Mit der Aussprache tut sich Kári Stefánsson ein bisschen schwer. „I… Is… Ischgl“, versucht er es. Der Isländer kennt den Tiroler Skiort nur aus den Nachrichten. Wie so viele andere, die von den Aprés-Ski-Hütten gelesen haben, in denen noch tausende Urlauber grölten, tanzten und tranken – während die Gesundheitsbehörden mehrerer Länder bereits warnten, dass man sich dort mit dem neuartigen Coronavirus infizieren könne. Die Isländer hatten als Erste Alarm geschlagen.
Deswegen kennt der 70-jährige Stefánsson jenen Skiort, dessen Namen er nicht so gut aussprechen kann. Die Ersten der bislang 588 Infizierten in Island steckten sich in Österreich oder Italien an. Kári Stefánsson untersucht seitdem, wie sich das Virus in den Wochen darauf auf seiner Heimatinsel verbreitet hat.
Stand vom 23. März 2020 laut Datenbank der UN-Organisation OCHA
Die österreichische Regierung will nach anfänglichem Zögern nun ebenfalls die Tests massiv ausweiten, um „hunderttausende Menschen“ zu prüfen. Der Isländer hat bereits vor Wochen damit begonnen, vollkommen gesund wirkende Landsleute zu testen. Mit einer repräsentativen Stichprobe wollte er herausfinden, wie groß die Zahl jener Isländer sein könnte, die das Coronavirus in sich trugen, aber keine oder wenig Symptome zeigten – und sich deswegen nirgends meldeten.
Also bot Stefánsson an, alle Isländer, die wollten, testen zu lassen. Sie sollten sich bei seinem Forschungsunternehmen Decode melden, das der studierte Neurologe in den neunziger Jahren in Island gegründet hatte, um als Erster das Genom einer ganzen Bevölkerung und in weiterer Folge genetische Komponenten von Krankheiten zu untersuchen. Die Regierung konzentrierte sich darauf, medizinische Verdachtsfälle zu testen – die Daten tauschte man aus.
Das Ergebnis: Hochrechnungen zufolge dürfte rund ein Prozent aller Isländer mit dem Coronavirus infiziert sein. Rund 5.800 Isländer wurden laut Stefánsson dafür getestet. Im Verhältnis zu seiner nur 364.000 Menschen zählenden Bevölkerung sind das so viel wie nirgends sonst auf der Welt.
Daraus ließ sich eine Dunkelziffer aller Infizierten ableiten. Doch das ist nicht alles: Dass sich Kinder unter zehn Jahren anstecken, sei – zumindest in Island – verglichen mit Erwachsenen viermal so unwahrscheinlich, sagt Stefánsson. Einmal infiziert, verlaufe die Krankheit bei Kindern milder. Vieles bleibe aber unklar: „Wir haben zum Beispiel einen Mitarbeiter mit einer COVID-19-Infektion. Seine Frau hat sich nicht angesteckt, obwohl die beiden immer im selben Bett geschlafen haben.“
Um herauszufinden, warum das so ist, testet Stefánsson nicht nur. Er lässt danach die gefundene Gensequenzen des Virus analysieren. „Das Virus aus Österreich besitzt eine bestimmte Gensequenz, das aus Italien eine andere. Dazu haben wir eine gefunden, die für England charakteristisch ist.“
Ob diese regional unterschiedlichen Gensequenzen des Coronavirus etwas über den Verlauf der Krankheit oder die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung verraten, kann Stefánsson bislang noch nicht sagen. „Wir hatten zum Beispiel eine Person, die in Österreich infiziert wurde“, sagt er. „Einige Teile des Virus hatten die Mutation, andere nicht. Alle von dieser Person angesteckten Personen bekamen aber nur das Virus mit der Mutation.“ Das lasse zwei Erklärungen zu: Entweder handelt es sich um einen Zufall. Oder das Virus mit der Mutation sei ansteckender. „Es gibt noch vieles, was wir über dieses Virus lernen müssen“, sagt Stefánsson.
