Zur Minimierung des Infektionsrisikos der Anwesenden wurden während der Nationalratssitzungen am Wochenende einige zusätzliche hygienische Maßnahmen getroffen: Neben der regelmäßigen Desinfektion der Eingangsbereiche und der Toiletten sowie von Türklinken und Handläufen blieb auch jeder zweite Sitzplatz leer. Bei zwei verfahrenstechnischen Abstimmungen zu Beginn der Sitzung stimmen auch Abgeordnete mit, die sich zu dem Zeitpunkt auf der Besuchergalerie befanden. Da man sich auf den Ablauf in Bezug auf diese zwei Punkte vor der Sitzung geeinigt hat, war die Einstimmigkeit vorhersehbar.
Anders bei den inhaltlichen Abstimmungen zu den Gesetzesvorlagen. Denn da ging es ohne engeres Beisammensein dann doch nicht. Gute 15 Minuten erhoben und setzten sich die Abgeordneten zu diversen Abänderungs-, Zusatz- und Entschließungsanträgen und natürlich zum COVID-19-Gesetz – ohne Sicherheitsabstand. Dass schlussendlich doch alle Abgeordneten für die Abstimmungen ins Plenum gekommen sind, war notwendig, um das korrekte Abstimmungsergebnis feststellen zu können, so Nationalratspräsident Sobotka.
Der Artikel vom 13. März:
In den letzten Tagen hat die österreichische Bundesregierung im Kampf gegen die Ausbreitung des SARS-CoV-2 umfassende Maßnahmen eingeleitet. Besonders einschneidend ist dabei die Vorgabe des Gesundheitsministeriums, Veranstaltungen zu unterlassen, bei denen mehr als 100 Personen in einem geschlossenen Raum zusammenkommen. Davon explizit ausgenommen sind allerdings „Zusammenkünfte allgemeiner Vertretungskörper“ – gemeint sind damit Sitzungen des National- und Bundesrats sowie der Landtage. Diese können – und werden nach aktuellem Stand – weiterhin zusammentreten.
Die Präsidialkonferenz des Nationalrats hat sich allerdings am 12. März 2020 darauf verständigt, die anberaumten Sitzungen des Nationalrats am 18. und 19. März 2020 in einer größeren Räumlichkeit abzuhalten. Auf diese Weise soll das Ansteckungsrisiko mit dem Virus SARS-CoV-2 eingeschränkt werden.
Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka (ÖVP) hat diese Entscheidung – mit Verweis auf die Ausschaltung des Parlaments 1933 – folgendermaßen gerechtfertigt:
Die Entscheidung, das parlamentarische Leben aufrechtzuerhalten, ist ein demokratiepolitisches Signal, könnte aber auch negative Folgen haben. Denn Politiker stellen als Personen öffentlichen Interesses zum einen ein potenzielles Ansteckungsrisiko dar, zum anderen sind insbesondere ältere Abgeordnete selbst durch Ansteckungen gefährdet.
Viele Abgeordnete pendeln regelmäßig zwischen Wien und ihren Wohnorten. Das betrifft unter anderem jene Abgeordneten, die über die Regionalwahlkreislisten gewählt wurden. Das sind derzeit 79 Abgeordnete. Rechnet man noch jene Abgeordneten hinzu, die über die Landeslisten (mit Ausnahme von Wien) in den Nationalrat eingezogen sind, kommt man sogar auf knapp 140 von 183 Abgeordneten, die – zumindest theoretisch – zu den Sitzungen pendeln müssen und so in Kontakt mit anderen Personen kommen können.
Die aktuelle Anzahl an bestätigten COVID-19-Fällen zeigt auch, dass ein Großteil der Regionalwahlkreise bereits von dem Virus erfasst wurde.
Zum anderen gibt es in diesen Gremien auch ältere Abgeordnete, die für eine COVID-19-Erkrankung besonders anfällig sind. Zwar sind das österreichische Parlament und die Landtage deutlich jünger als beispielsweise der US-amerikanische Senat, wo mehr als die Hälfte aller Mitglieder über 60 Jahre alt ist. Dennoch gibt es auch im Nationalrat 24 Abgeordnete über 60, drei davon sind sogar über 65 Jahre alt. Auch im Bundesrat und den neun Landtagen gibt es eine nicht zu unterschätzende Anzahl an älteren und somit verstärkt gefährdeten Personen.
