Die Stille findet Regula Mickel-Schnizer noch immer etwas unheimlich. An normalen Tagen wuseln lärmende Kinder durch die Flure und die Zimmer. Doch seit sechs Wochen ist es: still.
Die Sozialarbeiterin sitzt am Besprechungstisch des Amtshauses im 13. Wiener Gemeindebezirk, ihrer Arbeitsstätte. Diese ist zum Geisterhaus geworden. Hunderte Besuchstermine abgesagt, das für die Kinder bereitgelegte Spielzeug unberührt, die roten Sofas leer. Auch die staatlichen Kinderschützer des hier angesiedelten Kinder- und Jugendamts mussten sich dem Anti-Pandemie-Regime unterordnen, ihre persönlichen Kontakte minimieren, den täglichen Betrieb herunterfahren.
„Das alles wird uns noch sehr lange beschäftigen“, sagt Regula Mickel-Schnizer, die an der Regionalstelle die Sozialarbeiter einteilt. Sie steht mit ihren Mitarbeitern an vorderster Front: Wenn der Verdacht besteht, dass eine Mutter ihre Kinder schlägt, ein Vater sie psychisch fertigmacht, wenn Taferlklassler mit zerrissenem Gewand und ungewaschen in die Schule kommen oder Ärzte an jungen Leibern blaue Flecken finden, schreiten sie ein.
Sie machen sich ein Bild, reden mit den Eltern und versuchen, eine Lösung zu finden – im schlimmsten Fall müssen sie entscheiden, ob ein Kind erstmal der Mutter, dem Vater oder auch der ganzen Familie weggenommen werden muss. Mehr als 14.000 Kinder in Österreich werden von Pflegepersonen oder in sozialpädagogischen Einrichtungen großgezogen, weil sie von ihren Eltern geschlagen, missbraucht oder vernachlässigt wurden. Rund dreimal so viele bekommen regelmäßig Besuch. Die Sozialarbeiter fürchten, dass die Wochen des staatlich verordneten Lockdowns eine Kettenreaktion auslösen – und am Ende noch mehr Kinder leiden.
Die Zahl der bei Pflegepersonen oder in sozialpädagogischen Einrichtungen untergebrachten Kinder wird pro Jahr im Nachhinein erhoben, da sie sich während eines Jahres stetig ändert. Die zuletzt verfügbaren Zahlen stammen aus dem Jahr 2018 (14.245), die Zahlen für das Jahr 2019 stehen noch nicht fest. In den vier Jahren, zu denen die Statistik Austria bislang veröffentlicht hat, lag die Zahl nie unter 14.000.
Wo andere eine Krise aus Statistiken ablesen, stehen Regula Mickel-Schnizer und ihre Mitarbeiter den Problemen gegenüber, blicken ihnen ins Gesicht. Sie sehen, wie der Druck durch die Pandemie-Krise bei manchen Vätern und Müttern zugenommen hat. Sie sorgen sich, wie sich die Wirtschaftskrise zur Gefahr für jene Kinder wird, die ohnehin schon in schwierigen Verhältnissen aufwachsen. „Wir merken so etwas sehr schnell“, sagt Mickel-Schnizer. „Wenn Eltern nicht schlafen können, weil sie nicht wissen, wie sie das Monat durchkommen sollen, ist das ein Risikofaktor für Übergriffe. Das kann direkte Auswirkung auf die Gewalt gegen Kinder haben.“
Sie befürchtet eine Welle: Jobverlust, kein Geld, nachgeholte Delogierungen. Sie kennt die Probleme der Kinder, die zu Hause keinen Computer haben oder nur ein Smartphone, das von Klebeband zusammengehalten wird. Wenn andere Familien in den Urlaub fahren, müssen die Armen auch noch über den Sommer die Schule ersetzen, die Kinder zu Hause betreuten. Die Großeltern könnten als Entlastungsmöglichkeit auch noch länger ausfallen, weil sie zur Risikogruppe zählen. Kurz: Der Druck steigt und steigt. „Am Anfang fanden manche das vielleicht noch spannend oder neu“, sagt Mickel-Schnizer. „In den letzten Wochen spüren wir den Frust und die Unsicherheit.“
Schon als die Regierung am Freitag, dem 13. März, überraschend verkündete, nur etwas mehr als zwei Tage später das Land herunterfahren zu wollen, war den Sozialarbeitern klar, dass da etwas auf sie zukommen würde. Das Land klatschte für Ärzte und Supermarktkassierer, gerade für Kinder in problematischen Familien sahen sich die Beamten des Jugendamts als Systemerhalter. Rund 4.000 Haushalte werden alleine in Wien von mehr als 1.500 Mitarbeitern von Amts wegen betreut.
Also telefonierten sie in ein paar Tagen alle durch. Die Sozialarbeiter druckten Schulunterlagen aus, brachten sie völlig verzweifelten Schulkindern, die keinen Laptop hatten und nicht wussten, wie sie jemals die Schule schaffen sollten. Weil sie die nicht dringend nötigen Hausbesuche einschränken sollten, durften die Beamten nun Whatsapp auf ihren Diensthandys installieren. „Die Familien zeigen uns jetzt Videos: Schau, da spielt die Kleine, so sieht das Wohnzimmer aus“, sagt Mickel-Schnizer. Selbst sonst unwillige Eltern riefen nun an, suchten Rat, hatten Angst vor dem unbekannten Virus.
