Der Artikel wurde ursprünglich am 20. April veröffentlicht und am 27. Mai aktualisiert.
Donald Trump hat Mitte April 2020 bekanntgegeben, die US-Zahlungen an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) vorläufig einzustellen. Das ist das vorerst letzte Kapitel in einem schon länger schwelenden Streit, er wirft der Organisation „schwerwiegendes Missmanagement“ und sogar „Vertuschung“ vor. So habe die WHO im Zuge der Coronavirus-Krise die chinesischen Informationen „unhinterfragt übernommen“ und China für seine Maßnahmen gelobt, während die Warnungen Taiwans vor der Ausbreitung ignoriert wurden.
Am 18. Mai haben die USA einen Brief an den WHO-Generaldirektor geschrieben, in dem sie ihre Kritik nochmals bekräftigten. Daher müsse die WHO ihre Unabhängigkeit von China beweisen. Jetzt habe sie 30 Tage Zeit, um sich zu maßgeblichen Reformen zu verpflichten, ansonsten würden die USA ihre Zahlungen endgültig und dauerhaft beenden.
This is the letter sent to Dr. Tedros of the World Health Organization. It is self-explanatory! pic.twitter.com/pF2kzPUpDv
— Donald J. Trump (@realDonaldTrump) May 19, 2020
Die WHO wird damit zum Spielball eines „kühlen Krieges“ zwischen den USA und China. Blickt man in ihre Geschichte, merkt man, dass es schon früher viel Kritik an der WHO gab, von AIDS über die Schweinegrippe bis hin zu Ebola. Jetzt erreichen sie allerdings eine neue Dimension. Die letzten Versäumnisse der WHO sollten dennoch nicht über die Fehler der USA und anderer Länder hinwegtäuschen.
Es wirkt alles weit weg: Am 31. Dezember 2019 informierte China die Weltgesundheitsorganisation über das Auftreten einer „Lungenkrankheit mit unbekannter Ursache“. Die WHO sprach damals noch keine Reisewarnungen aus, später lobte ihr Generaldirektor China sogar. Seitdem steht sie in der Kritik, weil sie China zu viel Glauben geschenkt hat.
Die kommunistische Führung hat schließlich lange versucht, die Sache kleinzureden. „Weitergehen, hier gibt es nichts zu sehen“ lautete die Devise anscheinend. Eine rasch um sich greifende Seuche passt nicht zum gern gepflegten Image der aufsteigenden technokratischen Weltmacht, die alles unter Kontrolle hat.
Vor allem WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus – gemeinhin als „Dr. Tedros“ bekannt – wird nun heftig kritisiert, zumal er mit chinesischer Unterstützung an sein Amt gelangte. Schon bei seiner Wahl im März 2017 wurde ihm vorgeworfen, in seiner Zeit als äthiopischer Gesundheitsminister drei Cholera-Epidemien vertuscht zu haben.
Kein guter Start. Der WHO-Generaldirektor ist schließlich das höchste Verwaltungsorgan der WHO und gewissermaßen ihr Gesicht nach außen. Jetzt steht der Verdacht im Raum, Tedros wolle bei China „seine Schulden begleichen“ – umso mehr, wenn er in zwei Jahren wiedergewählt werden möchte.
Die Chefposten in den großen internationalen Organisationen sind schließlich ein (Welt-)Politikum. Ohne das Einverständnis der mächtigen Staaten geht hier nichts.
Ein Beispiel ist das Schicksal des früheren UN-Generalsekretärs Boutros Boutros-Ghali, dessen Wiederwahl am Widerstand der USA unter Bill Clinton scheiterte. Insbesondere Boutros-Ghalis Kritik an der amerikanischen Passivität bei den Völkermorden in Ruanda und Srebrenica wurde nicht goutiert. Abgesehen davon galt er auch als Personifikation der UN-Bürokratie und ihrer Ineffizienz. Sein Abgang sollte verhindern, dass die UNO im Zuge der Präsidentenwahlen 1996 zu einem bestimmenden Thema werden könnte. Es war das erste und bislang letzte Mal, dass ein UNO-Generalsekretär nicht wiedergewählt wurde.
So galt Margaret Chan, die Vorgängerin des aktuellen WHO-Generaldirektors, als erste Chinesin an der Spitze einer UNO-Organisation gewissermaßen als Personifikation des gestiegenen chinesischen Einflusses auf die Weltpolitik.
