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Die Illusion von der Selbstversorgung
9. April 2020 Coronavirus Lesezeit 11 min
Österreich könne sich mit Nahrungsmitteln gut selbst versorgen, heißt es immer wieder. Tatsache ist aber, dass die heimische Landwirtschaft an allen Ecken und Enden international vernetzt ist.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Coronavirus und ist Teil 45 einer 106-teiligen Recherche.

Der Warenverkehr über Österreichs Außengrenzen ist frei. Aber seit es im Zuge der Virusbekämpfung wieder Grenzkontrollen und Beschränkungen im Personenverkehr gibt, fehlen in der Landwirtschaft die osteuropäischen Saisonarbeiter. Die Episode um von Deutschland an der Grenze aufgehaltene Lieferungen von Schutzmasken zeigt, dass die Regeln des EU-Binnenmarktes in Krisenzeiten nicht mehr bedingungslos gelten. Aus Asien hört man, dass Länder und Menschen Reis bunkern und China den Export eingestellt hat. Russland und die Ukraine beschränken ihrerseits den Verkauf von Getreide ins Ausland. Hamsterdenken führt zu künstlichen Knappheiten.

Was leitet sich aus all dem für Österreich ab? Ändert die neue Lage die Einschätzung der langfristigen Ernährungssicherheit? Dass hierzulande etwa die jährliche Rind- und Kalbfleischproduktion mit einem Selbstversorgungsgrad von mehr als 140 Prozent (2018: 141 Prozent) deutlich über dem Verbrauch liegt, klingt erstmal beruhigend. Jedenfalls für die Liebhaber eines originalen Wiener Schnitzels.

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Die Angst zu verhungern, sitzt tief

Generell zeigt sich in der aktuellen (Corona-)Krisenzeit nicht zuletzt im Ansturm auf die Supermärkte kurz vor Inkrafttreten der Ausgangsbeschränkungen, dass die instinktiv größte Sorge des Menschen der Ernährung gilt. Die Angst zu verhungern sitzt tief in unseren steinzeitlich geprägten Gehirnen. Zuletzt bestätigt wurde sie hierzulande unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Die zerstörte Infrastruktur, extreme Trockenheit und nicht zuletzt ein Mangel an hochwertigem Saatgut und „Kunstdünger“ sorgten im Jahr 1946 für bedrohliche Lebensmittelknappheit. Ein nüchterner Bericht über die Zuteilung von Essensrationen im Salzburger Tagblatt lässt aktuelle Klopapier-Panikkäufe vergleichsweise amüsant erscheinen.

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„Da die derzeitige Versorgungslage eine Zuteilung von Weizengrieß und Haferflocken nur an Kinder bis zu 6 Jahren und werdende Mütter zulässt, erhalten die übrigen Verbraucher an Stelle von Weizengrieß und Haferflocken sowie Teigwaren, welch letztere zur Gänze in Fortfall kommen, in kalorienmäßigem Ausgleich Reis und Maisgrieß zugeteilt.“

Mangel sehr unwahrscheinlich

Ist diese Angst in der aktuellen Krise wieder berechtigt? Nein! Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass irgendwem in Österreich auf absehbare Zeit ein Mangel an Lebensmitteln droht.

Trotzdem wird derzeit wieder vehementer die Bedeutung der heimischen Lebensmittelproduktion betont. Zum Klimaschutzargument (kurze Transportwege, hohe Umweltstandards bei der Produktion) hat sich das Sicherheitsargument (Produktion innerhalb der Staatsgrenzen) hinzugesellt. Das Landwirtschaftsministerium spricht auf seiner Informationsseite zu COVID-19 von einem „sehr hohen Selbstversorgungsgrad bei wesentlichen Grundnahrungsmitteln“, fügt aber hinzu: „In manchen Lebensmittelkategorien sind aber auch Importe notwendig.“ Wäre es übertrieben, das als beschönigend zu bezeichnen?

