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Vorbild Schweden?
24. April 2020 Coronavirus Lesezeit 11 min
Über Schweden wird in der Corona-Krise leidenschaftlich diskutiert. Aber wie sieht der schwedische Sonderweg wirklich aus und wie steht das Land im Vergleich zu Österreich da?
Dieser Artikel gehört zum Projekt Coronavirus und ist Teil 65 einer 106-teiligen Recherche.
Bild: Anders Wiklund | AFP

Es sind Bilder wie aus einer anderen Zeit: geöffnete Restaurants, Bars, Cafés und sogar Fitnessstudios. Kinder mit Schulrucksäcken. Die meisten Schulen sind offen, lediglich Gymnasien, Berufsschulen und Universitäten geschlossen. Schweden hat einen Sonderweg gewählt, um des Coronavirus Herr zu werden. Manche nennen es Gelassenheit, andere Naivität. Die einen wollen Schweden scheitern sehen, die anderen sehen es als Musterland. Die Debatte über den schwedischen Weg ist fast schon zu einem Glaubenskrieg geworden.

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Normalität statt neuer Normalität

Die schwedische Regierung hat hingegen nicht den Eindruck, so viel anders zu machen als der Rest der Welt: „Es ist ein Mythos, dass das Leben in Schweden so weitergeht wie gewöhnlich“, sagte Außenministerin Ann Linde diese Woche. Lediglich in zwei Punkten unterscheide sich die schwedische Reaktion von der anderer Staaten: Schulen sind weiterhin weitgehend geöffnet; und es gibt keine Ausgangsbeschränkungen, lediglich Empfehlungen. Doch die Unterschiede zwischen Schweden und dem Rest Europas sind größer, als Linde suggeriert; auch wenn die Regierung heute Freitag Restaurants mit der Schließung droht, sollten die sich nicht an die Empfehlungen halten: Die Schweden können ohne Einschränkungen einkaufen, sie können weiter zum Friseur gehen, und sogar Veranstaltungen mit bis 50 Personen sind erlaubt. Es klingt mehr nach Normalität als nach „neuer Normalität“.

„Meine Tochter hatte heute erst ein Fußballspiel“, erzählt eine österreichische Ärztin, die in Torsby, einer 4.000-Einwohner-Gemeinde lebt, 400 Kilometer westlich von Stockholm. Die Österreicherin will nicht namentlich genannt werden. In der Schule ihres Sohnes wurde ein Kind positiv auf das Virus getestet – zufällig, weil es im Spital war; es zeigte keinerlei Symptome. Die Schule ist weiterhin offen, die restlichen Kinder wurden nicht getestet. Der schwedische Umgang mit dem Virus ist entspannt. Natürlich gebe es Einschränkungen im täglichen Leben, Kinos und Theater sind geschlossen, Restaurants dürfen keine Buffets mehr anbieten. Auch in schwedischen Supermärkten wird per Bodenmarkierung um Abstand gebeten, und die Kassierer sind hinter Plexiglas. Menschen über 70 wird empfohlen, zu Hause zu bleiben. „Aber es sind eben alles nur Empfehlungen, keine Vorschriften“, sagt die österreichische Ärztin.

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„Bin wirklich froh, dass ich in Schweden lebe“

Und zumindest Schwedens Chefvirologe Anders Tegnell ist überzeugt, dass der Kurs stimmt: „Die Kurve flacht seit Anfang April ab“, sagt er diese Woche in einer Pressekonferenz. „Wir sind ja ein paar Wochen hinter den meisten anderen europäischen Staaten, aber es ist alles relativ stabil“, sagt die österreichische Ärztin. Auch die schwedische Mentalität könnte helfen, dass sich das Virus weniger rasant verbreitet als in südlichen Ländern, glaubt sie: „Die Leute geben sich ja schon in normalen Zeiten kaum die Hand.“ Die meisten Menschen, mit denen sie spricht, befürworten den schwedischen Weg. Auch sie selbst sagt: „Ich bin wirklich froh, dass ich in Schweden und nicht in Österreich lebe.“ Natürlich sehen das nicht alle so.