Allerdings war Chans Wahl die letzte, bei der das aus 34 Mitgliedern bestehende Exekutiv-Gremium (Executive Board) der WHO in Genf eine Vorentscheidung für eine einzige Kandidatin getroffen hatte. Bei Tedros‘ Wahl konnten alle WHO-Mitglieder erstmals aus mehreren Kandidaten (drei) wählen. Er erhielt 133 von 186 Stimmen, China hat sich also nicht alleine durchgesetzt. Als erster Afrikaner an der Spitze der WHO gilt Tedros vielmehr als Vertreter des gesamten „globalen Südens“, also der ärmeren und wirtschaftlich aufstrebenden Länder. China ist das wichtigste Land dieses Blocks, aber eben nicht das einzige.
Die Kritik bezüglich chinesischer Einflussnahme kommt dennoch nicht von ungefähr. So wird bemängelt, dass sie die Informationen der chinesischen Behörden unkritisch übernommen und weitergegeben habe. Taiwan behauptet sogar, die WHO bereits am 31. Dezember in einem E-Mail vor der Möglichkeit einer Übertragung von Mensch zu Mensch gewarnt zu haben. Die WHO bestreitet das jedoch.
Sie sprach jedenfalls noch am 5. Jänner davon, dass es „auf Grundlage der Informationen von Seiten der Behörden keine Hinweise auf eine Übertragung von Menschen zu Menschen“ gebe. Am 14. Jänner folgte ein aus heutiger Sicht verhängnisvoller Tweet, demzufolge „vorläufige Untersuchungen der chinesischen Behörden keine eindeutigen Hinweise auf eine Übertragung des neuartigen Coronavirus von Mensch zu Mensch“ gebe.
Das Bild änderte sich erst mit 23. Jänner, als die WHO erstmals „von einer Zunahme an Beweisen“ sprach, denen zufolge das Coronavirus von einem Menschen auf andere übertragen werden kann, einen Tag später wurde dieser Verdacht erneut bekräftigt. Am 25. Jänner berichtete die WHO erstmals von einer Übertragung zwischen Familienmitgliedern. Dennoch wartete sie mit der Ausrufung des globalen Gesundheitsnotstands noch bis 30. Jänner.
Im Vorfeld hatte es noch ein Zusammentreffen mit der chinesischen Regierung gegeben, die vom WHO-Generaldirektor noch für ihren „Einsatz und ihre Transparenz“ gelobt wurde. Erschwerend kommt hinzu, dass WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus bei anderen Ländern ungleich weniger zurückhaltend war und sie davor warnte, COVID-19 für politisches Kleingeld zu missbrauchen oder voreilige Reisebeschränkungen nach China zu erlassen. Gemeint waren in erster Linie die USA.
Experten warnen aber auch vor Vereinfachungen. Internationale Organisationen sind allgemein vorsichtig, Länder zu verurteilen – auch aufgrund der Auswirkungen auf ihre Staatsangehörigen, von Rassismus bis hin zu möglichen Einfuhrstopps und Exportbeschränkungen. Ebenso gelten Reisebeschränkungen wie Flugverbote als ineffektiv, weil viele Menschen sonst auf anderen – unkontrollierten – Wegen ins Land gelangen.
Außerdem ist die WHO nicht nur beim Budget, sondern auch bei der Zusammenarbeit auf den guten Willen ihrer Mitglieder angewiesen. Wenn sie sich vor Ort ein Bild machen möchte, braucht sie die Zustimmung der jeweiligen Regierung.
So hätte Tedros seine „fünf Minuten Ruhm“ haben können, wenn er China schon früh öffentlich verurteilt hätte. Er wäre dann aber immer noch auf die chinesische Bereitschaft für einen WHO-Lokalaugenschein oder zur Freigabe von Daten angewiesen gewesen. Gut möglich, dass die WHO es daher vorgezogen hat, hinter den Kulissen auf die chinesische Regierung einzuwirken.
Ebenso lässt sich Chinas Einfluss auf die WHO auch nicht mit Geld erklären, jedenfalls nicht eindeutig. Die chinesischen Zahlungen sind im Vergleich äußerst niedrig, sie betragen in Summe weniger als ein Zehntel von jenen der USA. Die Führung in Peking wickelt ihre Hilfsprogramme lieber auf direktem (bilateralem) Wege ab. Tedros erwähnte China in seinen Dankesworten an einzelne Sponsoren am 8. Februar daher auch nicht, wohl aber die USA, das Vereinigte Königreich, die Bill & Melinda Gates Stiftung, die Niederlande, die tschechische Republik und die gemeinnützige Wellcome Trust-Stiftung mit Sitz in London.