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Vier Gründe, warum sich Österreich nicht eigenständig ernähren kann

Schaut man auf die Zusammenhänge und konkrete Zahlen und Fakten, dann zeigt sich im Nahrungsmittelsektor eine weit größere Abhängigkeit vom Ausland, als vielen Menschen bewusst sein dürfte.

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1. Der geringe Selbstversorgungsgrad bei vielen wichtigen Produkten

Abgesehen von Milch und Fleisch produzieren heimische Bäuerinnen und Bauern zum Teil deutlich weniger Nahrungsmittel, als die Bevölkerung verbraucht; wobei Verluste durch Verderb und Verschwendung auch zum Verbrauch zählen. Bei Getreide und Eiern betrug der Selbstversorgungsgrad zuletzt 86 Prozent, bei Gemüse 56, bei Ölsaaten wie Raps oder Soja 48 und bei Obst 40 Prozent.

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Was Selbstversorgungsgrad bedeutet

Laut Statistik Austria gibt der Selbstversorgungsgrad an, „in welchem Umfang die Erzeugung der heimischen Landwirtschaft den Bedarf (Gesamtverbrauch) decken kann oder um welchen Prozentsatz die Produktion den inländischen Bedarf übersteigt“.

Der Gesamtverbrauch (Inlandsverwendung) errechnet sich dabei aus der Produktionsmenge zuzüglich der Einfuhren und abzüglich der Ausfuhren sowie der (positiven oder negativen) Lagerbestandsveränderung im Vergleich zum Vorjahr.

Mehr dazu hier.

Mehr Daten zum Thema Selbstversorgung

Wichtig ist: Der Selbstversorgungsgrad bezieht sich nicht ausschließlich auf die direkte Verwertung als Nahrungsmittel, sondern schließt auch die indirekte über die Verfütterung an Masttiere sowie die Verwendung etwa von Getreide oder Raps für technische Zwecke wie Biokraftstoffe oder Rohstoffe für die Nicht-Lebensmittelindustrie mit ein.

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Auf Luxus verzichten

Zudem bedeutet ein geringer Selbstversorgungsgrad bei einem bestimmten Produkt nicht, dass nicht mehr davon produziert werden könnte. Die Situation ist ja vor allem daran ausrichtet, was wo auf dem Globus gerade am günstigsten hergestellt werden kann. Sojaanbau (für Tierfutter) zum Beispiel ist in Amerika effizienter als in Europa. Alleine Österreich importiert deshalb jährlich annähernd 500.000 Tonnen Soja.

Würden Importe längerfristig ausfallen, käme es automatisch zu Verschiebungen in der heimischen Produktion. Theoretisch ließen sich Schweinebestände abbauen und das aufgesparte Futter beziehungsweise die Anbauflächen dafür direkt für die Ernährung der Menschen nutzen. Verhungern müssten wir deswegen noch lange nicht, aber unser täglicher Speiseplan sähe unter Umständen ganz anders aus. Auf den Luxus, alles Denkbare zu jeder Jahreszeit preisgünstig und in nahezu unbegrenzter Menge zu bekommen, müssten wir dann verzichten.

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2. Der Mineraldünger kommt aus dem Ausland

In der Landwirtschaft sind als Pflanzendünger vor allem drei Nährstoffe wesentlich: Stickstoff, Phosphor und Kali. Während Stickstoff-Dünger mithilfe des Haber-Bosch-Verfahrens großindustriell (und energieaufwendig) aus der Luft gewonnen wird – theoretisch an jedem Ort der Welt, praktisch auch beim Unternehmen Borealis L.A.T. in Linz – basieren Phosphor- und Kalidünger auf natürlichen Vorkommen von entsprechenden Mineralien, die zu Düngern weiterverarbeitet werden.

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Phosphormineralien finden sich unter anderem in Nordafrika (Marokko, Westsahara), China und den USA (Florida). Die bedeutendsten Abbaustätten von Kali liegen in Ländern wie Russland, Weißrussland, Kanada oder Deutschland. Akuter Mangel ist in den nächsten Jahrzehnten bei keinem der Nährstoffe zu erwarten, wenngleich es unterschiedliche Einschätzungen zur Menge der weltweiten Phosphorvorräte gibt. Österreich hat aber nichts von beidem und ist jedenfalls auf Importe angewiesen.