Grundsätzlich ist das Plenum des Nationalrats beschlussfähig, wenn ein Drittel der Abgeordneten (61 Abgeordnete) anwesend ist und die unbedingte Mehrheit (bei voller Anwesenheit sind das 92 von 183 Abgeordneten) erreicht wird. Für Verfassungsgesetze muss mindestens die Hälfte der Abgeordneten, also wiederum 92 Mandatare, anwesend sein. Derzeit erreichen die beiden Regierungsparteien, ÖVP und Grüne, eine knappe Mehrheit von fünf Abgeordneten. Allerdings ist zu beachten: Die ÖVP hat mit Abstand die meisten Abgeordneten über 60 Jahre.
Bei Abstimmungen über Verfassungsgesetze, die Geschäftsordnung, Misstrauensanträgen oder bei Beharrungsbeschlüssen muss mindestens die Hälfte der Abgeordneten (92) anwesend sein und eine Zweidrittelmehrheit (122 von 183 Abgeordneten) erreicht werden.
Wie würden sich diese Mehrheitsverhältnisse ändern, sollte der Extremfall eintreten und ältere Abgeordnete nicht an Sitzungen teilnehmen können? Wir haben dazu zwei Szenarien durchgespielt: Könnte die Regierungsmehrheit noch Gesetze beschließen, wenn alle Abgeordneten über 60 Jahre in Quarantäne gestellt würden (Szenario 1)? Und könnte die Regierungsmehrheit noch Gesetze beschließen, wenn alle Abgeordneten der Regierungsparteien (also ÖVP und Grüne) über 60 Jahre in Quarantäne gestellt würden (Szenario 2)?
Szenario 1: Aktuell gibt es 24 Abgeordnete im Nationalrat, die 60 Jahre oder älter sind. Sollte der Fall eintreten, dass alle diese Abgeordneten nicht mehr an Sitzungen teilnehmen könnten, hätte die Regierung nur mehr 83 Abgeordnete – allerdings würde sich auch die notwendige Anzahl an Abgeordneten reduzieren. Notwendig wären dann nämlich nur mehr 80 Stimmen, und die Regierung hätte weiterhin eine Mehrheit, wenn auch denkbar knapp.
Szenario 2: Dieses Szenario ist freilich deutlich unwahrscheinlicher. Sollte jedoch dieser extreme Fall eintreten und nur Abgeordnete der Regierungsparteien über 60 Jahre nicht mehr an Sitzungen teilnehmen können, würde die Regierung auf 83 Abgeordnete fallen – notwendig wären dann aber 84 Stimmen. Dann wäre die Regierung auf einen Schulterschluss mit einer der Oppositionsparteien angewiesen.
Daher stellt sich abschließend die Frage, ob und wie Abgeordnete eigentlich unter Quarantäne gestellt werden können. Das ist nämlich durchaus fraglich. Denn die parlamentarische Immunität schützt die Mandatare zwar vor Strafverfolgung, aber nicht vor Bescheiden von Verwaltungsbehörden, worunter Quarantänemaßnahmen fallen. Die Abgeordneten sind jedoch gesetzlich verpflichtet, an den Sitzungen teilzunehmen. Die Geschäftsordnung des Nationalrats könnte demnach einem Absonderungsbescheid, der den Mandatar zur Isolation verpflichtet, entgegenstehen.
Der Erlass des Gesundheitsministeriums und die darauf basierenden Verordnungen der Bezirksverwaltungsbehörden nehmen die Sitzungen von National- und Bundesrat sowie der Landtage vom generellen Veranstaltungsverbot aus. Das bedeutet im Umkehrschluss allerdings nicht, dass das Ministerium diese hätte untersagen können. Tagungen des Nationalrats werden vom Bundespräsidenten, Sitzungen vom Nationalratspräsidenten einberufen. Die Verordnung einer Gesundheitsbehörde kann nicht die Arbeit von Gesetzgebungsorganen beenden.