63 Prozent der Österreicher halten einer Market-Umfrage zufolge den schwedischen Weg für falsch, und auch in Schweden gibt es Kritik. Bereits Ende März kritisierten zahlreiche schwedische Wissenschaftler den Kurs und forderten strengere Maßnahmen. Der ehemalige Herausgeber der renommierten schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter, Hans Bergström, glaubt, dass der schwedische Sonderweg überhaupt nur aufgrund von Zufällen und Versäumnissen entstanden ist: Schwedens Chefvirologe Anders Tegnell hätte sich zuerst davon überzeugt gezeigt, dass es das Virus nicht von China nach Schweden schafft, und habe dann tausenden Familien, die Ende Februar vom Skiurlaub aus Italien zurückgekehrt sind, empfohlen, einfach zur Arbeit oder Schule zu gehen; selbst wenn sie mit Infizierten in Kontakt waren. Die schwedische Lösung, so schreibt er in einem Kommentar sinngemäß, sei es vielmehr gewesen, aus den Fehleinschätzungen eine Tugend zu machen.

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In Schweden wird kaum jemand getestet

Wie steht Schweden im Vergleich mit Österreich eigentlich da?  Am 22. April überholt es Österreich bei den gemeldeten Infizierten: Das skandinavische Land (10,2 Millionen Einwohner) hat da erstmals über 15.000 COVID-19-Infizierte, Österreich (8,6 Millionen) steht bei knapp 14.900. Mittlerweile steht Schweden bei fast 17.000 Infizierten.

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Wer sich allein die Kurve der Infizierten ansieht, dürfte keinen Zweifel haben, welches Land besser durch die Corona-Krise kommt: Österreichs Kurve ist abgeflacht, die täglichen Wachstumsraten liegen bei 0,4 Prozent. Fast 12.000 Menschen sind wieder gesund, lediglich 2.669 Personen sind noch erkrankt. Noch krasser ist die Differenz bei den Verstorbenen: 2.021 COVID-19-Tote zählt Schweden, Österreich steht bei 510. Schwedens Nachbarländer verzeichnen noch viel weniger Tote: 149 sind es in Finnland, 182 in Norwegen.

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Und in Wirklichkeit ist die Ansteckungsrate und die Zahl der Toten in Schweden eventuell noch bedeutend höher, jedenfalls wird dort weniger getestet: Pro positivem Fall gibt es in Schweden 6,8 Tests, in Österreich 12,8. In Norwegen sind es 20,4, in Finnland 16,2.

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Getestet, erzählt die österreichische Ärztin, werden nur Personen, die ins Krankenhaus kommen. Und da auch nicht alle. Sie arbeitet in einer kleinen Klinik in der dünn besiedelten Provinz Värmlands län, rund 400 Kilometer westlich von Stockholm. Vor der Klinik sei nun ein Zelt aufgebaut, in dem die Patienten untersucht werden. „Wer nur hustet und eine normale Sauerstoffsättigung hat, wird nicht getestet”, erzählt sie. Wer allerdings ins Spital aufgenommen wird oder in einem Altersheim Symptome zeigt, bekommt einen Test; auch das Personal dort wird getestet: Sie selbst wurde vor drei Wochen wegen eines Hustens getestet und war negativ.

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Warum es so schwierig ist, Tote zu zählen

Die Todesstatistiken der einzelnen Länder sind nur bedingt vergleichbar. Das zeigt der 14. April in Österreich sehr gut: Da sank die Zahl der Corona-Toten plötzlich um 55 Verstorbene, weil die Zählweise geändert wurde. Es fielen jene Toten weg, die zwar positiv auf Corona getestet wurden, deren Tod aber letzten Endes eine andere Ursache hatte. Frankreich zählt nur jene Toten, die in einem Spital versterben; Länder wie die Niederlande oder Schweden testen überhaupt erst, wenn Personen im Spital sind. Italien zählt weiterhin wie Österreich vor dem 14. April: Es landen alle Verstorbenen in der Statistik, bei denen das Virus nachgewiesen wurde.

„Kein wahnsinnig großer Ansturm”

Wer mit COVID-19-Verdacht zu Hause liegt oder sogar dort stirbt, wird nicht Teil der offiziellen Statistik. Aber es gibt auch Anhaltspunkte, die gegen die These sprechen, dass in Schweden viele Tote nicht als Corona-Tote gezählt werden: Die New York Times hat sich die Sterblichkeitsraten in verschiedenen Staaten zwischen Anfang März und Mitte April im Vergleich zu den Vorjahren angeschaut. Während die allgemeine Sterblichkeit in Spanien oder Großbritannien um weit mehr gestiegen ist als nur die offiziellen Corona-Toten, war die Sterblichkeit in Schweden ziemlich genau um die gemeldeten Corona-Toten erhöht.