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Die Biolandwirtschaft kommt zwar im Wesentlichen ohne von außen zugeführte Nähstoffe aus (seltene Ausnahmen sind etwa Rohphosphate oder Kali-Rohsalz), erwirtschaftet daher aber auch deutlich geringere Erträge pro Fläche.

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3. Wichtige Pflanzenschutzmittel-Zutaten werden in China und Indien synthetisiert

Ähnlich wie im Medizinbereich, wo viele Arzneimittelzutaten heutzutage in China und Indien hergestellt werden, verhält es sich auch bei Pflanzenschutzmitteln. Chemiefabriken der beiden asiatischen Großmächte synthetisieren die allermeisten Wirkstoffe, die dann in europäischen Werken – zwei davon in Österreich – mit bis zu zehn Hilfsstoffen von unterschiedlichen Anbietern zu einem Pflanzenschutzmittel formuliert, also zum handelsfertigen Produkt gemischt werden. Fällt beispielsweise die Lieferung des Deckels der Verpackungskanister aus, steht die gesamte Produktion.

Zwar wollen viele Menschen in den Spritz- und Beizmitteln zur Bekämpfung von Unkraut und Schädlingen verzichtbare „Ackergifte“ erkennen, aber selbst die Biolandwirtschaft kann nicht ganz auf sie verzichten. Immerhin: Die im biologischen Obst-, Wein- und Erdäpfelanbau unverzichtbaren Fungizide (Mittel gegen Pilze) stellt etwa der heimische Hersteller Kwizda AGRO in Leobendorf (Niederösterreich) her. Dieser nutzt dazu Kupfer, welches zuvor in Brixlegg (Tirol) aus Altkupfer recycelt wurde. Auch wenn das Metall ursprünglich ebenso aus fernen Gefilden wie Chile, Peru, China oder dem Kongo stammt.

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Früher: Männer mähen Getreide mit Sensen (bei Persenbeug, Niederösterreich, 1930er Jahre). Heute: Moderne Mähdrescher mähen und dreschen in einem Arbeitsgang mit vielfach erhöhter Leistung.
Bild: Collage | APA | Addendum
Früher: Eine von Hand bestückte Dreschmaschine trennt die Körner vom Stroh (bei Beauce, Frankreich, um 1900). Heute: Moderne Mähdrescher mähen und dreschen in einem Arbeitsgang mit vielfach erhöhter Leistung.
Bild: Collage | APA | Addendum

4. In Wirklichkeit gibt es weder österreichische Traktoren noch Erntehelfer

Die Ernährung der Bevölkerung ohne Traktoren, Mähdrescher und andere Maschinen ist heute für moderne Gesellschaften nicht mehr denkbar. Auch wenn sich ausschließlich in modernen Gesellschaften immer wieder Einzelne finden, die der Idee einer traditionellen und wenig mechanisierten Landwirtschaft nachhängen, ohne die Konsequenzen zu bedenken.

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Zwar gibt es in Österreich bedeutende Landmaschinenhersteller wie etwa die Familienunternehmen Lindner oder Pöttinger und nicht zuletzt die Traditions-Traktorenmarke Steyr. Steyr gehört heute aber zum internationalen Konzern CNH Industrial mit Sitz in London. Und nichts von dem, was diese Firmen zusammenbauen, wäre ohne ein weltweites Netz an Zulieferern denkbar.

Die Steyr-Traktoren etwa – die unter ihrer rot-weißen Bemalung übrigens oft nahezu identisch mit Traktoren der konzerneigenen Marke Case IH sind – bestehen aus jeweils rund 9.300 Einzelteilen, die laut Konzern von rund 430 Zulieferfirmen produziert werden.

