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Zeitung
Dieser Artikel ist erstmals in der Addendum-Zeitung Ausgabe 13 erschienen.
Mehr Armut, weniger Gesundheit
7. Mai 2020 Coronavirus Lesezeit 7 min
Durch die steigende Arbeitslosigkeit sind immer mehr Menschen von akuter Armut betroffen. Mehr Armut bedeutet ein größeres Risiko für die Gesundheit.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Coronavirus und ist Teil 76 einer 106-teiligen Recherche.
Bild: Peter Mayr | Addendum

Die Corona-Krise stellt auch die Mitarbeiter der Caritas-Organisation Le+O (Lebensmittel und Orientierung) vor besondere Herausforderungen. Vor der Krise wurden überzählige Lebensmittel von Supermärkten abgeholt und von tausend Freiwilligen in 16 Pfarren an armutsbetroffene Menschen verteilt. Die meisten dieser Pfarren sind räumlich nicht geeignet, um den nötigen Sicherheitsabstand gewährleisten zu können, und fast alle freiwilligen Helfer sind über 65 und zählen daher zur Risikogruppe. Auch die Supermarktabholung funktioniert derzeit nicht, einerseits aus Personalgründen, andererseits, weil die Supermärkte am Limit sind.

Le+O hat deshalb auf Corona-Notbetrieb umgestellt. Neue Freiwillige und Caritas-Mitarbeiter aus anderen Bereichen verteilen vor allem haltbare Waren aus den Lagern, in fertig abgepackten Paketen. Fünf Notausgabestellen stehen den „Gästen“, wie die Klienten genannt werden, zur Verfügung, wobei sie sich telefonisch voranmelden und Masken tragen müssen. Seit 16. März wurden über diesen Weg allein in Wien bereits 3.750 Pakete ausgegeben und es melden sich immer mehr Menschen an, erzählt Georg Engel, der Leiter des Projekts. Zu den Klienten zählen plötzlich Menschen, die bisher nie die Hilfe der Caritas gebraucht hatten. Sie sind durch die Krise in eine existenzielle Notsituation geraten.

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Die Corona-Krise stellt auch die Lebensmittelversorgung Le+O vor besondere Herausforderungen. Fertig abgepackte Waren werden im Freien ausgegeben.

Arbeitslosigkeit, dann Notlage

Eine solche existenzielle Notsituation beginnt meistens mit dem Verlust des Jobs. Durch die Maßnahmen in der Corona-Krise sind erstmals seit 1945 mehr als eine halbe Million Menschen ohne Arbeit. Bernd Wachter, Generalsekretär der Caritas, spricht von einem „Stresstest für Österreich“, denn derzeit melden sich Menschen bei den Notrufstellen, die bislang nie mit der Caritas zu tun hatten. Darunter etwa zahlreiche Saisonarbeiter, für die die Wintersaison abrupt endete und für die auch die Arbeit in der Sommersaison gefährdet ist. Alleine über die eigens eingerichtete Corona-Hotline der Caritas gehen täglich bis zu 200 Anrufe ein, und es werden jeden Tag mehr. An die Wiener Sozialberatungsstellen haben sich in der ersten Märzhälfte 900 Menschen gewandt, in der zweiten Märzhälfte waren es bereits 1.800. Bei der eigens eingerichteten Corona-Nothilfehotline gingen bis 30. April 5.100 Anrufe ein. Eine Trendumkehr zeichnet sich derzeit nicht ab.

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243.000 Menschen waren in Österreich im Jahr 2018 akut von Armut betroffen. Aktuelle Zahlen gibt es zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch nicht, aber allein im März 2020 ist die Zahl dieser Personengruppe stark gestiegen.