Doch es gibt auch die neuen Dramen. In den vergangenen sechs Wochen hörten die Sozialarbeiter immer wieder von Familien, die sie zuvor nie besuchen mussten. „Wir haben massiv mit Fällen zu tun, die behördlich noch nicht bekannt waren“, sagt Sozialarbeiterin Mickel-Schnizer. „Ich glaube zwar nicht, dass es in diesen Familien vor Corona gar keine Gewalt gab. Aber in der jetzigen Drucksituation ist es dann wohl eskaliert, die Nachbarn wurden darauf aufmerksam.“
Da ist zum Beispiel der zuvor noch nicht amtsbekannte Vater, der seine Frau und die fünf gemeinsamen Kinder verprügelte. Oder die alleinerziehende Mutter, die von ihren Kindern auf den Balkon gesperrt wurde und schrie, bis die Nachbarn die Polizei riefen. Ihr hatte niemand gesagt, dass sie ihre beiden Kinder trotz der Ausgangssperren vielleicht doch in Schule und Kindergarten schicken kann, wenn sie über das Jugendamt glaubhaft machen konnte, dass sie mit deren Betreuung überfordert ist. Ein psychisch kranker Vater wiederum fürchtete sich dermaßen vor den Viren, dass die Haut seiner Kinder vom ständigen Schrubben bereits eingerissen war.
In den Statistiken schlägt sich das alles bislang nicht nieder. Das Wiener Kinder- und Jugendamt – von allen Bundesländern das größte – vermerkt „noch keine konkreten signifikanten Änderungen“. Dabei bleibt vieles offen: So wurden laut Jugendamt während des Lockdowns weniger Kinder in die Krisenzentren gebracht. Die Hinweise von Ärzten und Spitälern haben sich seit Beginn der Maßnahmen halbiert. Normalerweise gelangt außerdem ein Viertel der Verdachtsmeldungen über Kindergärten und Schulen ein. Diese rufen zwar weiterhin an, wenn sie von einem Kind nichts hören – doch der persönliche Kontakt, der prüfende Blick des Lehrers fällt weitgehend weg.
Gestiegen seien hingegen die Hinweise von anonymen Tippgebern – meist Nachbarn, die jetzt ebenso den ganzen Tag zu Hause sind und einen Streit mitbekommen. Die Polizei melde laut dem Jugendamt auch etwas mehr Fälle. Die Zahl der Betretungsverbote aufgrund von häuslicher Gewalt – auch ein möglicher Indikator für Gewalt an Kindern – änderte sich laut Innenministerium allerdings kaum. Zwar sprach Innenminister Karl Nehammer am 5. April bei einer eigens einberufenen Pressekonferenz noch von einem leichten Anstieg, „der uns alarmiert“. Im Februar wurden 879 Betretungsverbote ausgesprochen, im März 965. Auf den Tagesdurchschnitt umgerechnet – der Februar hat dieses Jahr zwei Tage weniger – ergibt sich zwischen den beiden Monaten aber kaum ein Unterschied (rund 30,3 pro Tag im Februar, rund 31,1 pro Tag im März). In den ersten Aprilwochen deutet sich aber ein leichter Anstieg auf 34 Betretungsverbote pro Tag an.
Doch manchmal sind es die Dinge, die sich nicht aus den Statistiken ablesen lassen. „Ich habe den Eindruck, dass die Intensität der Gewalt zunimmt: Dinge wie Würgen, Fixieren, Treten“, sagt Barbara Oehlzand. Sie ist ebenfalls Sozialarbeiterin und macht trotz Coronavirus-Krise weiterhin Hausbesuche. Wenn sie eine Familie besucht, streift sie in diesen Tagen ihre Gummihandschuhe über, setzt eine dichte Atemschutzmaske auf. Bevor sie eintritt, zieht sie die weiße Verkleidung für ein paar Sekunden herunter. Sie zeigt ihr Lächeln, die Kindern sollen keine Angst bekommen.
Ihr ohnehin schwieriger Job ist wegen der neuen Verhaltensregeln nicht einfacher geworden: Die Masken seien ein Problem, sie könne nun nicht mehr so gut mit ihrer Mimik arbeiten. Wenn eine Familie gar nicht oder nicht gut Deutsch spricht, muss jetzt das Handy herhalten – auch die Übersetzer sind im Homeoffice. Die Sozialarbeiterin selbst verbringt mehr Zeit in ihrer eigenen Wohnung, arbeitet dort ihre Akten ab und führt Telefongespräche mit den rund fünfzig Familien, die sie momentan betreut.
In all dem findet Oehlzand aber auch ein paar Lichtblicke: Die Gespräche mit manchen Familien seien besser geworden. Es gebe nun dieses Gefühl, gemeinsam durch diese völlig unbekannte Situation zu gehen. „Wir sind da“, sagt Oehlzand. Wenn sie in ihrer Wohnung ein Videotelefonat führt, achtet sie trotz aller Nettigkeiten darauf, hinter sich nur eine weiße Wand zu zeigen.
