Am 2. Juli, zu Beginn der Sommerferien, stellte die Bundesregierung ihre Corona-Sensoren noch etwas schärfer. Flankiert von Spitzenleuten aus seinem Ressort trat Gesundheitsminister Rudolf Anschober wie so oft in diesem Jahr vor die Fernsehkameras und kündigte an, die Zahl der Testungen auf SARS-CoV-2 deutlich zu erhöhen.
Anschober sprach damals von einem „Quantensprung“. Das war keine Übertreibung, denn die mithilfe der Tests erhobene Zahl an Neuinfektionen ist für viele Regierungen weltweit jener Indikator, auf dessen Basis weitere, zum Teil die bürgerlichen Freiheiten betreffende, Entscheidungen getroffen werden. Die Überlegung dahinter: Mehr Tests liefern bessere Daten. Und bessere Daten ermöglichen bessere Entscheidungen.
Doch die Aussagekraft dieser Daten steht nun zusehends in der Diskussion. Einen weiteren Beitrag dazu liefert eine breit angelegte Untersuchung sogenannter „Corona-Labors“, die vor dem Sommer auf Wunsch des Gesundheitsministeriums durchgeführt wurde. Das stark vereinfachte Fazit der Studie lautet: Verlässlichkeit sieht anders aus. So wurde mehr als jede dritte (37 Prozent) nur schwach mit Viren belastete Probe überhaupt nicht erkannt. Bei Proben mit mittlerer Viruslast waren es immerhin noch 3 Prozent.
Auf Basis der Studienergebnisse stellt sich einmal mehr die Frage, wie valide die vermeintliche Faktenbasis ist, auf deren Grundlage schwerwiegende Entscheidungen wie Reisewarnungen, Schul- und Geschäftsschließungen oder gar die Freiheit der Bürger beschränkende Maßnahmen gründen.
Es war nicht irgendwer, der Ende Mai die Präzision der heimischen Corona-Labors unter die Lupe nahm. Durchgeführt wurde der Rundversuch von einem Konsortium, bestehend aus dem Zentrum für Virologie der Medizinischen Universität Wien und der ÖQUASTA. Die ÖQUASTA (Österreichische Gesellschaft für Qualitätssicherung und Standardisierung medizinisch-diagnostischer Untersuchungen) ist eine Art TÜV für Labors im Gesundheitsbereich. Beauftragt mit der Untersuchung wurden die beiden vom Gesundheitsministerium.
Die Idee der obersten Gesundheitsbehörde war, am Ende eine Empfehlungsliste für zuverlässige Labors herauszugeben. So erzählte es uns ein involvierter Mitarbeiter. Gegenüber der Öffentlichkeit möchte die Person unerkannt bleiben, denn: Uns gegenüber äußerte sie nun den Verdacht, dass diese Liste bis heute nicht erstellt wurde, weil die Testergebnisse vergleichsweise schlecht ausfielen. Und sich dadurch zusätzlich eine Reihe weiterer Fragen ergeben würde. Etwa: Wie hoch ist die Dunkelziffer? Wie verändert sich dadurch – statistisch ausgedrückt – die Gefährlichkeit des Virus?
Was ist dran an dieser Vermutung? Und eignen sich Testergebnisse von Infektionsverdachtsfällen noch als Entscheidungsgrundlage? Das Gesundheitsministerium ließ unser mehrfaches Ersuchen um Stellungnahme zwei Wochen lang unbeantwortet. Das Kollektiv der Studienautoren hingegen empfiehlt in seinem Paper eine „Verbesserung der Sensitivität“ der momentan eingesetzten Testverfahren. Denn die Erkenntnisse aus ihrer Untersuchung der Corona-Labors sind durchaus interessant. Und so entstanden sie:
Bereits im April dachte man bei der ÖQUASTA aus Eigeninitiative über eine Bewertung der Ergebnisse von Corona-Labors nach. Anschließend nahm jedoch die Virologie der Meduni, mit der man auf mehreren Ebenen regelmäßig kooperiert, Kontakt mit der Organisation auf. Das Gesundheitsministerium habe eine Untersuchung beauftragt, und man wolle – einmal mehr – kooperieren.
