Das Handy von Yu-Chun Ting klingelt zweimal täglich. Der Anrufer, eine Person von der taiwanesischen Behörde, erinnert den 21-jährigen Studenten daran, das Haus nicht zu verlassen, und erkundigt sich nach seinem Befinden. Yu-Chun befindet sich seit drei Tagen in häuslicher Quarantäne in der Stadt Taipeh. Die täglichen Kontrollanrufe sind nur eine der Maßnahmen, die Taiwans Regierung im Kampf gegen die Verbreitung von SARS-CoV-2 getroffen hat.
Die amerikanische Johns-Hopkins-Universität prognostizierte Ende Jänner für Taiwan das höchste Risiko, weltweit am meisten Corona-Fälle aus China zu importieren. Sie sollte sich irren. Mit 67 offiziell Infizierten hat Taiwan deutlich weniger Corona-Fälle als Österreich. Und das, obwohl China und Taiwan sich nicht nur geografisch nahestehen. Obwohl die Zahl der in China arbeitenden Taiwanesen stetig abnimmt, arbeiteten im Jahr 2018 noch 404.000 Taiwaner auf dem chinesischen Festland. Neben dem regen Flugverkehr zwischen beiden Ländern, auf dem das Modell der Johns-Hopkins-Universität basiert, pflegen Taiwan und China enge Handelsbeziehungen. Im vergangenen Jahr ging ein Viertel der Exporte nach China.
Kurz nachdem die ersten Corona-Fälle in Wuhan bekannt wurden, reagierte Taiwan schnell und kompromisslos. Der rege Personenverkehr wurde eingestellt, nicht trotz, sondern aufgrund der engen Handelsbeziehungen. Dass die chinesischen Behörden die heraufziehende Corona-Krise Anfangs zu verschleiern versuchten, hinderte die taiwanesische Regierung nicht daran, frühzeitig strenge Maßnahmen zu setzen. Die Ausbreitung des Virus sollte mit aller Macht verhindert werden. Bereits ab 31. Dezember untersuchten die Behörden des Inselstaats alle Passagiere an Bord gelandeter Flugzeuge auf Symptome einer Lungenentzündung. Ab dem 20. Jänner führte die Regierung strenge Einreisebestimmungen für chinesische Touristen ein, und am 7. Februar beschloss das taiwanische Außenministerium, die Einreise für alle Personen, die in den vergangenen 14 Tagen in China waren, zu verbieten.
Hier wurde irrtümlich der 31. Jänner angegeben, der Artikel wurde am 18. März um 09:30 Uhr entsprechend aktualisiert.
Für Chang-Chuan Chan, Dekan des Instituts für Gesundheitswissenschaften an der Nationalen Universität Taiwan, war der frühe Zeitpunkt dieser strengen Maßnahmen entscheidend: „Im Gegensatz zu anderen Ländern, die mit China ein großes Handelsvolumen und ähnlich viel Personenverkehr teilen, hat Taiwan eine sehr niedrige Zahl an importierten Fällen. Der Hauptgrund dafür sind die Einreisestopps und Grenzkontrollen, die unsere Regierung früh verhängt hat.“
Auch Österreich pflegt enge Handelsbeziehungen zu China. 2018 nahm China in der Rangordnung der wichtigsten Handelspartner Österreichs den fünften Platz ein. 2019 übernachteten außerdem 1,4 Millionen Chinesen in Österreich. Trotz des Virus, das sich immer weiter ausbreitete, empfahl die österreichische Regierung erst am 27. Februar, die Gesundheitshotline 1450 bei Verdacht auf COVID-19 anzurufen, anstatt direkt zum Arzt zu gehen. Erst am 10. März wurden Maßnahmen gesetzt, die das öffentliche Leben in Österreich deutlich beeinträchtigten: Ein Einreisestopp aus Italien wurde verhängt, die Lehrveranstaltungen an Hochschulen abgesagt und Veranstaltungen ab einer gewissen Größe verboten. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits 182 offiziell Infizierte in Österreich – mehr als doppelt so viele wie aktuell in Taiwan.
In Taiwan leben rund 24 Millionen Menschen. Bis zum 16. März wurden 17.219 Personen auf das neue Virus SARS-CoV-2 getestet. Das bedeutet, dass Taiwan bis jetzt 724 Personen pro Million Einwohner testete. In Österreich wurden bisher 8.490 Tests durchgeführt, bei einer Gesamteinwohnerzahl von knapp neun Millionen. Das ergibt rund 965 Tests pro Million Einwohner (Stand 16.3.2020, 15 Uhr – aktuelle Zahlen zu Österreich können Sie hier aufrufen ). Taiwan führt also derzeit in Relation etwas weniger Corona-Tests durch als Österreich. Kann das eine Erklärung dafür sein, dass in Österreich offiziell 892 Personen mehr an COVID-19 erkrankt sind als in Taiwan?