Was die Wochen oder Monate der Krise mit den laut Statistik Austria mehr als 1,5 Millionen unter 18-Jährigen in Österreich anstellen werden, kann derzeit noch niemand abschätzen. Wie viele von ihnen anfällig sind, weiter in die Krise zu rutschen, lässt sich nur schwer eingrenzen. Zu viele Faktoren spielen eine Rolle – von Armut über psychische Krankheiten bis zum Familienumfeld. Das Potenzial für eine Verschlechterung scheint zumindest groß, wenn es um die Wirtschaftsdaten geht: Bereits 2018 galten laut den Statistikern rund 1,2 Millionen Menschen in Österreich als armutsgefährdet – mehr als ein Viertel von ihnen war unter 19 Jahre alt, insgesamt rund 330.000 Kinder und Jugendliche. In diesem Jahr soll die Wirtschaft auch noch um mehrere Prozent schrumpfen.
Dass nun etliche Krisenfällen in Familien hinzukommen, glauben nicht nur die Mitarbeiter des Kinder- und Jugendamtes. „Unser gesamtes Leben und das Gesellschaftssystem sind nicht darauf ausgerichtet, 24 Stunden, sieben Tage in der Woche eine Familie zu sein“, sagt der Psychologe und Psychotherapeut Dominik Rosenauer. „Wir gehen arbeiten, die Kinder sind außer Haus betreut, das fällt derzeit alles auf die Eltern zurück. Das ist ein sehr toxischer Cocktail, den wir auslöffeln.“
Schon jetzt wird in Österreich jede zweite Ehe geschieden. Rosenauer erwartet, dass sich diese Zahl nach den Wochen der erzwungenen Gemeinsamkeit erhöht. „Eine Trennung der Eltern hat immer auch einen negativen Effekt auf die kindliche Entwicklung“, sagt der Psychologe. In Scheidungsfällen dient er als gerichtlich zertifizierter Sachverständiger und verfasst Gutachten. Wegen der Krise wurden alle Besuchstermine abgesagt, auf seinem Tisch stapeln sich die Aufträge. „Wenn es jetzt eine Gefährdung des Kindeswohls gibt, kann ich gutachterlich nicht eingreifen“, sagt Rosenauer. „Es gibt Kinder, die einen Elternteil über Wochen oder Monate nicht sehen können. Je nach Alter führt das zu Entfremdung, psychischen Störungen, Angst oder Selbstwertproblemen.“ Dazu komme, dass vor allem kleine Kinder die Zeit anders wahrnehmen: Wochen können auf sie wie Monate wirken, Monate wie Jahre.
Die Nachmittagssonne steht bereits tief am Himmel, in einem Garten am Wiener Stadtrand sitzt Kathi, sieben Jahre alt, unter einer riesigen Pappel. Neben ihr basteln ein paar Mädchen aus Bockerln ein Windspiel, ein Bursche tritt einen Ball gegen das Hochbeet, in dem schon die ersten grünen Spitzen aus der Erde ragen. Nichts an dieser Szenerie deutet auf jene Dramen hin, die sich im Leben der Kinder bereits abgespielt haben. Die Übergriffe und Vernachlässigung frustrierter, überforderter und manchmal auch gewalttätiger Erwachsener, die das halbe Dutzend Halbwüchsiger im Garten schon erlebt hat.
Kathi lebt in einer Wohngemeinschaft, die vom Wiener Kinder- und Jugendamt betreut wird. Wie und warum das Mädchen hier landete, soll zu seinem Schutz genauso geheim bleiben wie sein richtiger Name und die Adresse des Hauses. Wegen der Anti-Corona-Maßnahmen darf auch Kathi nicht in die Schule oder ihre Freunde treffen, nicht in den Tanzkurs. „Es ist megalangweilig“, sagt das Mädchen mit dem schüchternen Blick, Fußballschuhe an den Füßen, die in der Luft baumeln.
Dabei hat Kathi es vergleichsweise gut erwischt: Zu ihrer WG gehört ein geräumiger Garten, die Betreuer haben mit ihr für die Schule gelernt. Sogar einen Laptop gibt es jetzt, mit dem das Mädchen mit seiner Mutter skypen kann, die es sonst immer am Wochenende sieht. Einmal kam die Mama sogar selber vorbei. Das war komisch, ganz anders.
Keine Umarmung, kein Küsschen. Das Gesicht hatte die Mutter hinter einer Maske verborgen, Gummihandschuhe an den Händen. Sie setzte sich an die äußere Ecke eines Gartentisches, Kathi saß am äußersten Rand eines anderen, ein paar Meter weit weg. So müssen sich Tochter und Mutter voneinander isolieren. Auch wenn keine von ihnen Symptome zeigt, die vermuten lassen, dass sie mit dem Coronavirus infiziert sein könnten. Eine Reise in Hochrisikogebiete wie Tirol, die Lombardei oder Madrid, wo sich so viele ansteckten, hätten sich die beiden gar nicht leisten können.