Szenario eins:
Etliche COVID-19-Patienten liegen bereits auf der Intensivstation. Die Krankenschwestern kontrollieren die Monitore, die Ärzte ziehen ihre Runden. Sie wissen: Ein Bett ist noch frei, dann gibt es hier keinen Platz mehr. Dann der Anruf: Zwei Patienten sind mit der Rettung eingetroffen, sie müssen an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden, wenn sie überleben sollen. Wer von den beiden bekommt das Bett – und wer nicht?
Szenario zwei:
Die Betten der Intensivstation sind seit Tagen belegt. Viele sind COVID-19-Patienten, daneben aber auch andere Fälle, manche in hohem Alter, nach komplizierten Eingriffen oder Erkrankungen nicht mehr fähig, selbstständig zu atmen. Da kommt die Nachricht: Eine Frau, 25 Jahre alt, vor kurzem eingeliefert, muss nun dringend beatmet werden. Wird einem der schon Intubierten nun der Schlauch aus dem Hals gezogen, damit sie überlebt?
Noch bleiben Fragen dieser Art in Österreich fiktiv. Aufgebracht werden sie trotzdem: Die im Bundeskanzleramt angesiedelte Bioethikkommission veröffentlichte mitten in der Krise rund um das Coronavirus eine Stellungnahme, sie trägt den Titel: „Zum Umgang mit knappen Ressourcen in der Gesundheitsversorgung im Kontext der COVID-19-Pandemie“. Darin finden sich jene zwei spezifischen Probleme. Eins: Es kommen mehr zu beatmende Menschen, als Geräte frei sind. Zwei: Alle Betten sind voll, aber es kommen noch immer Kranke, die beatmet werden müssen.
Auch die österreichische Regierung hat Horrorszenarien entworfen: Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sagte, dass „Hunderttausende“ sterben könnten. Vizekanzler Werner Kogler (Die Grünen) warnte unter dem Eindruck der Bilder von überlasteten Krankenhäusern in Norditalien, Madrid und dem französischen Elsass eindringlich vor „italienischen Verhältnissen“. Kein Wunder, wenn da die Frage auftaucht, wie das funktionieren würde, wenn nichts mehr funktioniert. Wenn die Krankenhäuser überrannt werden und es von allem nicht genug gibt.
„Allein die Aussicht, von schwerst Kranken überrollt zu werden, ist für uns neu“, sagt Barbara Friesenecker. „Das verursacht viel Angst und Stress.“ In ihren 20 Jahren als Intensivmedizinerin hätte sie keine ähnliche Situation erlebt, sagt die stellvertretende Leiterin der Intensivabteilung der Universitätsklinik Innsbruck. Sie hat ihr eigenes, noch nicht eingetretenes Schreckensbild vor Augen: „Da sitzen in der Ambulanz 50 Leute – quietschblau im Gesicht. Das Coronavirus macht die Leute hypoxisch, sie haben einen Sauerstoffmangel. Der Arzt muss entscheiden: Er hat fünf Intensivbetten, aber da sitzen 50 Leute. Wen er nicht schnell beatmet, der wird sterben.“
Mit dem unbedingten Willen, eine Situation wie diese zu vermeiden, begründet die Regierung seit Wochen jene Maßnahmen, die das Land veränderten wie nie zuvor in der Zweiten Republik: Ausgangssperren, Geschäftsschließungen, Grenzkontrollen, Einschränkung der Grundrechte. Operationen wurden verschoben, Krankenhäuser umgeräumt, Behandlungen vertagt . All das soll helfen, damit wegen COVID-19 kein tausendfaches ethisches Dilemma entsteht.
