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Wird uns ein Impfstoff retten?
2. Juni 2020 COVID-19-Impfstoff Lesezeit 12 min
Zehn Impfstoffkandidaten werden klinisch getestet, über hundert Kandidaten gibt es insgesamt. Können die Bemühungen dennoch scheitern?
Dieser Artikel gehört zum Projekt COVID-19-Impfstoff und ist Teil 1 einer 5-teiligen Recherche.
Bild: Mladen Antonov | AFP

Donald Trump war beeindruckt, als die CEOs mehrerer Pharmafirmen am 2. März im Weißen Haus eintrafen, um dem Präsidenten und seiner Regierung ihren Kandidaten für einen Corona-Impfstoff zu pitchen. Stéphane Barcel von Moderna Inc. hatte schnell die Aufmerksamkeit des US-Präsidenten: Er versprach, dass der Impfstoff gegen SARS-CoV-2 bereits in wenigen Monaten in Phase II (von drei) der klinischen Tests sein werde. Bereits am nächsten Tag gab die Arzneimittelbehörde FDA grünes Licht für Phase I für den Moderna-Impfstoff. Die US-amerikanische Welt war damals noch eine komplett andere: 102 bestätigte Corona-Fälle und sechs Tote hatten die Staaten bis dahin.

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US-Präsident Donald Trump gemeinsam mit dem Immunologen Anthony Fauci im nationalen Gesundheitsinstitut in Bethesda, Maryland.

Ziemlich genau zwei Monate später, Anfang Mai, standen die USA bei 65.000 Toten und 1,1 Millionen Infizierten. Der US-Präsident saß für ein Interview vor dem Lincoln Memorial in Washington und verkündete: Ende des Jahres wird es einen Impfstoff geben. „Operation Warp Speed“, werden die Bemühungen getauft, bis Jänner 2021 bis zu 300 Millionen Dosen eines wirksamen Impfstoffs zu produzieren – eine für jeden US-Amerikaner. Die Ankündigung des Präsidenten wurde von Experten weitgehend als Science-Fiction abgetan, wie es auch der „Warp Speed“ bei Star Trek ist. Johnson & Johnson, jenes Unternehmen, das Trump bei seiner Ankündigung namentlich nannte, geht selbst davon aus, vor 2021 keinen Impfstoff liefern zu können. Es ist nicht einmal noch in einer klinischen Testphase.

Erste Hoffnungen und Enttäuschungen

Moderna hingegen scheint bislang zu liefern, was es dem Präsidenten versprach, und sorgte Mitte Mai für einen Aufschwung an den Börsen: Die ersten Probanden, die den Impfstoff verabreicht bekamen, zeigten eine starke Immunantwort. Die einzige Nebenwirkung war ein geröteter Arm eines geimpften Patienten. Das Unternehmen will nun umgehend in die nächste Testphase mit 600 Probanden gehen, im Juli sollen in Phase III bereits tausende Probanden geimpft werden.

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Wie schnell solche Hoffnungen auch enttäuscht werden können, führte die Universität in Oxford vor: Bereits im September, versprachen die Forscher, könnte ein Impfstoff vorliegen. Tierversuche ließen zuversichtlich stimmen: Sechs Rhesusaffen, denen der Impfstoff injiziert wurde, waren einen Monat später immer noch gesund, obwohl sie hohen Dosen des Virus ausgesetzt waren. Die britische Regierung kündigte an, bis September 30 Millionen Dosen des potenziellen Impfstoffs herstellen zu können. Wenige Tage später kam die ernüchternde Nachricht: Die Affen wurden zwar nicht krank, trugen aber dennoch das Virus in sich und waren infektiös.

In Zeiten einer Pandemie ist das aber besser als nichts, weshalb das US-Pharmaunternehmen AstraZeneca auch nach Bekanntwerden dieser Nachricht 400 Millionen Dosen des potenziellen Impfstoffs herstellen will – und gleichzeitig bekannt gab, dass es dafür 1,2 Milliarden Dollar an Förderungen von der US-Regierung bekommt. 300 der 400 Millionen Dosen sind deshalb auch für den US-Markt reserviert, sollte der Impfstoff funktionieren und für den US-Markt zugelassen werden. Ein breiter klinischen Test mit 6.000 Probanden soll dieser Tage starten. Ende Oktober will AstraZeneca dann im Idealfall die erste Tranche des Impfstoffs produziert haben – wobei völlig unklar ist, wie viele Dosen diese umfassen wird und wie lange es dauern würde, alle 400 Millionen zu produzieren.

