Frau Wiesinger, in wenigen Wochen kehren die Schüler nach und nach in die Klassenzimmer zurück. Vom Bildungsministerium gibt es eine Vielzahl an Empfehlungen, vom Tragen einer Schutzmaske außerhalb des Klassenzimmers über Desinfektionsregeln bis hin zum Sicherheitsabstand zwischen den Schülern. Alle diese Maßnahmen sind in einem Hygienehandbuch für die Schulen zusammengefasst. Wie ist dieser Fahrplan bei den Lehrern angekommen?
Viele Lehrer hatten noch nie so viel Angst wie jetzt. Angst davor, sich zu infizieren. Angst davor, die Vorgaben nicht einhalten zu können. Sie fühlen sich im Stich gelassen. Von der Politik. Und auch von der Gewerkschaft. Wir hatten jetzt sechs Wochen Zeit, die Schulöffnungen vorzubereiten. Ich frage mich, was in dieser Zeit passiert ist. Ein Hygienehandbuch für Schulen im Schichtbetrieb ist doch kein Konzept. Ich habe das Gefühl, dass die Regierung hier auf den Druck der Öffentlichkeit reagiert hat. Meine Vermutung ist, dass man eigentlich erst im Herbst wieder aufsperren wollte. Aus diesem Grund hat man wohl das Thema Schule die letzten Wochen über ignoriert. Am Ende blieb dann offenbar nur ein schnelles und unüberlegtes Öffnen.
Was kritisieren Sie konkret an den Vorgaben?
Für Schulen im ländlichen Raum mag dieses Hygienekonzept geeignet sein, für die Schulen in den Ballungsräumen ist es vollkommen ungeeignet. In den Schulen in den Ballungszentren sind sehr viele Schüler, gleichzeitig ist alles sehr beengt. Die Hygiene ist in einer Schule nicht wie in einem Krankenhaus, es ist genau das Gegenteil davon. Man braucht sich nur unsere Toiletten anzuschauen. Dieses Hygienehandbuch ist „wischiwaschi“. Mit jüngeren Kindern ist das nicht umzusetzen. Viele Schulen haben weder die Räumlichkeiten noch die Ausstattung. Hände waschen werden wir schaffen, aber wir werden nicht hinter den Kindern alles desinfizieren können. Ich meine, wie stellt sich das Ministerium das vor? Während wir die Türklinken desinfizieren, stehen die Schüler brav mit einem Sicherheitsabstand von einem Meter in der Reihe? Diese Vorstellung ist realitätsfern. Das hat sich offenbar jemand ausgedacht, der von Kindern und Jugendlichen keine Ahnung hat. Das geht vielleicht in der Oberstufe, in Volksschulen und Mittelschulen nicht. Kinder sind keine Roboter, die man einfach umprogrammieren kann.
Noch konnten sich diese Maßnahmen in der Praxis nicht bewähren. Was macht Sie so sicher, dass sie nicht funktionieren werden?
Ich habe jetzt schon im Notbetrieb bis zu sechs Kinder in der Schule betreut. In dieser Konstellation war es schon schwer, dafür zu sorgen, dass sie einander nicht zu nahe kommen. Wie das mit mehr als doppelt so vielen Schülern möglich sein soll, weiß niemand. Zudem gibt es an vielen Schulen verhaltensauffällige Kinder, die besondere Betreuung bräuchten. Wie das mit denen funktionieren soll, ist mir und vielen anderen Pädagogen schleierhaft. Wir fühlen uns hier im Stich gelassen. Außerdem haben wir für diesen vorgeschlagenen Schichtbetrieb nicht das Personal. Wir werden erhebliche Engpässe bekommen. Unterrichten und Betreuen wird nicht klappen. Das Konzept ist einfach nicht durchdacht.
Lehrervertreter kritisieren die Ankündigung von ÖVP-Bildungsminister Heinz Faßmann, wonach schulautonome Fenstertage heuer nicht schulfrei sein sollen. Die Gewerkschaft der Pflichtschullehrer sieht darin einen Gesetzesbruch, da das Lehrpersonal eine genau festgelegte Jahresarbeitszeit habe. Können Sie diese Kritik der Gewerkschaft als langjähriges Gewerkschaftsmitglied nachvollziehen?
Nein, für dieses Vorgehen habe ich keinerlei Verständnis. Die Gewerkschaft führt hier eine Scheindebatte. Sie haben jegliches Gespür verloren. Der Fokus auf diese zwei schulautonomen Tage war ein aufgelegter Elfmeter für Lehrerbashing. Jetzt fühlen sich alle bestätigt, die Lehrer für faul halten. Natürlich stehen den Lehrern diese freien Tage zu. Aber wir haben doch gerade wirklich andere Probleme als diese Überschreitung der Jahresnorm an Arbeitszeit. Mit dieser Debatte schadet die Gewerkschaft uns Lehrern mehr, als sie uns nützt. Es wäre besser gewesen, sie hätten sich dafür ausgesprochen, dass wir wie das medizinische Personal auch die guten FFP-2-Schutzmasken zum Unterrichten bekommen. Das wäre sinnvolle Gewerkschaftsarbeit gewesen. Es geht jetzt um den Schutz unserer Gesundheit und nicht um schulautonome Tage.
