.
Im Zeitalter des permanent campaining lässt sich schließlich alles testen: Wohin soll der Präsident auf Urlaub fahren? Wie fanden Sie unseren letzten Krieg? Wie in diesem Rahmen Krisen instrumentalisiert werden, haben die Golfkriege gezeigt: Bedeutungsschwangere Fernsehansprachen, Monopolisierung der Kriegsberichterstattung mit embedded journalists, nachtsichtgrüne Videos von zielgenauen Raketeneinschlägen und Truppenbesuche mit Kantinenessen zu hohen Feiertagen ergeben das stimmungsvolle Bild einer tatkräftigen und entschlossenen Führung. Im Satirefilm „Wag the Dog“ aus dem Jahr 1997 wird diese Propagandamaschinerie persifliert, indem ein Krieg inszeniert werden soll, der von einer Affäre des Präsidenten ablenken soll:
„The President will be a hero. He brought peace.“
„But there was never a war.“
„All the greater accomplishment.“
Der Film erhielt ein Jahr nach seiner Veröffentlichung plötzliche Brisanz: Die Lewinsky-Affäre brach über die zweite Amtszeit Bill Clintons herein, der prompt Stellungen von Al-Kaida in Afghanistan und im Sudan bombardieren ließ. Der Präsident hatte sich zur Ablenkung eine Krise geschaffen, die er managen konnte.