Allenfalls könnte der chinesische Einfluss damit erklärt werden, dass die Regierung in Peking zusätzliche (Sonder-)Zahlungen in Aussicht gestellt hat (konkrete Hinweise gibt es darauf derzeit allerdings nicht). China hat seine Zahlungen in den letzten Jahren bereits leicht erhöht. Umgekehrt sind die USA unter Trump kein verlässlicher Geldgeber, wobei ihre politische und wirtschaftliche Bedeutung langfristig abnehmen dürfte. Gut möglich, dass Tedros die Weichen für einen zunehmenden Schwenk in Richtung China stellen möchte, zumal er unmittelbar nach seiner Wahl im März 2017 seine Unterstützung für die „Ein-China-Politik“ zugesichert hatte, die Taiwan zunehmend isoliert.
Taiwan beansprucht seit dem Ende des chinesischen Bürgerkriegs die Vertretung für ganz China für sich, in den letzten Jahrzehnten wenden sich aber immer mehr Länder von der Regierung in Taipeh ab. Das Land ist auch kein WHO-Mitglied, eine Aufnahme ist für die Volksrepublik China und damit auch für die WHO kein Thema. Sinnbildlich steht dafür ein aktuelles Interview mit dem Mediziner Bruce Aylward, der im Auftrag der WHO im Februar nach Wuhan gefahren war – auf eine Frage zu Taiwan reagierte er erst mit der Behauptung, sie nicht gehört zu haben, später brach er das Gespräch ganz ab.
Bei aller berechtigten Kritik an der WHO – auch die westlichen Länder, insbesondere die USA, haben viele Fehler gemacht, die sich nicht einfach auf die WHO abwälzen lassen. Trump selbst hatte China noch am 24. Jänner dafür gelobt „sehr hart daran zu arbeiten, das Coronavirus einzudämmen“ und deren Anstrengungen und transparenten Umgang gelobt, mitsamt einem Dankeswort für Präsident Xi.
Außerdem darf man nicht vergessen, was die WHO sonst getan hat. China veröffentlichte das Coronavirus-Genom am 12. Jänner 2020, die WHO hat es daraufhin der Berliner Charité unter der Leitung von Christian Drosten weitergeleitet. Vier Tage später gab es den ersten Test, die WHO veröffentlichte dazu sofort Richtlinien, die von allen Staaten genutzt werden können.
Spätestens seit dem 23. Jänner 2020 hat die WHO und ihr Generaldirektor mehrfach von einem „hohen Risiko für die gesamte Welt“ gesprochen. Damals hat sie bereits Testungen an Flughäfen empfohlen, zwei Wochen danach hat sie den weltweiten Mangel an Schutzausrüstungen betont und Richtlinien für den Umgang mit dem Virus veröffentlicht. Am 20. Februar warnte ihr Generaldirektor zum wiederholten Male davor, dass das „Zeitfenster“, das China der Welt verschafft hatte, sich allmählich schließen würde. Ab 5. März wiederholte Tedros eindringlich die Bedeutung von Tests („test, test, test“). Ob und inwiefern seine Warnungen ernst genommen wurden, sei dahingestellt.
Bei der Bewertung der aktuellen Ereignisse lohnt außerdem ein Blick in die Vergangenheit. Schon Tedros Vorgänger’ standen immer wieder im Kreuzfeuer der Kritik. Den Anfang machten die Querelen rund um den Japaner Hiroshi Nakajima, dem WHO Generaldirektor von 1988 bis 1998. Auch er hatte sein Amt ohne US-Unterstützung bekommen, seine erste Amtszeit sollten ihre Zweifel bestätigen. Ihm wurden schlechtes Management und Korruption vorgeworfen. Der Tiefpunkt war mit dem Rücktritt des Vorsitzenden des WHO-Programms zur Bekämpfung von AIDS Jonathan Mann erreicht, der Nakajima vorwarf, das Thema nicht ernst genug zu nehmen (Nakajima stellte Krankheiten wie Malaria in den Vordergrund). Erschwerend kam hinzu, dass sein schlechtes Englisch und seine allgemein undeutliche Aussprache – selbst Japaner sollen sich schwergetan haben, ihm zu folgen – wenig dazu beitrugen, das Vertrauen in die WHO zu stärken.
