Die Liste der nicht oder nur in bestimmten Packungsgrößen lieferbaren Medikamente umfasst mittlerweile mehr als 300 Arzneimittel. Das Problem verschärft sich: Mitte Jänner waren es noch weniger als 200, allein in der ersten Aprilwoche sind über 80 neue Medikamente an das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) gemeldet worden. Dort laufen seit 1. April alle Meldungen der Pharmakonzerne zu Lieferengpässen zusammen. Eine erste exklusive Analyse von Addendum zeigt, dass die Lieferprobleme besonders Herz-Kreislauf- und Krebsmedikamente sowie Medikamente zur Behandlung von Infektionskrankheiten betreffen.
Einige der betroffenen Medikamente sind kaum ersetzbar. Das heißt, betroffene Patienten können nicht auf ein alternatives Präparat mit einem vergleichbaren Wirkstoff umsteigen. Für sie wird der Lieferengpass dann zum Versorgungsengpass. Betroffen ist beispielsweise der Wirkstoff Azathioprin, den Menschen mit Autoimmunerkrankungen oder mit einem Spenderorgan zum Überleben benötigen. Auffällig sind auch die Engpässe bei Anti-Rheumatoiden. Diese sind zwar nicht überlebenswichtig, oft aber die einzige Therapiemöglichkeit. Für jugendliche Rheumapatienten ist beispielsweise nur das Medikament Methotrexat geeignet. Ohne diese Medikamente leiden Patienten unter Schmerzen, Rötungen und Bewegungseinschränkungen.
Weniger dramatisch sind Lieferschwierigkeiten bei Medikamenten wie Blutdrucksenkern. Denn das Angebot an Blutdrucksenkern ist groß: Viele Wirkstoffe sind in mehreren Präparaten enthalten. Ist ein Medikament nicht lieferbar, müsste der Patient lediglich – nach Rücksprache mit seinem behandelnden Arzt – auf ein anderes Medikament ausweichen. Das wäre zwar unangenehm, in den meisten Fällen aber gesundheitlich ungefährlich. Aufgrund der vielen Präparate kann ein Lieferengpass in diesem Bereich also kaum zu einem Versorgungsengpass führen.
Losartan Kalium oder Candesartan Cilextil sind solche Wirkstoffe, beide werden in jeweils über 100 für Österreich zugelassenen Medikamenten verwendet.
Ein Grund für diese Engpässe ist, das es keine überstaatlichen Regulierungen der Verkaufswege oder -mengen gibt. Sprich: Es gibt keine zentrale Kontrolle von Vorräten eines Landes oder eine internationale Institution, die entscheidet, wer mit welchen Medikamenten beliefert werden muss. Auch zwischen den Pharmaunternehmen und Großhändlern gibt es keine Absatzverträge. Die Hersteller schätzen, basierend auf vergangenen Produktionen, wie viel sie produzieren müssen, und die Großhändler bestellen wöchentlich bei den Herstellern. Den Herstellern wird dabei jede Woche aufs Neue überlassen, welche Großhändler oder Krankenhäuser sie mit ihren Lieferungen bei einem Engpass bevorzugt versorgen.
Patientenanwalt Gerald Bachinger warnt daher vor einer gefährlichen Abhängigkeit, die sich durch die Corona-Pandemie noch einmal verschärfen könnte. Einzelne Engpässe kommen bei Medikamenten immer wieder vor, doch wenn jetzt langfristig Produktions- und Lieferketten der internationalen Pharmafirmen unterbrochen werden, könne es kritisch werden. Österreich und die EU würden nicht schnell genug auf eine eigene Produktion umstellen können. Er hält es für äußerst problematisch, dass Inhaltsstoffe von Antibiotika ausschließlich in China oder Indien produziert werden. Zu Engpässen könnte es auch beim Wirkstoff Paracetamol kommen, der etwa für das Medikament Mexalen verwendet wird. Seit der Pandemie darf dieser gemeinsam mit 25 weiteren Wirkstoffen nicht mehr exportiert werden. Auch in Wuhan wurde die Produktion von Medikamenten durch den zweimonatigen Lockdown erheblich eingeschränkt.
Neben der Produktion sieht der Präsident des Verbands der österreichischen Arzneimittelgroßhändler, Andreas Windischbauer, auch die Lagerung als wichtigen Faktor. Diese werde immer zentraler organisiert, Hersteller würden ihre Medikamente lediglich für zwei bis drei Monate lagern. Bei den Großhändlern reiche der Vorrat dagegen oft nur für einen Monat. Erschwerend komme hinzu, dass von den zehn wichtigsten Herstellern viele gar kein Logistikzentrum mehr in Österreich haben.
Erhöhter Mehrbedarf ist auch häufig ein Grund für den Mangel. Im März habe es einen drastischen Anstieg bei vielen Medikamenten gegeben, berichtet Andreas Windischbauer, Präsident des Verbands der österreichischen Arzneimittelgroßhändler. Das deute auf Hamsterkäufe in den Apotheken hin. Mittlerweile sei dieser Bedarf aber wieder um über 15 Prozent zurückgegangen. Am stärksten ist dieser Rückgang bei den Antibiotika, da die Menschen seltener zum Arzt gehen.
Mit einer neuen Verordnung sollen potenzielle Engpässe schon frühzeitig abgefedert werden. Seit dem 1. April kann Österreich Exportbeschränkungen für jene Medikamente verhängen, bei denen ein Mangel droht. Wenn ein Medikament offiziell nicht lieferbar ist, ein Großhändler oder Hersteller es aber auf Lager hat, darf es nicht mehr in andere Länder exportiert werden.
Auf Anfrage verweisen die Pharmaunternehmen, die die meisten Engpässe an das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen gemeldet haben, auf die vielschichtigen Produktionsabläufe und die Schwierigkeiten einer durchgängigen Dokumentation von Gründen – der Markt regelt die Nachfrage. Zu einzelnen Medikamenten oder Vorgehensweisen gibt es keine Stellungnahmen, nur so viel: Es gäbe eine enge Zusammenarbeit der pharmazeutischen Industrie mit Behörden und dem Krisenstab im Gesundheitsministerium. Ob diese wirklich erfolgreich ist, wird sich bei den Lieferungen in den kommenden Wochen zeigen.