Eine Umfrage der Universität Wien hat erhoben, wie sich Einkommen durch die Krise verändert haben und wie verschiedene Bevölkerungsgruppen davon betroffen sind: Seit März gibt es weniger Personen mit sehr hohem Haushaltseinkommen, und mehr Personen sind im untersten Einkommensdezil angesiedelt, müssen also mit maximal 1.100 Euro im Monat auskommen. Eine genauere Analyse macht zudem deutlich, dass vor allem Personen, die bereits im Februar niedrige Haushaltseinkommen hatten, nun noch weniger Geld zur Verfügung haben. Damit trifft die Krise derzeit vor allem die Personen am härtesten, die schon davor ein geringes Einkommen hatten.

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Aktuelle Zahlen zur Entwicklung der Arbeitslosigkeit finden Sie hier .

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Armut gefährdet die Gesundheit

Von den insgesamt 243.000 Menschen (Stand 2018) in Österreich, die akut von Armut betroffen sind, weist rund jeder Dritte einen sehr schlechten Gesundheitszustand auf, über die Hälfte ist chronisch krank. Die häufigsten Gesundheitsprobleme, derentwegen ärztliche Hilfe aufgesucht wird, fallen in die Bereiche Psyche, Bluthochdruck oder Diabetes.

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Schon unter normalen Umständen ist Armut tödlich: Laut Statistik Austria sterben arme Menschen um zehn Jahre früher als der Durchschnitt, bei obdachlosen Menschen macht der Unterschied sogar 20 Jahre aus. Die prekären Wohn- und Arbeitsverhältnisse spielen dabei eine Rolle: Einkommensschwache Menschen leben häufig an dicht befahrenen Straßen, da sich dort billigere Wohnungen befinden, dadurch sind sie erhöhtem Lärm und Schadstoffen ausgesetzt. Zudem üben sie oftmals anstrengende Jobs aus und stehen vermehrt unter Stress, etwa aus finanziellen Sorgen.

Auch 80.000 Kinder in Österreich leben unter Sozialhilfebedingungen, rund ein Drittel von ihnen ist in feuchten Wohnungen untergebracht. Ein besonders ungünstiger Umstand, denn das Leben in feuchten Räumen begünstigt eine Reihe von Krankheiten, darunter etwa Asthma, Husten und eine erhöhte Anfälligkeit für grippale Infekte. Viele der Betroffenen wissen nicht, wie sie die nächste Miete bezahlen sollen. Bei den Beratungsstellen melden sich Menschen, die die Reparatur ihrer Therme oder die nächste Stromrechnung nicht begleichen können. Oft ist der finanzielle Engpass so groß, dass die tägliche Versorgung mit ­frischen Lebensmitteln nicht mehr möglich ist und das Geld für allfällige Medikamente fehlt. Auch die Zahlen der Statistik Austria sprechen eine eindeutige Sprache: Je geringer das Einkommen, desto höher die gesundheitliche Belastung. Besonders deutlich zeigt sich dieser Trend bei den 40- bis 64-Jährigen. Vom Coronavirus sind Menschen mit Vorerkrankungen wie Diabetes und Bluthochdruck, von denen arme Menschen häufig betroffen sind, besonders bedroht.

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Die Sozialarbeiterin Susi Peter kümmert sich um Obdachlose.