In Nakajimas Amtszeit fällt auch der starke Wandel des WHO-Budgets. Ursprünglich stammte dieses – wie bei Internationalen Organisationen üblich – überwiegend aus den zweijährlichen Mitgliedsbeiträgen, heute entfallen etwa 22 Prozent auf die USA und 12 Prozent auf China (Österreich trägt 0,67 Prozent).
Ab den 1980er Jahren geriet die WHO allerdings in immer größer werdende finanzielle Bredouillen, zumal die USA 1985 nur noch 20 Prozent ihrer Beiträge leisteten, weil US-Pharmafirmen Probleme ein WHO-Medikamentenprogramm ablehnten. Damit einhergehend stieg der Anteil „außerbudgetärer“ Gelder – also projektbezogener Sonderzahlungen – stetig an, Anfang der 1990er Jahre machte dieser Teil erstmals über die Hälfte des Budgets aus.
Heute stammen gute drei Viertel des WHO-Budgets aus solchen Sonderzahlungen, die neben den Mitgliedsländern von der Europäischen Kommission, der Weltbank oder privaten Stiftungen wie jener von Bill und Melinda Gates geleistet werden, die auch hinter der einem weiteren großen Geldgeber, der Impfallianz Gavi, stehen. Hier ist der chinesische Anteil ungleich niedriger.
Am Rande sei außerdem angemerkt, dass Österreich gemessen an vergleichbaren Ländern wie Schweden, Dänemark oder Belgien oder auch in Relation zu Deutschland äußerst geringe Sonderzahlungen leistet. Auf unsere Nachfrage hin verwies das Außenministerium hier auf das Gesundheitsministerium, das den Ball wiederum zurückgespielt hat.
„Wir sind für die Zusammenarbeit mit der WHO zuständig, nicht aber für die allgemeine außenpolitische Ausrichtung und damit fürs Budget“, wie der dortige Sonderbeauftragte für Gesundheit Clemens Auer klarstellt:
„Was ich aber sagen kann: Österreich zahlt allgemein wenig Entwicklungshilfe. Die WHO ist in Europa eigentlich kein Thema, der Schwerpunkt ihrer Aktivitäten liegt in ärmeren Ländern. Das erklärt auch, wieso wir so geringe Sonderzahlungen leisten.“
Diese Budgetstruktur erschwert die Koordinierung innerhalb der WHO ebenso wie die langfristige Planung oder ihre Grundausrichtung. Ihr Budgetplan lese sich eher wie ein Bettelbrief, wie manch Beobachter moniert. Wer zahlt, schafft an: Die individuellen Präferenzen der Geldgeber verunmöglichen eine Gesamtstrategie – „die WHO steckt in einer Zwangsjacke aus 1000 Interessen“, wie es der Wissenschaftler Christian Kreuder-Sonnen ausdrückt, der am Wissenschaftszentrum Berlin zu Internationalen Organisationen forscht. Davon abgesehen wird auch innerhalb der WHO um die knappen Ressourcen gestritten. Das Geld bekommen nicht immer jene, die es am notwendigsten brauchen, sondern jene, die am besten lobbyieren.
Parallel dazu wurde die WHO im Bereich des Gesundheitswesens zunehmend von einem anderen, ungleich besser ausgestatteten Akteur verdrängt: der Weltbank. Auch hier hatten und haben die USA viel Einfluss, die Stimmgewichtung folgt schließlich nicht dem Prinzip „ein Staat, eine Stimme“, sondern richtet sich nach der Höhe der geleisteten Zahlungen. Deswegen haben die USA gegenwärtig 15,41 Prozent aller Stimmen, weitaus mehr als der Rest (was auch erklärt, wieso der Weltbankchef immer ein US-Amerikaner ist). Zum Vergleich: Österreich hat 0,76 Prozent, Deutschland 4,07, die Schweiz 1,42 und China 4,78.
Der WHO war bewusst, dass sie hier nur verlieren konnte. Daher definierte sie ihre globale Rolle neu: als „Koordinatorin“ und „Planerin“ bei Fragen der „globalen Gesundheit“. Das klingt so bürokratisch, wie es ist. Mittlerweile gibt es in- und außerhalb der WHO schließlich unzählige Initiativen, Organisationen und Sonderprogramme, die sich in irgendeiner Form dem Thema Gesundheit widmen.