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Messestand mit Steyr-Traktor auf der Agritechnica 2019 in Hannover

Bei Lindner-Traktoren sind es mehr als 5.000 Bauteile; wobei die Motoren aus England, Hydraulik-Anlagen und Kabinen aus Deutschland und das Getriebe aus Steyr kommen. Müßig zu überlegen, woher die Zulieferer ihrerseits all ihre Rohstoffe und Komponenten beziehen. Klar ist: Auch Asien spielt dabei eine Rolle.

Die Traktorenproduktion ist derzeit in ganz Europa coronabedingt so gut wie stillgelegt. Und der Vollständigkeit halber: Auch das Erdöl, das zu Dieselkraftstoff verarbeitet die Traktoren antreibt, stammt zum überwiegenden Teil nicht aus Österreich.

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Corona und die Erntehelfer

Trotz aller Technik ist in der Landwirtschaft einiges weiterhin per Hand zu erledigen. Zum Beispiel auf einem Anbaugerät hinter dem Traktor sitzend beim Salatsetzen. Oder über das Feld gehend, sich den ganzen Tag nach den zu erntenden Salatköpfen bückend. Auch danach, beim Waschen, Sortieren oder Verpacken braucht es Hände, die normalerweise zu Saisonarbeitskräften aus Osteuropa gehören. Diese drohen wegen der Coronakrise nun auszufallen. Es geht um 5.000 Erntehelfer und viele tausend mehr in den verarbeitenden Betrieben, laut Landwirtschaftsministerium alleine 9.000 in der Fleischverarbeitung.

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Erntehelfer liegen auf einem „Gurkenflieger“. (Eferding 2018)
Bild: Michael Windberger | Land schafft Leben
Auch die Ernte von Radicchio ist Handarbeit. (Tirol 2017)
Bild: Michael Windberger | Land schafft Leben

Die Idee ist nun, die Lücke mit aktuell arbeitslos gewordenen inländischen Kräften oder Studierenden zu füllen. Das Ministerium hat deswegen eine eigene Plattform (dielebensmittelhelfer.at) eingerichtet, die Arbeitswillige und Betriebe vermitteln soll. Ob das mehr als eine liebe Idee in Zeiten der allgemeinen gegenseitigen Solidaritätsbekundungen ist, wird sich zeigen. Die Arbeit ist beschwerlich und für österreichische Verhältnisse schlecht bezahlt. Schon im Mai 2018 schrieb die landwirtschaftliche Informationsplattform Land schafft Leben zum Thema Erntehelfer recht unverblümt:

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„Nun arbeitet aber abgesehen vom Bauern und seiner Familie seit vielen Jahren so gut wie kein Österreicher in den heimischen Plantagen, Feldern und Äckern. Österreichs Obst- und Gemüsebranche ist auf Gedeih und Verderb auf fleißige, ausdauernde, hart arbeitende, bei Sonne, Regen, Wind und Wetter verlässliche ausländische Hände angewiesen. Projekte der Landwirtschaftskammer bzw. von Einzelbetrieben in Zusammenarbeit mit dem AMS mit dem Ziel heimische Arbeitslose für diese Aufgaben zu gewinnen, waren nur von äußerst mäßigem Erfolg gekrönt, wie mir einige Bauern berichten. Der durchschnittliche Österreicher sei einfach nicht bereit sich ,den Arsch aufzureißen‘ für vergleichsweise wenig Geld.“

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Zusammengefasst: Die Lebensmittelversorgung in Österreich ist gesichert. Auch die Coronakrise wird nicht zu einem längerfristigen Ausfall von Lieferketten führen. Je länger die Krise allerdings dauert, umso mehr dürfte sich das Bewusstsein dafür schärfen, wie sehr ein allzeit reich gedeckter Tisch und somit unser Wohlstand im Allgemeinen von der heimischen Landwirtschaft, aber eben auch von internationalen Warenströmen und globaler Arbeitsteilung abhängig sind.

Die Vorstellung, Österreich könne ohne gröbere Auswirkungen eine Art autarke, vom Ausland unabhängige Landwirtschaft betreiben und so völlige Ernährungssouveränität erlangen, ist eine Illusion. 

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