Direktoren und Lehrer tragen die Verantwortung, dass die Hygieneregeln eingehalten werden. Wie wurden diese Vorgaben unter den Lehrern aufgenommen?
Die Lehrer sind momentan in zwei Gruppen gespalten. Die einen, bei denen das Homeschooling nicht so gut funktioniert, weil die Kinder zu jung sind oder sie viele benachteiligte Kinder mit ihren Angeboten nicht erreichen. Sie würden am liebsten normalen Unterricht machen, und so gut es geht auf Hygiene achten. Allerdings ohne die vielen realitätsfernen Vorgaben aus dem Ministerium. Und die anderen, bei denen E-Learning gut funktioniert hat, und die auch leicht bis zum Herbst so hätten weitermachen können.
Zu welcher Gruppe zählen Sie sich?
Prinzipiell bin ich fürs Hochfahren der Schulen. Ich verzweifle aber bei dem Gedanken, dass ich den ganzen Tag mit einer Maske hinter den Kindern herlaufen muss, sie an den Abstand und an die Sicherheitsregeln erinnern muss, alles Mögliche desinfiziere, aber eben kaum wirklich unterrichten werde. Denn das war vorher schon eine Herausforderung. Jetzt wird es noch schwieriger sein. Mit diesen Vorgaben wird der neue Schulalltag ab Mitte Mai von einer militärischen Erziehung geprägt sein. Tu dies nicht, lass das, halte Abstand, bleib sitzen, setz die Maske richtig auf. So kann man Kinder nicht unterrichten. Das ist nicht Sinn und Zweck der Schule. In die Schulen kommen jetzt Kinder, die sechs Wochen zu Hause waren und unter Strom stehen. Und wir sperren diese Kinder jetzt quasi in einen Schulkäfig.
Durch den geplanten Schichtbetrieb wird das Personalproblem in den Schulen noch größer. Wie sollen parallel Unterricht und Betreuung gewährleistet werden?
Genau das ist das Problem. Es ist nicht zu gewährleisten. Damit das Personalproblem nicht noch größer wird, werden auch nur sehr wenige Pädagogen freigestellt. Viele Lehrer haben das Gefühl, dass dabei weniger auf ihre Gesundheit geachtet wird, sondern eigentlich nur darauf geschaut wird, dass so viele wie möglich in den Schulen Kinder betreuen können. Also werden zum Beispiel Lehrer mit Krebserkrankungen, die länger als sechs Monate zurückliegen, nicht freigestellt. Ebenso wenig zählen Diabetiker, Schwangere und Asthmatiker offiziell zur Risikogruppe. Wie diese Gruppen festgelegt werden und auf welcher Basis diese Auswahl getroffen wird, erfahren wir nicht. Viele haben nicht nur Angst um die eigene Gesundheit, sondern auch davor, jemanden zu Hause anzustecken. Der Druck aus den eigenen Familien der Lehrer ist enorm.
Haben Sie das Gefühl, dass zu viel Verantwortung auf die Lehrer abgewälzt wird nach dem Motto: Wenn später die Infektionszahlen wieder steigen und es zu einer zweiten Corona-Welle kommt, dann ist das die Schuld der Lehrer?
Der Druck, der hier aufgebaut wird, ist riesig. Viele Politiker und Gewerkschafter gehen auch nicht ehrlich mit dieser Situation um. Niemand spricht offen über das Risiko. Ja, Lehrer werden sich anstecken können, egal wie gut wir versuchen, die Vorgaben einzuhalten. Und auch Kinder werden sich infizieren. Die Schulen in dieser Art hochzufahren, finden viele Pädagogen, mit denen ich gesprochen habe, wirklich problematisch. Und das hat nichts damit zu tun, dass Lehrer nicht arbeiten wollen. Im Gegenteil, alle, die ich kenne, wollen in die Klassenzimmer zurückkehren. Aber die Bedingungen müssen sich auch an den Realitäten orientieren. Die Verantwortung für das Infektionsgeschehen wird jetzt auf die Schulleiter und die Lehrer abgewälzt. Wir Lehrer sollen für alles verantwortlich sein. Die Toiletten sollen wir putzen, die Klassenzimmer desinfizieren. Bislang haben wir einen Liter Desinfektionsmittel für die gesamte Schule bekommen. Direktoren dürfen jetzt zwar autonom sein, wenn es darum geht, zu schauen, dass sich niemand infiziert, dass die vorgegebenen Hygienemaßnahmen eingehalten werden. Aber sie dürfen zum Beispiel nicht darüber entscheiden, wie die Schüler in Gruppen eingeteilt werden. Das gibt das Ministerium vor.