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Italien ist nicht Österreich
30. April 2020 Coronavirus Lesezeit 12 min
Seit Wochen bekräftigt die österreichische Regierung ihre Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie mit dem Verweis auf Italien. Das ist zwar auf den ersten Blick nachvollziehbar. Bei genauerem Hinsehen wird aber immer klarer, dass die österreichische Ausgangssituation zu keinem Zeitpunkt mit der italienischen vergleichbar war.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Coronavirus und ist Teil 71 einer 106-teiligen Recherche.
Bild: Tiziana Fabi | AFP

Die Bilder aus Italien sind dramatisch“, „Wir müssen nur nach Italien schauen“, „In Italien gibt es hunderte Tote pro Tag“. Es sind Sätze wie diese, die Bundeskanzler Sebastian Kurz und Gesundheitsminister Rudolf Anschober seit Mitte März immer wieder in Pressekonferenzen, Interviews und Redebeiträgen im Parlament wiederholt haben. Der Verweis auf den südlichen Nachbarn ist das Mantra der Bundesregierung. Er diente als Begründung für die einschneidenden Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus, und mit ihm wird jetzt zum Teil die große Vorsicht bei den Lockerungen begründet.

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Dabei ist die Situation in Italien nicht ansatzweise vergleichbar mit der österreichischen. Warum wurde dennoch immer wieder auf das Land verwiesen? Um Ängste zu schüren und dadurch die Bevölkerung von der Notwendigkeit des flächendeckenden Lockdowns von Wirtschaft und Gesellschaft sowie den drastischen Einschränkungen der Grundrechte zu überzeugen, wie ein am Montag veröffentlichtes Sitzungsprotokoll der Corona-Taskforce vermuten lässt?

Am 26. März veröffentlichte der amerikanische Gesundheitswissenschaftler und Statistiker John Ioannidis von der Universität Stanford ein Video, in dem er mehrere Gründe nannte, warum Italien so stark von der Pandemie betroffen ist und warum die Sterblichkeit im internationalen Vergleich so extrem hoch ist. Auch andere Wissenschaftler haben sich bereits in der Frühphase der Pandemie in Europa, zum Teil schon Anfang März, mit der Frage beschäftigt. Addendum hat die Thesen der Wissenschaftler zu acht Punkten zusammengefasst. Das Ergebnis: In Österreich vor italienischen Verhältnissen zu warnen, ist nicht nur unbegründet, sondern abenteuerlich.

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1.  Italien hat die älteste Bevölkerung Europas

Italien hat eine der höchsten Lebenserwartungen weltweit. Frauen werden im Schnitt 85 Jahre alt, Männer 80 Jahre. Umgekehrt hat kein Land Europas eine so niedrige Geburtenrate wie Italien. Die Folge: Unser südlicher Nachbar hat die älteste Bevölkerung Europas und den größten Anteil an Einwohnern, die älter als 65 Jahre alt sind, nämlich rund 23 Prozent. Das bedeutet, dass ein knappes Viertel aller Italiener zur sogenannten Risikogruppe zählt. Laut Berechnungen des Italienischen Instituts für Gesundheit (ISS) sind 60 Prozent aller COVID-19-Toten über 80 Jahre alt gewesen. Laut Departement of Economic and Social Affairs der Vereinten Nationen liegt das Durchschnittsalter in Italien bei 47,3 Jahren (Median). Nur die Bevölkerung Japans ist noch älter (48,4). Die Bevölkerung Österreichs hat ein Durchschnittsalter von 43,5 Jahren.

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2. Italien hat nur äußerst wenig Intensivbetten

Italiens Gesundheitssystem hat vor allem im Bereich der Intensivmedizin nicht ansatzweise Kapazitäten wie Österreich. Nach dem Spitzenreiter Deutschland mit 33,3 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner folgt in der Liste der OECD-Staaten Österreich mit 28,9 Intensivbetten auf dem zweiten Platz, Italien liegt auf einem der hintersten Plätze mit gerade einmal 8,6 Betten pro 100.000 Einwohner. Auch die Gesamtzahl aller Krankenhausbetten ist in Italien vergleichsweise niedrig, sie liegt bei 340 pro 100.000 Einwohner gegenüber 740 in Österreich. An dieser Unterversorgung konnte auch die Errichtung von Notkrankenhäusern nichts ändern.