Und wie Österreich hat es auch Schweden bislang geschafft, das Gesundheitssystem am Laufen zu halten. „Ich arbeite schon mehr”, erzählt die österreichische Ärztin. Aber: „Es gibt jetzt keinen wahnsinnig großen Ansturm. Allerdings sind wir auch in keinem Ballungszentrum.” Das Gesundheitssystem in der  Hauptstadt Stockholm, sagt Chefvirologe Tegnell, stehe hingegen unter großem Druck. In Schweden sind über 500 Patienten in Intensivbetten, in Österreich nur noch 158.

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Katja Fogelberg
Bild: Katja Fogelberg | Privat
Katja Fogelberg
Bild: Katja Fogelberg | Privat

„Beweise statt Emotionen”

„Es ist ein Krieg, und nach einem Lockdown ist vor einem Lockdown. Man schiebt die COVID-19-Fälle ja nur auf”, sagt Katja Fogelberg. Jeden Abend um 18.30 Uhr macht sich die 46-jährige auf den Weg in die Arbeit, für eine 13-stündige Schicht. Sie ist Krankenschwester in der exklusiv für Corona-Patienten eingerichteten Intensivstation am Karolinska-Universitätskrankenhaus in Huddinge, einem Vorort von Stockholm. „Ich traue den FFP2- und FFP3-Masken nicht ganz, weil sie mir nicht gut passen. Manche Kollegen haben auf der Seite Bandagen reingestopft, damit nichts reinkommt, aber ich habe mir eine eigene Maske besorgt”, sagt sie.

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Jeden Tag ist Fogelberg dabei, wenn COVID-19-Patienten mit Krankenwagen angeliefert, intubiert und an Beatmungsgeräte angeschlossen werden. „Der Unterschied bei den Symptomen, den ich sehe, ist: Bei anderen Lungenkrankheiten können die Leute nicht mehr atmen, bei COVID-19 können die Leute meistens noch normal atmen, aber wir sehen in ihrem Blutbild schon, dass sie viel zu wenig Sauerstoff im Körper haben.” Warum das so ist, darüber gibt es in der Wissenschaft noch keinen Konsens.

Mehrere Kollegen von Fogelberg haben sich infiziert oder waren zumindest Verdachtsfälle. Im Karolinska-Universitätskrankenhaus in Huddinge fehle es deshalb nicht an Beatmungsgeräten, sondern an Personal. Fogelberg wünscht sich einen härteren Kurs der Regierung in Sachen Social Distancing. Im Großen und Ganzen aber ist sie zufrieden. „Ich bin froh, dass unsere Politiker nicht Emotionen, sondern wissenschaftlichen Beweisen folgen.”

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Wie kommen wir da wieder raus?

Aber warum ist Schweden trotz all der Toten ein Vorbild für viele, wenn es um den richtigen Umgang mit dem Virus geht? Dazu ist es notwendig, eine langfristige Sicht einzunehmen. Denn die Wahrheit ist brutal: Es gibt nur zwei Wege aus der Corona-Krise: eine Impfung oder eine natürlich entstandene Herdenimmunität. Der Terminus bezeichnet jenen Punkt, an dem so viele Personen gegen das Virus immun sind, dass es sich nicht weiter ausbreiten kann. Im Falle des Coronavirus müssten vermutlich zwischen 50 und 66 Prozent der Bevölkerung immun sein, um das Virus zu stoppen. Weil es keine Impfung gibt, würde das im Fall des Coronavirus bedeuten: dass genug Menschen daran erkrankt und wieder genesen sind.

Österreich setzt wie die meisten anderen Staaten seine Hoffnungen darauf, gut durch die Krise zu kommen, bis es eine Impfung gibt. Die berühmt gewordene Strategie dahinter lautet „The Hammer and the Dance“. Mit dem Hammer des nahezu kompletten Lockdowns werden die Zahlen der Infizierten gesenkt, um die Gesundheitssysteme nicht zu überlasten. Das hat in Österreich besser geklappt als in vielen anderen Staaten – die Spitäler waren zum bisherigen Höhepunkt der Corona-Krise eher leer als überfüllt .