Nakajimas Nachfolgerin wurde die ehemalige norwegische Premierministerin Gro Harlem Brundtland, die sich in der UNO zuvor als Vordenkerin bei Umweltfragen einen Namen gemacht hatte, auf sie geht das Konzept der „nachhaltigen Entwicklung“ (sustainable development) zurück.
In ihre Amtszeit fällt auch der Beginn des (finanziellen) Engagements von Bill und Melinda Gates. Etwa die Hälfte des WHO-Budgets zur Bekämpfung von rund 20 Krankheiten, allen voran die verschiedenen Formen von Diarrhö, Lungenentzündung, Malaria, AIDS und Tuberkulose, stammt aus den Spenden ihrer Stiftung. Als Reaktion auf die Ankündigung Trumps, die US-Zahlungen auszusetzen, sagte das Paar der WHO zusätzliche 150 Millionen US-Dollar zu. Es soll im Übrigen nicht unerwähnt bleiben, dass sich um Gates mittlerweile zahlreiche Verschwörungstheorien ranken, die von Impfgegnern und den Vertretern der „far right“ geschürt und verbreitet werden, weil er schon vor Jahren vor den Auswirkungen einer Pandemie gewarnt hatte. Dazu musste man aber kein Prophet sein. Die Verbreitung von Viren wie SARS-CoV-2 ist kein „schwarzer Schwan“, um das bekannte Bild des Risikoforschers Nassim Nicholas Taleb zu bemühen – ihm zufolge können sich daher weder Unternehmen noch der Staat darauf ausreden, dass eine Pandemie ein unvorhersehbares Ereignis sei, diese Gefahr war hinlänglich bekannt .
Die WHO steht also seit längerem unter massivem finanziellem und politischem Druck. Die letzten größeren Reformen gehen auf das Jahr 2002 und den Ausbruch des SARS-Coronavirus in China zurück. Die damalige Reaktion der WHO steht in eindeutigem Kontrast zu heute: Brundtland sprach gegen den Willen der Regierung in Peking zum ersten Mal seit 55 Jahren eine Reisewarnung für den Süden des Landes aus und kritisierte die Behörden dafür, den Ausbruch der Krankheit vertuschen zu wollen (Whistleblower wurden festgenommen und die Medien zensiert).
Damals folgte eine Reform der WHO-Regeln für den Krisenfall, die, wie Kreuder-Sonnen betont, noch aus dem Jahr 1969 stammten und Krankheiten wie Cholera, die Pest oder Gelbfieber im Blick hatten. Fortan sollten Staaten die WHO innerhalb von 24 Stunden über neue Krankheitsfälle und die getroffenen Maßnahmen benachrichtigen, um ihr eine Bewertung zu ermöglichen. Sie erhielt aber keinerlei Sanktionsmöglichkeiten oder sonstige Exekutivbefugnisse.
In den darauffolgenden Jahren begann eine regelrechte Achterbahnfahrt rund um den Umgang mit der drohenden Verbreitung von Krankheiten. So nahm die WHO bei der Schweinegrippe 2009 zum ersten Mal seit 40 Jahren eine Einstufung als Pandemie vor. Am Ende waren die Auswirkungen mit 18.500 bestätigten Todesfällen allerdings vergleichsweise gering.
Das rief viel Unmut hervor. Insbesondere der Europarat kritisierte die WHO dafür, unnötig Panik geschürt und damit vermeidbare Kosten verursacht zu haben. Der Erste, der damals Kritik äußerte, war der deutsche Mediziner und Politiker Wolfgang Wodarg (SPD). Ihm zufolge stand die WHO unter dem Einfluss der Pharma-Industrie, sie habe die Schweinegrippe bereits nach „nur einigen 100 Fällen“ und ohne wissenschaftlich gesicherte Grundlage als „hochgradig riskant“ eingestuft. Dabei habe sie außerdem das simple Faktum ignoriert, dass Influenzaviren sich immer schnell verbreiten – diese Eigenschaft allein mache sie aber noch nicht bemerkenswert oder riskant. Gemeinsam mit einigen weiteren Parlamentariern sprach er gar von „getürkten Pandemien“ (faked pandemic), mit denen Pharma-Unternehmen Wissenschaftler und Organisationen wie die WHO beeinflusst hätten, um Regierungen in Alarmbereitschaft zu setzen. Dazu habe die WHO auch ihre Pandemie-Definition entsprechend abgeändert. Letzten Endes seien dadurch „die oft knappen Gesundheitsressourcen für ineffiziente Impfstrategien“ aufgewendet worden, „durch die Millionen gesunder Menschen dem Risiko unbekannter Nebeneffekte von unzureichend getesteten Impfstoffen ausgesetzt wurden“.