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Ein Moonshot für die Menschheit

Die Suche nach einem Impfstoff gegen ein Virus ist ein komplexes Unterfangen, das normalerweise Jahre bis Jahrzehnte dauern kann. Trotzdem gibt es rund um den Globus Versprechungen, dass es möglicherweise noch dieses Jahr einen Impfstoff geben könnte. Diese Versprechungen beruhen auf der Annahme, dass das Verfahren zur Erforschung und Zulassung eines Impfstoffs radikal verkürzt werden kann; und dass die derzeit in Entwicklung befindlichen Impfstoffe auch tatsächlich wirken.

Als Moonshots werden hoch ambitionierte Projekte bezeichnet, die zunächst unmöglich scheinen – wie eben die Ankündigung von US-Präsident John F. Kennedy 1961, noch im selben Jahrzehnt auf dem Mond zu landen. Mitten in einer Pandemie ist ein solcher Moonshot aber weit mehr als der Versuch, die technologische Überlegenheit einer Nation unter Beweis zu stellen. Sein Gelingen – so jedenfalls die Versprechungen der Politik – soll es der Menschheit ermöglichen, wieder zu einem normalen Leben zurückzukehren.

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Jeder gegen jeden?

Das „Space Race“ in den sechziger Jahren wurde zwischen der Sowjetunion und den USA ausgetragen, nun stehen China und die USA in einem Wettkampf mit dem Rest des Planeten. Anfang Mai wurden bei einer großen Geberkonferenz auf EU-Initiative 7,4 Milliarden Euro gesammelt, um der Corona-Krise zu begegnen – es spendeten zahlreiche Staaten, die EU, die „Bill & Melinda Gates Foundation“ und Madonna (mittlerweile hat sich die Summe durch weitere Spender – unter anderem Miley Cyrus, Justin Bieber und Michael Bloomberg – auf 9,8 Milliarden Euro erhöht). Etwas mehr als die Hälfte der Gelder soll zur Finanzierung der Impfstoffentwicklung genutzt werden. Vergeben werden sie über den sogenannten ACT Accelerator, wobei ACT für „Access to COVID-19 Tools“ steht – die über und mit Hilfe der Plattform entwickelten Impfstoffe sollen allen zur Verfügung stehen. Auch die Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI) unterstützt derzeit neun Impfkandidaten finanziell.

Nicht unter den Spendern und Unterstützern der Initiativen sind die USA und China. Das bedeutet natürlich auch, dass diese Staaten ihre eigene Bevölkerung zuerst impfen werden. Die Frage, wann eine Impfung für alle verfügbar sein wird, hängt vermutlich auch davon ab, welches Land hinter einem erfolgreichen Impfstoff steht. „Die Länder, die sich den Protektionismus auf ihre Fahnen geschrieben haben, wie die USA unter Trump, werden den Impfstoff zunächst für sich haben wollen“, sagt Rainer Henning, CEO des österreichischen Pharmaunternehmens Viravaxx. Der französische Pharmakonzern Sanofi hat bereits angekündigt, dass ein möglicher von dem Unternehmen entwickelter Impfstoff der US-amerikanischen Bevölkerung zuerst zur Verfügung gestellt werden soll – weil Sanofi von den USA Geld bekommen hat.

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Rainer Henning
CEO von Viravaxx

Neunzig Prozent scheitern

Aber wie kann die Zeitspanne der Impfstoffentwicklung überhaupt dermaßen verkürzt werden? „Es gibt keine Vorgaben für ein pandemisches Vakzin“, sagt Rainer Henning von Viravaxx. Anders gesagt: Es ist ein Blindflug. „Man muss einfach viele Dinge, die man normalerweise hintereinander macht, gleichzeitig machen. Das ist mit Risiken verbunden, aber derzeit ist es so, dass die Zulassungsbehörden in der Hoffnung auf einen entsprechenden Benefit bereit sind, dieses Risiko in Kauf zu nehmen.“ Die gute Nachricht sei: Förderungen für einen ernsthaften Impfkandidaten zu bekommen, sei derzeit kein Problem. Und: „Durch die Ausbrüche von SARS und MERS weiß man schon einiges über die Virusklasse, da gibt es schon Vorarbeiten“, sagt Henning – beide basieren ebenfalls auf Coronaviren.

„Wir wissen nach unseren Erfahrungen mit SARS und MERS, dass Impfstoffe gegen solche Pathogene wirken“, sagt der österreichische Impfexperte Otfried Kistner. „Vielleicht nicht jeder, und vielleicht nicht effektiv genug. Aber es wäre sehr überraschend, wenn solche Impfstoffe gar nicht wirken würden.“ Die Frage ist vielmehr: Wirken sie gut genug? Gegen SARS und MERS, beides Coronaviren, gibt es weiterhin keinen Impfstoff – und das gilt für alle anderen Coronaviren auch.