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3. Das schlechte Krisenmanagement 

Die Lombardei war schlechter als andere Regionen Italiens auf eine Epidemie vorbereitet. Das Krisenmanagement hat nicht funktioniert. Zu Beginn der Krise wurden auch Infizierte mit milden Symptomen in die Spitäler gebracht, sodass diese noch schneller überlastet waren. Außerdem wurden in einigen Spitälern erst sehr spät die Sicherheitsvorkehrungen verschärft, sodass sich bereits am Anfang der Infektionswelle viele Ärzte und Pfleger infizierten. Um den Engpässen entgegenzuwirken, haben die italienischen Behörden auch bereits pensionierte Mediziner dazu aufgerufen einzuspringen. Viele Ärzte folgten diesem Aufruf, obwohl sie selbst zur Risikogruppen zählten. Die Folge: Laut italienischer Ärztekammer sind bislang 151 Ärzte an COVID-19 verstorben. Der bisher älteste verstorbene Mediziner, Flavio Roncoli aus Bergamo, war 90 Jahre alt.

Darauf, dass im Krisenmanagement der Lombardei einiges schiefgelaufen sein muss, deutet allein schon die Verteilung der Infektions- und Todeszahlen hin. Nahezu die Hälfte aller 27.000 COVID-19-Todesfälle in Italien entfallen auf die Lombardei (13.325). Hier lebt mit zehn Millionen Einwohnern allerdings nur ein Sechstel der Gesamtbevölkerung Italiens. Die Lombardei ist auch bei der Zahl der Infizierten besonders stark betroffen. Ein gutes Drittel aller 200.000 Infizierten entfällt auf die wohlhabende Industrieregion (73.000). Die Sterblichkeit der positiv Getesteten ist dort mit 18 Prozent deutlich höher als etwa in der angrenzenden Region Venetien. Dort liegt die Sterblichkeitsquote der positiv Getesteten bei 7,5 Prozent und ist damit „nur“ doppelt so hoch wie in Österreich (3,6 Prozent).

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Attilio Fontana, Präsident der Lombardei

In Venetien wurde sehr früh damit begonnen, intensiv zu testen. In Verdachtsfällen wurden die Betroffenen gebeten, daheim zu bleiben, statt ins Spital zu fahren; mobile Einsatzteams führten Tests vor Ort durch. Die Behörden haben außerdem von Anfang an auf intensives Monitoring und Tracing gesetzt. In der Lombardei hingegen ordnete die rechtspopulistische Regionalregierung Anfang März an, COVID-19-Patienten mit milden Symptomen in Seniorenheime zu verlegen, um die Krankenhäuser zu entlasten. Die italienische Tageszeitung La Repubblica deckte Anfang April auf, dass in Mailand in der größten Senioreneinrichtung Italiens bis zu hundert Todesfälle bei Senioren vertuscht wurden. In dem von der Regionalregierung verwalteten Heim gab es nur unzureichende Hygienemaßnahmen und erst Mitte Februar Besuchsverbote. Auch Masken wurden erst sehr spät verteilt, anfänglich nur an die Bewohner, nicht aber an das Pflegepersonal.

Auswertungen von Handydaten legen außerdem nahe, dass sich viele Bewohner der Lombardei nicht an die Ausgangsbeschränkungen hielten. Die Mailänder Zeitung Corriere della Sera berichtete Mitte April, dass 60 Prozent der Bevölkerung die Beschränkungen ignorierten. Ferner sind laut italienischem Innenministerium in der Lombardei bis Mitte April 65.000 Firmen inspiziert worden, in denen ohne Erlaubnis gearbeitet wurde.

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4. Hohe Luftverschmutzung in Norditalien

Luftverschmutzung ist noch immer ein großes globales Gesundheitsproblem, auch wenn selten erwähnt wird, dass der Gehalt an Schadstoffen in der Luft insbesondere in Europa heute um ein Vielfaches geringer ist als vor 150 Jahren. Damals sorgten primitive Holz- und Kohleöfen in jedem Haushalt für giftige Atemluft am heimischen Herd und dicke Rauchschwaden über den Städten, die – bis heute sichtbare – schwarze Hausfassaden hinterließen.