Über Nacht ohne Unterkunft

Besonders unübersichtlich und prekär ist die Situation für Menschen, die wohnungslos sind. Susi Peter ist als Streetworkerin auf der Straße unterwegs, um genau jene Menschen zu erreichen. „Obdachlose haben keinen Zugang zu Medien, und zu Beginn waren viele meiner Klienten irritiert“, erzählt Peter. Oft haben Obdachlose ihre Zeit in Gruppen auf der Straße verbracht, doch das ist plötzlich nicht mehr erlaubt. Eine Wohnung, in die sie sich zurückziehen könnten, haben sie nicht, und voll belegte Notschlafstellen erschweren das Einhalten des Sicherheitsabstands. Susi Peter verteilt täglich Masken, Desinfektionsmittel und Informationsmaterial an Obdachlose und klärt in zahlreichen Gesprächen über die Maßnahmen des Social Distancing auf. Auch sie berichtet von steigenden Zahlen, so etwa von einer Frau, die bislang in einem Hostel gewohnt hat und ihren Lebensunterhalt abdecken konnte. Als die Einrichtung über Nacht zusperrt, ist sie ohne Unterkunft und wendet sich an die Caritas. Die Frau ist jetzt in einem Notquartier untergebracht. Im Jahr 2018 waren in Österreich 21.500 Wohnungslose registriert, wie viele es momentan sind, ist unklar. Österreichweit hat die Caritas ihr Angebot für Obdachlose bereits ausgebaut, in Wien etwa wurden zusätzliche Notquartiere eingerichtet, um die Hygieneauflagen zu erfüllen. 70 zusätzliche Plätze wurden geschaffen. Des Weiteren haben die Notschlafstellen ihr Angebot auf einen 24-Stunden-Betrieb ausgeweitet, um Betroffenen auch tagsüber einen geschützten Raum anzubieten. Die Situation ist laut Peter zwar angespannt, aber die Quartiere sind noch nicht überlastet.

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Neben Susi Peter, die täglich mit vielen Menschen in Kontakt steht, sind auch die Mitarbeiter und freiwilligen Helfer der sozialen Einrichtungen einem erhöhten Infektionsrisiko ausgesetzt. In die „Gruft“ in Wien etwa kommen Menschen mit offenen Wunden, die die Hygienevorschriften nicht einhalten. Da hilft es nur bedingt, wenn alle Menschen beim Ankommen gebeten werden, sich die Hände gründlich zu waschen. Für die Mitarbeiter dieser Einrichtungen werden dringend Schutzmasken und Handschuhe benötigt, um das Ansteckungsrisiko zu minimieren. Außerdem steigt die Dringlichkeit für schnelle Tests, denn wenn in einer Notschlafstelle eine Infektion ausbricht, sind die Folgen nur schwer abzufedern. Im schlimmsten Fall muss eine gesamte Einrichtung unter Quarantäne gestellt werden, das ist bislang allerdings noch nicht passiert.

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Keine Krankenversicherung

Armutsbetroffene haben häufig keine Krankenversicherung, das macht die Versorgung im Krankheitsfall besonders schwierig. Laut einer Studie aus dem Jahr 2018 des Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik & Sozialforschung und der Diakonie betrifft das in Österreich etwa 27.000 Personen. Erkrankt eine Person ohne Versicherungsschutz, springen spezielle Ambulanzen für die Versorgung ein, in Wien sind das etwa die Barmherzigen Brüder oder die Ambermed, eine Ambulanz, die Menschen ohne Versicherungsschutz versorgt und berät. Für an ­COVID-19 Erkrankte, die keine Möglichkeit für häusliche Pflege haben, hat die Stadt Wien derzeit im Geriatriezentrum am Wienerwald und im Otto-Wagner-Spital insgesamt 74 Betten bereitgestellt. Dabei handelt es sich allerdings nicht um ein Spital, sondern um eine Betreuungseinrichtung, wie Andreas Huber, Sprecher des medizinischen Krisenstabs der Stadt Wien, betont. Die Schwierigkeiten für armutsbetroffene Menschen sind im Alltag ohne Krise bereits erhöht, in Zeiten der Corona-Pandemie hat sich die Situation für viele Menschen verschlechtert. Caritas-Präsident Michael Landau fordert eine Solidaritätsmilliarde „für die Schwächsten in unserem Land“: „Damit aus der Gesundheitskrise von heute nicht die soziale Krise von morgen wird.“ 

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Der Artikel wurde am 11. Mai um 09:30 Uhr aktualisiert.

Hinweise dafür, wer dringend Hilfe benötigt, können über das „Kältetelefon“ (01/480 45 53) erfolgen.

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