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Urlaub vom Lockdown

Der zweite Teil der Strategie ist der schwierigere, der Tanz. „Es wird in den kommenden Monaten kein normales Leben geben“, sagt etwa der britische Epidemiologe Andrew Tatem im Gespräch mit Addendum. „Es gibt verschiedene Ideen, zum Beispiel den Urlaub vom Lockdown, bis die Zahlen wieder zu steigen beginnen.“ Also der Bevölkerung eine gewisse Lockerung der Maßnahmen zu gönnen, bis die Zahl der Infizierten wieder steigt und die Maßnahmen wieder strikter werden. Das ist die neue Normalität, von der Bundeskanzler Sebastian Kurz immer spricht.

Tatem glaubt, dass wir noch lange mit Corona leben müssen. „Es ist sehr gut möglich, dass wir es letztendlich alle bekommen werden“, sagt er. „Was aktuell gemacht wird, ist tatsächlich nur, die Ausbreitung zu verlangsamen, damit wir es nicht alle gleichzeitig bekommen.“ Der Tanz ist ein Leben mit erheblichen Einschränkungen, die zwischendurch immer wieder gelockert werden. Und das mit unbekanntem Ende – bis es eben eine Impfung gibt. Die könnte es nur sehr optimistischen Schätzungen zufolge Ende dieses Jahres geben. Die meisten Experten gehen davon aus, dass sie vor 2021 unrealistisch ist; und vielleicht noch viel länger dauert. Vier Jahre hat es gebraucht, bis eine Impfung gegen Mumps entwickelt war – jener Impfstoff, der bislang am schnellsten entwickelt wurde.

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Die Ausbreitung ist unsichtbar

Schweden hingegen versucht eine andere Strategie: lediglich die Risikogruppen zu schützen. „Weil Menschen unter 50 normalerweise von dem Virus nicht krank werden”, sagt Johan Giesecke. Der schwedische Epidemiologe ist Berater der Weltgesundheitsorganisation, war ein führender Wissenschaftler des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten und berät aktuell die schwedische Regierung, deren Chefvirologe er auch war. „Wir sehen nur die Spitze der Pyramide. Das Virus wird von jenen übertragen, die keine Symptome haben – zwischen 75 und 90 Prozent der Ausbreitung sind unsichtbar, die bemerken wir nicht”, sagt er. (Das gesamte Interview mit Johan Giesecke lesen Sie hier.)

Die viel besagte Herdenimmunität sei lediglich die Konsequenz der schwedischen Strategie. Sie könnte in Teilen Schwedens – vor allem in der Hauptstadt Stockholm – bereits im Mai erreicht sein, das sagt jedenfalls der Chefvirologe Tegnell. Das würde bedeuten, dass Schweden das Schlimmste der Krise nicht in Monaten und Jahren, sondern in wenigen Wochen überstanden hat – und das mit vermutlich weit geringeren Folgen für die Wirtschaft. Die österreichische Arbeitslosenquote ist von Ende Februar zu Ende März von 7,5 auf 12,2 Prozent gestiegen, die schwedische von 7,6 auf 8 – die schwedische Regierung geht davon aus, dass sie im Laufe des Jahres auf lediglich neun Prozent steigen wird.

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Eine düstere Prophezeiung

Und die schwedischen Experten glauben: Am Ende wird die Zahl der Toten in Schweden sich nicht mehr von jener in anderen Ländern unterscheiden. Wenn die „Augen zu und durch“-Strategie Wirkung zeigt, könnte das Sterben dort bald ein Ende haben, während das Virus im Rest der Welt konstant mal mehr, mal weniger Tote zur Folge hat – bis es eben eine Impfung gibt. Johan Giesecke glaubt, dass wir dem Virus ausgeliefert sind, so oder so: „Ich glaube nicht, dass es einen großen Unterschied macht, was Staaten tun oder nicht tun.” Und er hat eine düstere Prophezeiung: „Österreich”, sagt er, „wird die Toten, die Schweden jetzt hat, eben dann haben, wenn es den Lockdown aufhebt.” 

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