Das Problem ist heute kleiner, aber längst nicht verschwunden. Auffällig ist, dass Norditalien bei der Belastung mit Stickstoffdioxid (NO2) und Feinstaub zu den europäischen Spitzenreitern zählt. Auf Karten der Europäischen Umweltagentur sticht in Sachen NO2 vor allem die Region Lombardei um Mailand und Bergamo ins Auge, die auch von COVID-19 besonders schwer getroffen ist. Nirgendwo in Europa ist die NO2-Belastung auf so großer Fläche so stark. In Sachen Feinstaub bildet die gesamte Po-Ebene einen Hotspot. In Österreich muss man ähnliche Hotspots der Luftverschmutzung dagegen mit der Lupe suchen.

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Vor allem die mit bloßem Auge nicht sichtbaren und lungengängigen Schwebteilchen der Kategorie PM2,5, deren Korndurchmesser unter 2,5 Mikrometer liegt. PM steht für das englische particulate matter.

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Ein Vergleich zwischen dem 8. Jänner und dem 17. April in Mailand, Italien.

Es liegt nahe, bei einer Lungenkrankheit wie COVID-19 Zusammenhänge zu Schadstoffen zu prüfen, die über die Luft in die Atemwege des Menschen gelangen. Genau das haben Wissenschaftler der Universität Harvard ganz aktuell für die 3.080 Landkreise (Countys) der USA getan und dabei festgestellt, dass dort, wo seit Jahren in der Luft besonders viel Feinstaub vom Typ PM 2,5 vorhanden ist, höhere Todesraten bei COVID-19 zu verzeichnen sind. (Dabei wurden andere Einflussgrößen wie Anteil der Raucher oder Bevölkerungsdichte herausgerechnet.)

Konkret zeigte sich, dass die Todesrate bei COVID-19 schon dann um 8 Prozent erhöht war, wenn der Gehalt an Feinstaub pro Kubikmeter Luft um nur ein Mikrogramm höher lag. Gesichert ist der Zusammenhang damit zwar längst nicht, zumal es sich bei der Studie um eine Vorab-Veröffentlichung handelt, die den notwendigen wissenschaftlichen Begutachtungsprozess noch nicht hinter sich hat. Außerdem beweist eine Beobachtung keinen ursächlichen Zusammenhang. Allerdings gibt es weitere Hinweise, die Spekulationen um die Rolle der Luftqualität nähren. Klar ist: Die Nicht-Vergleichbarkeit von Österreich und Italien bei der Luftverschmutzung könnte auch in Sachen Corona eine Rolle spielen.

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5. Italienisches Familienleben: Mehrere Generationen unter einem Dach

Während die Eltern zur Arbeit gehen, kümmern sich die Großeltern um die Kinder. In Italien ein gängiges Modell, das den Alltag vieler Familien erleichtert, sich in der Corona-Krise jedoch als gefährlich erweist: Die beiden Ökonomen Moritz Kuhn und Christian Bayer von der Universität Bonn haben die Rolle von Sozialstrukturen mit den COVID-19-Sterblichkeitsstatistiken verglichen. Das Ergebnis der Untersuchung: Je höher der Anteil der Erwerbstätigen, die mit ihren Eltern zusammen in einem Haushalt leben, desto höher ist das Sterberisiko für die ältere Generation. In Italien wohnt fast ein Viertel der 30- bis 49-Jährigen (23 Prozent) mit seinen Eltern in einem Haushalt. In den meisten Fällen sind dies also 3-Generationen-Haushalte. Ein Schutz der Risikogruppe war dadurch in vielen Fällen unmöglich. In Österreich sind es nur rund 5 Prozent der 30- bis 49-Jährigen, die mit ihren Eltern unter einem Dach wohnen.

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6. Welche Rolle spielt der Anteil der Raucher oder Ex-Raucher?

Es ist inzwischen belegt, dass unter den mit oder an COVID-19 Verstorbenen nicht nur ein weit überwiegender Anteil an Vorerkrankungen wie etwa Diabetes litt, sondern auch besonders viele Männer und Raucher unter den Opfern waren. Beim Blick auf die Daten zeigt sich zwar, dass der Anteil der Raucher in der Bevölkerung im Jahr 2016 in Österreich höher war (30 Prozent der Erwachsenen) als in Italien (24 Prozent), wo – schon 2005 und damit lange vor Österreich (2019) strenge Nichtraucherschutzgesetze in Kraft getreten sind. Reist man allerdings in der Zeit zurück und schaut auf den Anteil der täglich rauchenden Menschen, wendet sich das Verhältnis nach und nach. Im Jahr 1980 zum Beispiel rauchten 32 Prozent der Menschen in Italien täglich, in Österreich 26 Prozent.