Überhaupt: In den USA kommen weniger als zehn Prozent der Impfstoffe und Medikamente, die die klinische Testphase erreichen, auch tatsächlich auf den Markt – und sie haben in der Regel eine weitaus längere Vorlaufzeit als die aktuellen Impfstoffkandidaten. Alleine in der zweiten der drei klinischen Testphasen scheitern siebzig Prozent der Wirkstoffe. Die auftretenden Probleme können mannigfaltig sein. „Vielleicht stellt der Körper die Antikörper her, aber nicht in ausreichender Anzahl. Vielleicht erkennen die Antikörper das Virus nicht so gut, wie es im Labor ausgesehen hat. Da bräuchte man mehrere Kristallkugeln, um das vorherzusagen“, erklärt Otfried Kistner.

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Otfried Kistner
Impfexperte

Über hundert Impfstoffkandidaten

Die globalen Anstrengungen sind jedenfalls enorm: Insgesamt forschen über hundert Universitäten, Initiativen und Unternehmen an einem Impfstoff. Zehn Impfstoffkandidaten haben bereits die erste und/oder zweite klinische Testphase erreicht – fünf chinesische, drei US-amerikanische, ein deutscher und ein britischer.

Impfstoff ist nicht gleich Impfstoff, die verschiedenen Kandidaten beruhen auf unterschiedlichsten Technologien. Das chinesische Unternehmen Sinovac arbeitet etwa an einem klassischen Impfstoff, bei dem ein inaktives Virus injiziert wird. In Versuchen mit Rhesusaffen zeigt er gute Ergebnisse. Der Vorteil an solchen Impfstoffen ist: Wir wissen, dass sie grundsätzlich funktionieren. „Das haben die letzten hundert Jahre gezeigt“, sagt Otfried Kistner.

Der Impfstoff aus Oxford beruht dagegen auf einer so genannten Vektorimpfung: Ein Virus – in dem Fall ein Adenovirus – wirkt als Träger eines Antigens für andere Viren – im konkreten Fall eben SARS-CoV-2. Die dahinterliegende Technologie zielt nicht auf ein bestimmtes Virus ab, sondern auf eine „Krankheit X“ – also eine unbekannte Krankheit, die irgendwann eine Pandemie auslösen könnte. Die Forschungen daran wurden bereits vor dem Aufkommen von SARS-CoV-2 begonnen. (Auf Adenoviren fußen auch Teile der chinesischen Forschungen: Der Impfstoff des Unternehmens CanSino hat bereits die zweite klinische Testphase erreicht.)

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Erich Tauber
CEO von Themis

Österreichische Bemühungen

Auch in Österreich gibt es Forschungen an einem Impfstoff, einer davon soll in wenigen Wochen in einen klinischen Test gehen: Das Wiener Biotechnologieunternehmen Themis arbeitet gemeinsam mit dem französischen Institut Pasteur und dem Center for Vaccine Research an der University of Pittsburgh im Konsortium an einem Impfstoff, der von der Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI) unterstützt wird. Auch der Hadean Venture Fonds des Österreichers Walter Stockinger finanziert Themis mit, ebenso wie die „Bill & Melinda Gates Foundation“.

Ende Mai wurde Themis vom US-Pharmariesen Merck übernommen. Erich Tauber, Mitbegründer und CEO von Themis, hofft deshalb nun noch rascher voranzukommen. Wie die Forscher aus Oxford setzt Themis auf eine Vektorimpfung: „In unserem Fall ist es das gleiche Virus, das man für den Masern-Impfstoff verwendet. In diesem Masern-Impfstoff verstecken wir auch Antigene von COVID-19. Und hier erwarten wir, dass es eine starke Immunantwort gegen COVID-19 geben wird“, erklärt Erich Tauber.

Viravaxx hingegen setzt auf eine proteinbasierte Impfung, erklärt CEO Rainer Henning: „Wir verwenden Teile der Virushülle in unserer firmeneigenen patentgeschützten Konstruktionsplattform. Dazu müssen wir aber erst verstehen, welche Teile der Virushülle dazu führen, dass man tatsächlich schützende Antikörper produziert.“ Henning schätzt, dass die ersten Kandidaten für einen Impfstoff in den nächsten Wochen identifiziert sein könnten. Das Ziel sei, im dritten Quartal des Jahres in eine klinische Testphase zu gehen.