Wodarg sollte später auch im Zuge der Bekämpfung von COVID-19 an die Öffentlichkeit treten. So bezweifelte er, dass das neuartige Coronavirus gefährlicher sei als eine normale Grippe. Das hat für viel Unmut gesorgt, der Spiegel sprach von „gefährlichen Falschinformationen“. Auch der mittlerweile weithin bekannte Virologe Christian Drosden, der von Wodarg direkt angegriffen wurde, hat dessen Ausführungen entschieden zurückgewiesen.
Die WHO nahm die Vorwürfe rund um ihren Umgang mit der Schweinegrippe ernst, zumal ihre Reputation stark gelitten hatte. Sie gab einen Bericht in Auftrag, um den Umgang mit der Schweinegrippe zu evaluieren. Resultat: Sie hatte grundsätzlich richtig gehandelt, aber auch viele Fehler gemacht. Die Pandemie-Definition sei übermäßig kompliziert – ein Vorwurf, der sich beim Umgang mit dem Coronavirus wiederholen sollte – und bei der Besetzung der Beratergremien habe es an Transparenz gefehlt, zumal einige ihrer Mitglieder tatsächlich eng mit Pharma-Unternehmen zusammenarbeiteten. Allerdings stellte der Bericht keine Beeinflussung durch kommerzielle Interessen fest. Außerdem gelangte er – aus heutiger Sicht besonders interessant – zu dem Schluss, dass „die Welt schlecht vorbereitet ist, um auf eine schwerwiegende Influenza-Pandemie oder ähnliche anhaltende globale Bedrohungen durch Gesundheitsnotfälle zu reagieren“.
Ebenso betont das Robert-Koch-Institut, dass die Pandemie-Definition nicht anlässlich der Schweinegrippe geändert wurde, sondern schon zuvor. Außerdem wäre die Schweinegrippe auch unter die alte Definition von Pandemien gefallen.
Der Grund der Änderung lag laut Clemens Auer vielmehr darin, dass „die alte Definition in der Praxis nicht lebbar war, das war das Werk von Schreibtischtätern. Daran sind ja Notfallpläne geknüpft, die bei Ausrufung aktiviert werden, mit enormen sozioökonomischen Folgen. Das hat sich bei der WHO niemand angesehen. Da steht sie aber nicht alleine da: Die Analysten von der CIA, wirtschaftswissenschaftliche Institute? Wer hat sich das genauer angesehen, wer hat da Berechnungen angestellt?“
Die Vorwürfe im Zuge der Schweinegrippe könnten sich einige Jahre später auf den Umgang mit der Ebola-Epidemie in Westafrika ab 2014 ausgewirkt haben. Damals machte die WHO den genau umgekehrten Fehler und wartete zu lange. Ärzte ohne Grenzen zufolge hatte sie den Ebola-Ausbruch um mehrere Monate zu spät als „internationalen Gesundheitsnotstand“ bezeichnet. Man darf sich fragen, ob sie damit dem Vorwurf der Panikmache entgehen wollte. Zudem kritisierte Ärzte ohne Grenzen, dass die Weltgemeinschaft schlichtweg kein Interesse für die Lage in afrikanischen Ländern hatte – zumal die WHO schon damals unter massivem Ressourcenmangel litt und ihre Einsatzgruppe für derartige Krisen zuvor abgeschafft worden war.
Beim Umgang mit dem neuartigen Coronavirus steckte die WHO daher nicht zum ersten Mal in der Zwickmühle. Zwar stellt sich die Frage, ob es für das Ausrufen des Gesundheitsnotstands überhaupt einen geeigneten Zeitpunkt geben kann. Ob man zu früh oder zu spät reagiert, liegt oft im Auge des Betrachters. Im Nachhinein ist man immer klüger. Wenn eine Krise abgewendet wird, lässt sich nur schwer sagen, ob es den Aufwand wert war oder ob es gelindere – weniger wirtschaftsschädigende – und aus Sicht des damaligen Informationsstands ebenso erfolgsversprechende Mittel gegeben hätte. Umgekehrt eignet sich die WHO hervorragend als Sündenbock, wenn sie aus Rücksicht vor den politischen und wirtschaftlichen Interessen einzelner Mitglieder (zu) lange abwartet.