„Wohl kaum“, sagt Gesundheitswissenschaftler Chan im Interview mit Addendum. Vielmehr habe Taiwan die richtigen Schlüsse aus dem SARS-Ausbruch 2003 gezogen. Damals traf die in China beginnende Epidemie Taiwan besonders hart. „Unsere Gesellschaft hat daraus gelernt. Die Regierung gründete viele neue wissenschaftliche Einrichtungen und investierte in die Ausbildung von Fachpersonal, damit wir gegen einen Ausbruch von solchen Pandemien gewappnet sind.“ Außerdem gelang es Taiwan, dank der nationalen Gesundheitsversicherungsdatenbank, Risikogruppen zu identifizieren und die Aufenthaltsorte und Kontakte der Bevölkerung genau nachzuvollziehen. Personen, denen verordnet wurde, die Inkubationszeit in Heimquarantäne zu verbringen, wurden teilweise auch mit ihrem Handy lokalisiert. Am 7. Februar verhängten die taiwanesischen Behörden erstmals eine Strafe von umgerechnet knapp 9.000 Euro, weil sich ein Paar nicht an die Quarantänevorschriften gehalten hatte.
Yu-Chun musste sein Erasmus-Semester in Tschechien frühzeitig beenden. Im Februar hatte er an einem internationalen Studententreffen im Iran teilgenommen, und seine Bemühungen, einen Flug nach Europa zu buchen, waren vergebens. Alle Flugplätze wurden an Europäer vergeben, die heimkehren wollten. Also flog Yu-Chun vor einer Woche nach Taiwan zurück. Weil der Iran von Taiwan als COVID-19-Risikogebiet eingestuft wird, befindet sich der BWL-Student nun in Quarantäne. Polizisten und medizinisches Fachpersonal schotteten ihn auf dem Weg vom Flugzeug in den Rettungswagen, der nach der Landung bereitstand, von anderen Personen komplett ab. In den vier Tagen, die er ohne jegliche Symptome unter Hochsicherheits-Quarantäne verbrachte, wurde Yu-Chun zweimal auf den Erreger SARS-CoV-2 getestet.
Dass die Tests in Österreich teilweise mit langen Wartezeiten verbunden sind und Patienten bei der Corona-Hotline mitunter im Kreis geschickt werden, ist für den Taiwaner unvorstellbar. Jeder, der sich in Taiwan in häuslicher Quarantäne aufhält, erhält zweimal täglich einen Kontrollanruf, muss ein Online-Formular über sein Wohlergehen ausfüllen und hat auf SMS der Behörden umgehend zu antworten. Doch neben den strengen Maßnahmen setzt Taiwans Regierung auch auf Ermutigung: Yu-Chun bekam sogar bereits Besuch von seiner Bezirksvorsteherin. In Quarantäne-Ausrüstung übergab sie ihm ein kleines Geschenk. Mit dabei: 14 Atemmasken, für alle Fälle. Denn im Gegensatz zu Österreich begann Taiwan frühzeitig damit, Atemmasken zu rationieren und die inländische Produktion mit Einsatz des Militärs anzukurbeln. Für 20 Cent pro Maske darf sich jede Person in einer Apotheke drei Stück pro Woche abholen. Horten und Hamsterkäufe werden verhindert, indem die Besorgungen auf der Versicherungskarte verbucht werden. Eine App zeigt den Taiwanern genau an, wo es noch wie viele Masken zu holen gibt.
Yu-Chun findet es gut, dass seine Regierung das Virus von Anfang an so ernst genommen hat: „Ich fühle mich sehr sicher. Mir wurde garantiert, dass ich nur beobachtet werde, solange ich unter Quarantäne stehe. Das ist in Ordnung für mich, ich will ja selber niemanden anstecken.“ Auch Universitätsprofessor Chan beobachtet, dass die Vorbereitungen, die Taiwan in den Jahren nach der SARS-Krise getroffen hat, um sich auf eine Pandemie vorzubereiten, Früchte tragen. „Unsere Maßnahmen basieren auf fortgeschrittener Informationstechnologie, den ausgebauten digitalen Kommunikationsnetzwerken und der schnellen Datenanalyse.“ Außerdem stelle es kein großes Problem dar, die Bevölkerung dazu zu bringen, sich an die Vorschriften zu halten. Mahnende Worte, die Österreichs Vizekanzler Werner Kogler etwa an die Sportvereine richten musste, die sich nach wie vor nicht an die Empfehlungen der Bundesregierung hielten, sind in Taiwan nicht nötig.
Die Taiwaner haben laut Chan großes Vertrauen in die Regierung: „Unsere Bevölkerung scheint in der aktuellen, kritischen Zeit die öffentliche Gesundheit über ihre eigene Freiheit zu stellen. Von einer vertrauenswürdigen Regierung überwacht zu werden, scheint für unsere Bürger in Ordnung zu sein.“