Leichte Unterschiede im Rauchverhalten erklären sicher nicht ansatzweise die Unterschiede bei den Corona-Toten. Aber in Kombination mit anderen Faktoren könnte das ungesunde Rauchverhalten älterer Italiener eine zusätzliche Rolle spielen.

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7.  Fatales Problem: Krankenhauskeime

Italien ist trauriger Spitzenreiter bei Todesopfern durch Krankenhauskeime. So starben 2015 in Italien 10.762 Menschen durch Krankenhauskeime, in Österreich waren es im gleichen Jahr 276, in Deutschland 2.363. Diese Zahlen hat das Europäische Zentrum für Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) erhoben. Keime können mit Coronaviren eine lebensgefährlich Kombination bilden. Laut dem Wiener Intensivmediziner Michael Zimpfer greifen Coronaviren das tiefe Lungengewebe bis in die Lungenbläschen an. Das geschädigte Gewebe bietet eine ideale Angriffsfläche für Bakterien und andere Keime. Je höher die Keimbelastung, desto größer die Gefahr einer zusätzlichen Infektion.

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8.  Die Rolle von Legionellen

Bakterien von der Gattung der Legionellen vermehren sich unter anderem in länger stillstehenden (Trink-)Wasserleitungen oder in bestimmten Bauteilen von Klimaanlagen. Wenn sie zum Beispiel beim Duschen in die Lungen gelangen, können sie bei immungeschwächten Menschen die so genannte Legionärskrankheit mit grippeähnliche Symptome auslösen und sogar zum Tod führen.

In einer Online-Fachzeitung für Apotheker wird davon berichtet, dass im Jahr 2018 in der Provinz Brescia (Region Lombardei) hunderte Menschen an einer zunächst mysteriös erscheinenden Lungenkrankheit litten, was schließlich auf Infektionen mit Legionellen zurückzuführen war. Als Infektionsquelle wurden Verdunstungskühlanlagen ausgemacht, die ihr Wasser aus einem verschmutzten Fluss bezogen hatten. Berichte darüber finden sich auch im italienischsprachigen Internet.

Wäre es denkbar, dass Hygieneprobleme mit Wasserleitungen in Italien zu einer erhöhten Legionellen-Belastung führten und dadurch einige COVID-19-Patienten zusätzlich geschwächt wurden? Gesicherte wissenschaftliche Belege dafür gibt es bislang nicht. Der Gedanke bleibt vorerst Spekulation. Richtig ist aber, dass durch COVID-19 vorgeschädigte Lungen anfällig sind für sogenannte bakterielle Sekundärinfektionen, zu denen auch jene mit Legionellen gehört.

Bemerkenswert ist auch ein anderer Zusammenhang, auf den Experten jetzt vermehrt hinweisen. In Gebäuden, die wegen des Corona-Lockdowns seit Wochen ungenutzt leer stehen, steigt aktuell das Risiko für Legionellen-Infektionen, wenn die Wasserleitungen darin nicht alle paar Tage durchgespült wurden oder Klimaanlagen nicht überprüft und gewartet werden.

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Die Macht der Bilder 

In Zeitungen, Fernsehberichten und den sozialen Medien waren vor allem Mitte bis Ende März immer wieder Aufnahmen aus überfüllten Spitälern in Italien zu sehen. Bilder, die Angst machen. Dass diese Agenturfotos und -videos in einigen wenigen Kliniken entstanden sind und dadurch möglicherweise ein Zerrbild der Wirklichkeit gezeichnet wurde, blieb in den allermeisten Berichten unerwähnt. Der US-Fernsehsender CBS verwendete in einem Beitrag über die Versorgungskrise in New York Aufnahmen von einer Intensivstation aus Bergamo, ohne dies zu kennzeichnen. Laut Aussage des Senders ein Versehen, doch der Eindruck bleibt, dass im Wettrennen um Zuseher und Leser möglichst drastische Bilder verwendet werden. 

Nicht überall in Italien waren die Zustände so dramatisch wie in Bergamo oder Brescia. Das belegen auch Gespräche, die Addendum mit italienischen Ärzten aus anderen Regionen des Landes geführt hat. Die Ärzte berichten von weitgehend geregeltem Betrieb, keinerlei Engpässen, weder beim Personal noch bei der medizinischen Ausrüstung. 

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