Trotzdem beschäftigen sich manche Mediziner damit, was passieren soll, wenn es trotz allem so weit kommen sollte. Dabei taucht ein Begriff auf, der meist für Notsituationen reserviert scheint: die Triage. Schon das Wort allein kann zu Diskussionen führen. Es stammt aus dem Französischen und bedeutet so viel wie „Sortieren“ oder „Auswahl“. Oft wird es mit Krieg assoziiert oder mit Katastrophen – in Situationen, wo viele Verletzte in kurzer Zeit nach festgelegten Standards zur Behandlung eingereiht werden. Ein Vorgang, der so auch täglich in Krankenhäusern stattfindet, wenn entschieden werden muss, welcher Patient sofort behandelt werden sollte und welcher noch etwas länger warten kann. „In der Medizin verwenden wir das Wort Triage aber öfter mit Katastrophen oder Ressourcenmangel kombiniert“, sagt Intensivmedizinerin Friesenecker.
Dass Ärzte abwägen müssen, wen sie zuerst behandeln und dass am Ende dabei Menschen sterben können, ist prinzipiell nicht ungewöhnlich. „Aus medizinethischer Sicht gibt es mindestens vier analoge Szenarien, in denen ähnliche Dilemma-Situationen eintreten, die jetzt auch bei COVID schlagend werden können“, sagt Stefan Dinges, der am Institut für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien forscht und den Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) berät.
Er zählt auf: eine Katastrophe mit vielen Verletzten, zum Beispiel ein Zugunglück. Oder: Drei Personen brauchen eine Organspende, es ist aber nur ein Organ verfügbar. Oder: eine kleine Intensivstation mit nur fünf Betten, in der eine Komplikation nach einer Operation dazu führt, dass ein Patient länger liegen muss und wichtige Eingriffe wie beispielsweise eine Krebsbiopsie aufgeschoben werden müssen. Und zuletzt: Teure Medikamente wie zum Beispiel für eine seltene Muskelschwunderkrankung, die bis zu eineinhalb Millionen Euro kosten können. Wenn die Budgets knapp sind, kann nicht jeder Patient eines bekommen. „Wir kennen also ähnliche Situationen im Alltag“, sagt Ethiker Dinges. „Allerdings in anderen Dimensionen.“
Es sind schmale Grate, die Ärzte in Extremsituationen unter Zeitdruck und Stress beschreiten müssen. Für die COVID-19-Pandemie haben Ethik-Komitees und Fachgesellschaften in etlichen Ländern deswegen bereits mehr oder weniger konkrete Handlungsempfehlungen erstellt. Sie sollen helfen, mit ethischen Dilemmas umzugehen, auf die es keine richtige Antwort gibt.
Berüchtigt wurde ein Papier, das die italienische „Gesellschaft für Anästhesie, Analgese, Reanimation und Intensivmedizin“ am 6. März veröffentlichte: „Es kann am Ende erforderlich sein, eine Altersgrenze für die Zuweisung auf die Intensivstation festzulegen“, steht da. Man müsse Ressourcen für jene reservieren, die „größere Überlebenschancen“ haben und bei denen „möglicherweise mehr Lebensjahre zu retten sind“. In anderen Worten: Wenn es eng wird, kümmern wir uns um die Jungen. Auch in Frankreich sollen solche Leitfäden erschienen sein. In beiden Ländern betonten die Verfasser aber, dass Alter nicht als alleiniges Kriterium angeführt sei, sondern nur einen Faktor von mehreren darstelle.