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Hoffnung RNA

Die große Hoffnung für viele Impfstoffhersteller sind aber Vakzine, die auf einer RNA-Basis funktionieren – der potenzielle Impfstoff von Moderna Inc. ist ein Beispiel für diese Technologie. Das 2010 gegründete Unternehmen hat noch nie ein Medikament auf den Markt gebracht; es hat nicht einmal noch ein Medikament in die dritte und letzte Testphase gebracht. Auch die 1990 entwickelte RNA-Technologie selbst hat bislang noch nie zu einem positiven Ergebnis, sprich Impfstoff, geführt. Am 16. April hat Moderna dennoch 483 Millionen Dollar von der Regierung erhalten (auch Johnson & Johnson bekam 456 Millionen Dollar), und weltweit forschen 17 Projekte an Impfstoffen auf RNA-Basis.

Diese Impfstoffe enthalten nicht mehr Teile des echten Virus, sondern nur noch einige seiner Gensequenzen. Sie schleusen sich verkürzt gesagt in die Zellen ein und geben ihnen den Auftrag, Antikörper gegen ein Virus zu bilden. Der große Vorteil dieser Impfungen ist: Der Impfstoff wäre synthetisch und sehr einfach herzustellen. Aber nicht alle sind davon überzeugt, dass diese Impfstoffe – selbst wenn sie wirken sollten – wirklich der heilige Gral sind. „Es gibt viele Experten, die darauf hinweisen, dass die Immunantwort eines Impfstoffs mit dieser Technologie eher schwach ist“, sagt Rainer Henning, CEO des österreichischen Pharmaunternehmens Viravaxx. Heißt: dass die Impfung nicht unbedingt hundertprozentigen Schutz bietet, oder diesen nur für eine kurze Zeitspanne.

Impfexperte Otfried Kistner ist optimistischer: „Sehr vielversprechend“ findet er die Technologie. „Es gibt Erfahrungen, dass diese Impfstoffe auch im Menschen wirken.“ Im Gegenteil zu einer verwandten Impfstofftechnologie, die auf DNA statt RNA beruht: „Da wird schon lange daran geforscht, aber interessanterweise sind die Ergebnisse im Menschen nicht sehr vielversprechend“, sagt er.

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Wenn Antikörper zur Gefahr werden

Eine weitere Gefahr, die alle Impfstoffe unabhängig von der dahinterliegenden Technologie betreffen, sind Antikörper, die genau das Gegenteil von dem tun, was sie tun sollten: die Infektion zu verstärken, indem sie die Aufnahme des Virus in die Zelle erleichtern – das ist etwa 2015 beim Impfstoff gegen Denguefieber passiert. Zusätzlich könnten natürlich auch Nebenwirkungen auftreten. Ein 2009 von der EU zugelassener Impfstoff gegen die Schweinegrippe führte in Finnland und Schweden bei Kindern und jungen Erwachsenen zu einem vierfach erhöhten Risiko, an Narkolepsie zu erkranken. Je kürzer die Entwicklungsdauer, desto höher die Wahrscheinlichkeit von Komplikationen, die in der Testphase nicht erkannt wurden.

Weil SARS-CoV-2 im Vergleich zu beispielsweise Ebola eine sehr geringe Sterblichkeit hat und sich bekanntlich oft unbemerkt verbreitet, ist tatsächlich eine flächendeckende Impfung notwendig, um das Virus einzudämmen. Das bedeutet, es müssen viele Menschen geimpft werden, die diese Impfung vielleicht gar nicht bräuchten, weil die Erkrankung bei ihnen einen milden Verlauf hätte oder weil sie überhaupt symptomfrei wären.

Umso wichtiger sei es da, nichts zu überstürzen und lieber ein paar Monate länger zu testen, als einen Impfstoff mit potenziellen Nebenwirkungen zuzulassen, schreibt der Arzt Shibo Jiang in der Fachzeitschrift Nature: Bei seinen Forschungen an einem SARS-Impfstoff 2003 habe sich beispielsweise gezeigt, dass dieser bei Mäusen zu keinerlei Problemen, bei Frettchen und Affen aber zu infektionsverstärkenden Antikörpern geführt habe. Zudem seien bei getesteten Tieren Lungenkrankheiten aufgetreten. Tests zu überspringen und auf das Beste zu hoffen, sei trotz Pandemie nicht das Mittel der Wahl.

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Sollen sich Probanden absichtlich dem Virus aussetzen?