Er will weiterhin möglichst viele seiner Landsleute prüfen lassen – egal ob sie Symptome zeigen oder nicht. Die dafür notwendigen Tests zahlt sein Unternehmen Decode. Wie viel das am Ende kostet, will Stefánsson nicht verraten. Als er vor mehr als zwei Jahrzehnten mit seinen Untersuchungen des isländischen Genoms begann, galt er als kontroversiell. Zu seinen Kritikern gehörten auch Datenschützer, die sich um die medizinischen Daten sorgten, da Decode auch mit Pharma-Forschungsunternehmen zusammenarbeitet.
Die Idee zu den massiven Coronavirus-Tests kam Stefánsson, als Ende Februar die ersten Fälle von infizierten Isländern bekannt wurden. „Ich war überzeugt, dass man die Verbreitung des Virus in der Bevölkerung kennen muss, um vernünftige Maßnahmen zur ergreifen“, sagt er. Vor kurzem stritt er wieder einmal mit der isländischen Datenschutzbehörde, die eine internationale Veröffentlichung von detaillierteren Ergebnissen seiner Coronavirus-Analysen um eine Woche verzögert haben soll.
Nun muss Stefánsson aber ohnehin eine Pause einlegen. Zwar könnten seine Labors rund 1.100 Personen pro Tag testen. Doch derzeit gibt es in Island kaum noch Abstrich-Kits, um das Genmaterial einzusammeln. Regierungen auf der ganzen Welt haben begonnen, Tests und Kits aufzukaufen. „Testen, testen, testen“, empfahl Tedros Adhanom Ghebreyesus, der Chef der Weltgesundheitsorganisation, vor einer Woche den vom Coronavirus betroffenen Ländern.
Die österreichische Regierung will ihre Bemühungen verstärken und nach Wochen nun auch „testen, testen, testen“. Man wolle die Testkapazität auf bis zu 15.000 pro Tag aufbauen und „hunderttausende Menschen breitenwirksam testen“, so Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) am Dienstag. Denn eine repräsentative Stichprobe wie in Island wurde in Österreich bislang nicht erhoben. Aufgrund der rund 21-mal so hohen Bevölkerungszahl ist das auch eine Frage von Ressourcen: Um auf die isländischen Werte zu kommen, müssten in Österreich rund 120.000 Tests durchgeführt werden. Jetzt, wo alle Staaten mehr testen wollen, sind die Testkits am Weltmarkt rar geworden.
Doch auch als noch genügend Tests vorhanden gewesen sein sollten, dürfte nicht alles reibungslos abgelaufen sein. Das zeigt sich am Beispiel Tirol: Nachdem Anfang März die ersten Infizierten in Island identifiziert worden waren, prüften die Tiroler Behörden nicht alle Mitarbeiter der Hotelbetriebe durch, in denen sich die Reisegruppe aus dem Norden aufgehalten hatte – sondern nur jene, die bereits Symptome hatten. Das geht aus einer Rekonstruktion der Ereignisse hervor, die das Land Tirol selbst am 16. März verschickte hat. Laut Medienberichten steht nun ein nicht genannter Betrieb in Ischgl sogar im Verdacht, den Infektionsfall eines Mitarbeiters im Februar nicht an die Gesundheitsbehörden gemeldet zu haben, wie vorgeschrieben. Ob die fragliche Person überhaupt getestet wurde, ist bislang nicht bekannt. Die zuständige Bezirkshauptmannschaft Landeck leitete jedenfalls eine Sachverhaltsdarstellung an die Staatsanwaltschaft Innsbruck weiter.
„Ischgl ist interessant“, sagt Kári Stefánsson. „Die isländischen Behörden haben die österreichischen gewarnt. Die haben das komplett ignoriert. In Island lässt sich die große Mehrheit der Fälle auf Reisen nach Österreich und Italien zurückführen.“ Das ist alles, was er dazu sagen will.