Auf Italienisch lautet die genaue Formulierung: „a chi può avere più anni di vita salvata“
In Österreich hat die Tiroler Intensivmedizinerin Friesenecker an einer Handlungsempfehlung für den Fall einer eintretenden Ressourcenknappheit wegen der COVID-19-Pandemie mitgearbeitet, dazu wurde eine „Triage-Checkliste“ erstellt. Man habe damit auf die Sorgen und Ängste von Tiroler Kollegen reagiert, die sich fragten, wie wohl am besten zu handeln wäre, wenn die so oft beschworenen „italienischen Verhältnisse“ vielleicht doch auch hierzulande eintreten. „Dort ist dann Verzweiflung eingetreten, die Ärzte haben angesichts der vielen Patienten gesagt: nicht die 90-Jährigen, nicht die 80-Jährigen, in manchen Fällen ist man in der Zeit maximaler Überlastung bis auf 65 Jahre runtergegangen“, sagt Friesenecker. „Dem muss man ins Gesicht sehen.“
Die Österreichischen Gesellschaft für Anästhesie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) entwickelte daher eine Empfehlung. Sie heißt: „ICU-Triage im Falle von Ressourcenmangel“. Auch darin gilt Alter als Faktor. Je höher, desto wahrscheinlicher, dass ein Patient die belastende Intubation und Beatmung nicht überlebt. Bei COVID-19-Patienten gelte das speziell für Menschen über 85 Jahre. Dennoch müssen laut ÖGARI-Empfehlung auch andere Einflüsse wie zum Beispiel schwere Vorerkrankungen oder Gebrechlichkeit bedacht werden: „Alter alleine zur Prognoseeinschätzung zu verwenden, verletzt das verfassungsrechtlich verankerte Diskriminierungsverbot, weil ältere Menschen dann ‚weniger wert‘ wären als junge Menschen.“
Die ÖGARI-Checkliste ist als Stütze gedacht, die medizinische Entscheidungen für alle Beteiligten transparenter machen soll: Sie beinhaltet neben Fragen zu Alter und Vorerkrankungen etablierte medizinische Scores, anhand derer schnell eingeschätzt werden soll, wie es um den Patienten steht: Er kann noch alleine essen? Drei Punkte. Er kann sich nicht mehr alleine anziehen? Ein Punkt. Am Ende soll die ermittelte Punktezahl einen ersten Einblick geben, welche Chancen ein erkrankter Patient hätte, nach einem schwer belastenden Eingriff wie der künstlichen Beatmung ein Leben fern von Intensivstationen und ständiger intensiver Betreuung zu führen. Die Entscheidung über die Behandlung treffen am Ende weiterhin der Patient und sein Arzt.
„Es braucht eine Entscheidungsgrundlage, die nicht nur Bauch, Erfahrung und Intuition sein darf“, sagt Ethiker Dinges über die Checkliste. Er plädiert dafür, in Krankenhäusern bei Entscheidungen in der Triage oder Ressourcenverteilung das Vier- oder Sechsaugenprinzip einzuführen, Pflegepersonal einzubinden und die psychische Belastung auf mehrere Schultern zu verteilen. Ärzte sollen bei Konflikten Ethik-Boards hinzuziehen, so wie das bei der Verteilung von Spenderorganen bereits in manchen Krankenhäusern geschieht. „Wir treffen aber immer noch auf den Typ medizinischer Hero, der als Lonely Rider durch die Behandlung geistert“, sagt Dinges.
Es gibt Ärzte, die solche Vorschläge kritisch sehen. Richard Greil zum Beispiel: Er ist Primar und Vorstand am Uniklinikum Salzburg, Leiter des dortigen COVID-19-Krisenstabs, ehemals Mitglied der österreichischen Bioethikkommission (2000 bis 2008). Das Wort Triage hat für ihn etwas Kriegerisches. Es sei falsch, bereits jetzt Empfehlungen und Checklisten für eine Situation zu erstellen, die nicht eingetreten ist. „Wenn Sie sagen, dass jemand unter bestimmten Bedingungen nicht beatmet werden würde, dann erheben Sie die Frage: Warum sollte er unter den gegebenen Bedingungen beatmet werden?“, sagt Greil. „Man muss mit diesen vorauseilenden Stellungnahmen zur Vorenthaltung von Leistungen vorsichtig sein. Das hat massive Auswirkungen auf die gesellschaftliche Haltung und ist im Moment nicht notwendig.“
Er fürchtet, dass bei Älteren und Schwerkranken der Druck aufkommen könnte, sich als Belastung für andere zu empfinden und deswegen auf eine Behandlung zu verzichten. Dabei gäbe es in Salzburg umgerechnet auf die Bevölkerung nach einer erfolgten Aufstockung von Beatmungsgeräten vier Mal so viele wie in Italien oder Großbritannien. Greil sieht nicht nur die Triage-Checklisten kritisch, sondern auch Ethik-Boards. „Es gibt dort teilweise die Ansicht, die Entscheidung zu triagieren müsse auf möglichst viele Schultern verteilt werden“, sagt er. „Das mag psychisch entlasten, ich halte es aber für keine gute Idee. Am Ende haftet immer ein individueller Arzt. Daraus resultiert eine hohe Werteabwägung für den Einzelfall in persönlicher Verantwortung.“
Rechtlich bindend sind Ethik-Empfehlungen und Triage-Checklisten aber ohnehin nicht. „Der Arzt ist grundsätzlich fachlich weisungsfrei in seiner Entscheidung“, sagt Maria Kletečka-Pulker, Geschäftsführerin des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin sowie Mitglied der 25-köpfigen Bioethikkommission. Selbst bei einer Überlastung des Gesundheitssystems hat der Arzt die Pflicht, seine Patienten mit den ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen und Fähigkeiten bestmöglich zu versorgen – bestehen daran Zweifel, kann er vor Gericht gestellt werden.