Gesagt, getan: Rasch bildete sich ein Projektteam. Und genauso rasch entstand eine Liste der zu untersuchenden Labors. Ein großer Teil davon entstammt jener Gruppe, die regelmäßig von der ÖQUASTA untersucht wird. Der Rest wurde durch Einrichtungen untersucht, die Virologie der Meduni und das Gesundheitsministerium für relevant hielten, bzw. die von den Behörden dazu verpflichtet wurden, für die Corona-Testprogramme zur Verfügung zu stehen. Am Ende hatte man also 82 Einrichtungen identifiziert, die man allesamt mit einem Fragebogen anschrieb und um Teilnahme ersuchte. 52 davon, darunter laut Projektteam alle großen und relevanten Labors des Landes, willigten ein.
Am 18. Mai war es so weit. Per Nachtexpress wurden die zuvor präparierten Testmuster an die Labors geschickt. Insgesamt waren es 67 Proben-Sets, da 10 der 52 Labors mehr als eine Testmethode anwenden wollten. Jedes Test-Set bestand aus vier Proben: eine negativ, die anderen drei unterschiedlich dicht mit Material des Coronavirus belastet. Bis 26. Mai hatten die Labors Zeit, ihre Testergebnisse einzumelden. Anschließend begann die Auswertung.
Erstaunlich an ihnen scheint, dass sie gleich mehrere Details der bisherigen Debatte zu Corona-Tests zu widersprechen scheinen. Erstens: Negative Proben, die fälschlicherweise als positiv ausgegeben werden, waren in der Testreihe kein Problem. Zweitens: Eine bedeutende Zahl an Infizierten wird bei den Tests übersehen. Wer in den vergangenen Wochen und Monaten die Berichte zum Thema verfolgt hat, könnte jedoch den Eindruck gewonnen haben, dass es genau umgekehrt ist.
Kritiker der offiziellen Infektionszahlen wiesen in der Vergangenheit immer wieder darauf hin, dass ein Gutteil der steigenden Infektionen allein auf die zahlenmäßige Ausweitung des österreichischen Testprogramms zurückzuführen sein müsse. Begründung: Aus Untersuchungen wisse man, dass ein Prozent der Tests falsch positive Ergebnisse auswerfe. Die zentrale Datenbasis hierfür ist ein Labor-Test aus Deutschland, der bereits im April auf das Problem falsch positiver Testergebnisse hinwies. Jedoch: Im Testlauf der Wiener Virologen und der ÖQUASTA ist kein einziges falsch positives Testergebnis dokumentiert.
Umgekehrt galt es bisher bei korrekter Entnahme eines Rachenabstrichs als nahezu ausgeschlossen, dass Infizierte mit geringer Virusbelastung übersehen werden. Doch auch diese Erkenntnis erscheint unter Berücksichtigung der Ergebnisse als fragwürdig. 37 Prozent der österreichischen Labors erkennen demnach entsprechende Proben nämlich überhaupt nicht. 3 Prozent sind es bei mittelmäßiger Viruslast. Bedeutet das, dass die Behörden mit ihren Tests und Dashboards der wahren Größenordnung der Infektionszahlen nicht gerecht werden?
Ja. Diese Einschätzung vertritt jedenfalls der Infektiologe Franz Allerberger. Am vergangenen Mittwoch berichtete der Abteilungsleiter des Bereichs Humanmedizin bei der staatlichen AGES in einem ORF-Interview davon, dass die Sterblichkeitsrate unter Corona-Infizierten bei 0,25 Prozent und damit auf dem Niveau der jährlichen Grippe liege. Hochgerechnet würde das bedeuten, dass sich hierzulande bisher nicht wie offiziell getestet knapp 25.000, sondern hochgerechnet etwa 290.000 Personen mit dem Virus infiziert haben müssten. Wie kann es sein, dass das von der Regierung angeordnete Testprogramm derart weit daneben liegt?