Zumindest Mutationen des Virus sollten bei SARS-CoV-2 keine große Herausforderung darstellen: Corona bedeutet Kranz oder Krone; die Viren sind nach ihrer spezifischen Form mit einer zackigen Oberfläche benannt. „Kleine Veränderungen an der Oberfläche des Virus führen dazu, dass es biologisch nicht mehr agieren kann“, erklärt Impfexperte Kistner. Weil die Impfstoffe auf die Oberfläche des Virus abzielen, sind Mutationen in anderen Bereichen des Virus möglicherweise medizinisch relevant, aber nicht für die Wirksamkeit eines möglichen Impfstoffs.

Der muss möglichst bald getestet werden: Die dritte und entscheidende Testphase ist jene, bei der tausenden Probanden der Impfstoff sozusagen in der freien Wildbahn injiziert wird. Um die Wirksamkeit des Impfstoffs zu testen, müssen diese zufällig mit dem Virus in Kontakt kommen – und sich eben im Idealfall nicht anstecken, weil der Impfstoff wirkt. Das Problem für die Forscher: Je besser die Pandemie in den kommenden Wochen und Monaten eingedämmt wird, desto schwieriger wird es, den Impfstoff in der dritten Phase zu testen. „Die Herausforderung wird sein, sicherzustellen, dass man genug Fälle hat. Wenn ich viele Menschen impfe, bringt das nichts, wenn kein Virus im Umlauf ist“, sagte der Chief Medical Officer von Moderna, Tal Zaks. Mehr noch: „Selbst wenn wir Menschen impfen, können wir nicht sagen: ‚Tragt keine Masken‘ oder ‚Warum trefft ihr nicht Menschen in geschlossenen Räumen?‘ Es ist ein absurdes Dilemma“, sagte der US-Bioethiker Arthur Caplan der MIT Technology Review.

Aufgrund dieser Umstände – und der niedrigen Sterblichkeit durch eine COVID-19-Erkrankung bei jungen Menschen – werden nun immer wieder sogenannte „challenge trials“ diskutiert, bei denen Probanden absichtlich mit dem Virus in Kontakt kommen. „Daran gibt es viel Interesse, weil es die Entwicklung einer Impfung wirklich beschleunigen würde“, erzählte Andrew Pollard von der Universität Oxford dem Guardian. Bislang wurden aber noch keine solcher „challenge trials“ durchgeführt, auch weil sie gerade bei einem neuen Virus noch riskanter wären: „Wir dürfen nicht vergessen, wir kennen das Virus maximal vier Monate, wenn überhaupt. Das heißt, es gibt keine Langzeiterfahrung. Noch dazu, wo es auch keine verlässlichen Medikamente gibt, die man im Falle des Auftretens von schwerwiegenden, möglicherweise letalen Symptomen therapeutisch einsetzen könnte“, sagt Kistner.

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Wie lange wirkt eine Impfung?

Und noch eine weitere Unbekannte wird für Impfstoffe relevant sein: Sind Menschen, die das Coronavirus hatten, dagegen auf lange Zeit immun? Aus Südkorea wurden Fälle von Erkrankten berichtet, die sich ein zweites Mal mit dem Virus ansteckten. Auch wenn neue Untersuchungen nun nahelegen, dass diese Patienten falsch positiv erkrankt waren – dass also lediglich die Tests versagten –, ist komplett unklar, wie lange eine Immunität nach einer Erkrankung anhält.

Das kann auch für einen Impfstoff von Bedeutung sein – und entscheidend dafür, ob eine Impfung tatsächlich einen Ausweg aus der Pandemie bieten kann. Auf Twitter schreibt der Humangenetiker David States von der University of Michigan, dass niemand weiß, wie lange eine Immunisierung nach einer erfolgreichen Impfung anhalten wird. Und dass beispielsweise die Grippeimpfung die Chance einer Erkrankung lediglich um fünfzig Prozent verringert.

Weil SARS-CoV-2 viel ansteckender ist als die Grippe, kann es durch eine nicht zu hundert Prozent wirksame Impfung auch viel schlechter eingedämmt werden. Seine Befürchtung: Wir müssen entweder auf ein Medikament zur Behandlung von COVID-19 hoffen oder uns auf ein langes Social Distancing einstellen; ob mit Impfung oder ohne. Oder wie es der Epidemiologe Larry Brilliant ausdrückte, der mit seiner Arbeit an der Ausrottung der Pocken mitgewirkt hat: „Was wir mit einer Impfung nicht bekommen, sind Regenbögen und Einhörner.“ Das Virus wird uns noch lange erhalten bleiben. 

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