Verweigert ein Mediziner eine als notwendig betrachtete intensivmedizinische Behandlung allein aufgrund des Alters des Patienten, wäre das unzulässig, so Juristin Kletečka-Pulker. Wer Patienten in einer Triage-Situation bevorzugt, weil sie reich, bekannt oder mit einem selbst verwandt sind, muss ebenfalls damit rechnen, dafür vor dem Richter zu landen. Auch könne bei drohender Überlastung nicht so einfach von oben verordnet werden, welche Patienten vorrangig zu behandeln sind: „Eine Krankenanstalt kann Pfade vorgeben, aber ich hätte große Sorge, wenn der Gesetzgeber inhaltliche medizinische Vorgaben machen würde“, sagt Kletečka-Pulker.
Wie nehmen die Krankenanstaltsträger in den Bundesländern die Empfehlungen und die Triage-Checkliste der ÖGARI auf? Geben sie Pfade vor? Addendum fragte bei allen neun nach, sechs antworteten: Die steirische Kages bezeichnete sie als „Zusammenfassung der bestehenden ethischen Grundsätze erweitert um Entscheidungsalgorithmen für den Krisenfall“ und würde sie für den Ernstfall als „Grundlage der Triage-Entscheidungen“ nehmen. Die kärnterische Kages will sich daran orientieren, sollte es notwendig sein. Das Ethikkomitee der Klinik Innsbruck sieht das Papier als Handlungsempfehlung, im Tiroler Landeskrankenhaus Hall wurde damit sowie mit schweizerischen und deutschen Ethik-Empfehlungen eine „Verfahrensanweisung“ erstellt. Alle Vorarlberger Krankenhäuser haben ein „abgestimmtes Konzept“ erarbeitet, das sich ebenfalls auf die österreichische und internationale Empfehlungen bezieht.
Die Oberösterreichische Gesundheitsholding äußert sich nicht zu Empfehlung und Triage-Checkliste der ÖGARI, sondern betont das bundeslandweite Management der Intensivbetten. Die Salzburger Landeskliniken, zu deren COVID-Krisenstab Richard Greil gehört, werden die noch vor dem Notstand erstellte Checkliste nicht verwenden. „Das heißt nicht, dass wir deswegen unvorbereitet in eine chaotische Situation gehen“, sagt er. „Die Frage ist, ob eine Gesellschaft, ein medizinisches System, im Vorhinein einen Anspruch aufgibt, den jeder Mensch haben sollte. Wenn wir diesen Anspruch nicht aufgeben, heißt das, wir müssen alle Kräfte mobilisieren, um entgegenwirken zu können. Das macht einen Motivationsunterschied aus.“
Zumindest in diesem Punkt sind sich alle einig: die beiden Ärzte, der Ethiker, die Juristin. Gar nicht erst in die Situation zu kommen, massenhaft mehr Patienten als Beatmungsgeräte zu haben, sei die beste Lösung. „Die Triage-Checkliste liegt bei uns derzeit in der Schublade“, sagt die Tiroler Intensivmedizinerin Friesenecker. „Ich hoffe, wir werden sie nie herausnehmen.“
Der Artikel wurde am 15. April um 17 Uhr aktualisiert.