Zum einen werden bei weitem nicht alle Verdachtsfälle identifiziert und getestet. Zum anderen relativiert zumindest einer der Studienautoren die Ergebnisse der Labor-Überprüfung. Stephan Aberle leitet am Wiener Institut für Virologie ein Referenzlabor und war Teil des aus unterschiedlichsten Experten bestehenden Projektteams. Gegenüber Addendum sagt er: „Wir stellen uns inzwischen die Frage, wie relevant das ist, was wir da herausgefunden haben.“
Und zwar völlig wertfrei und streng wissenschaftlich gesehen. Aberle spricht damit den Bezug zur Realität der eigenen Corona-Testproben an. Drei der vier Testmuster waren positiv, allerdings mit höchst unterschiedlicher Viruslast, wie es unter Experten heißt. Das bedeutet: Die Mengen an Virusmaterial pro Milliliter unterschieden sich enorm. Virologen geben diesen Wert in „Copies“ pro Einheit an. Und dieser betrug beim betroffenen Versuch 1.000.000, 10.000 und 500 pro Milliliter.
Übersetzt in die Realität der Corona-Tests im echten Leben bedeutet das, dass der kleinste Wert wohl knapp an der technisch machbaren Nachweisgrenze liegt. Aberle schätzt, dass ähnliche geringe Konzentrationen bei Menschen nur ganz am Anfang und ganz am Ende einer Infektion vorkommen. „Das betrifft ein Zeitfenster von der Dauer etwa eines halben Tages.“ Oder laut Studie ein Prozent der Getesteten. Bei der Anzahl der insgesamt durchgeführten Tests handelt es sich dabei durchaus um eine relevante Größe.
Bei der Interpretation der Studienergebnisse sei es nun laut Stephan Aberle wichtig zu unterscheiden, für welche Art von Patienten die jeweils untersuchten Proben stünden. Nämlich: „Personen, die die Erkrankung hatten, deren Infektion jedoch im Abklingen ist und die deshalb weder für die betroffene Person noch für andere eine Gefahr darstellen, oder Menschen, die akut infektionsrelevant sind.“
Dabei gibt es noch weitere Faktoren, die ein Testergebnis auch ganz ohne Unschärfen bei Testverfahren selbst maßgeblich beeinflussen können: die Art und Weise nämlich, mit der die Abstriche für die eingesetzten PCR-Tests genommen werden. So fand man heraus, dass ausgerechnet Personen mit schweren Symptomen in den oberen Atemwegen häufig gar keine Viren mehr haben. Führt man dann Tests und Rachenabstriche durch, sind 20 bis 30 Prozent falsch negative Ergebnisse zu erwarten.
Zudem scheinen die eingesetzten PCR-Tests nur wenig über die Infektiösität der untersuchten Patienten auszusagen. Der Zeitraum, in dem man in einer Probe Virus-Erbgut nachweisen kann, deckt sich nämlich bei weitem nicht mit jenem, in dem ein Infizierter auch andere Menschen anstecken kann. Der deutsche Virologe und Biochemiker Alexander Kekulé bezog sich zuletzt in einem Podcast des MDR auf eine entsprechende Untersuchung aus Hongkong. Kekulés Überlegung dazu lautet: „Ich glaube, wir müssen epidemiologisch in die Zukunft blicken und überlegen: Was sagt eigentlich ein positiver PCR-Test aus? Und wie lange muss man Menschen isolieren, nachdem sie krank geworden sind?“
Dokumente dazu:
SARS-CoV-2-Virusgenomnachweis OEQUASTA
Journal-Beitrag