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Das Ende der Welt, wie wir sie kannten?
2. Juni 2020 COVID-19-Impfstoff Lesezeit 8 min
Die Rückkehr zur Normalität bedeutet für die Pharmaindustrie einen nie dagewesenen logistischen Aufwand.
Dieser Artikel gehört zum Projekt COVID-19-Impfstoff und ist Teil 2 einer 5-teiligen Recherche.
Bild: Marko Djurica | Reuters

Glaubt man den Aussagen zahlreicher Staats- und Regierungschefs, wird es einen Ausweg aus der Corona-Krise erst mit einer Impfung geben. Das sind düstere Aussichten.

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Solange es keine Impfung oder keine wirksamen Medikamente gibt, wird uns diese Krankheit begleiten.
Bundeskanzler Sebastian Kurz am 4. April in einem Zeitungsinterview.

Auch wenn die Anzahl der Neuinfektionen mit SARS-CoV-2 in Österreich massiv gesunken ist, sind die Folgen der Pandemie allgegenwärtig und niemand weiß, ob es nicht eine neue Ansteckungswelle geben wird. Die Sehnsucht nach der „Normalität“, also einem Leben wie vor dem Ausbruch der Pandemie ist, groß. Diese Normalität soll – Politikern zufolge – ein Impfstoff bringen, am besten schon Ende dieses Jahres oder wenigstens zu Beginn des nächsten. Aber wie realistisch ist das?

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„Wir können keine genauen Zeitlinien versprechen.“
Erich Tauber, CEO von Themis

Faktum ist, dass weltweit alles, was in der Pharmaindustrie an Forschungskapazitäten, Produktionsprozessen und Arbeitskraft mobilisiert werden kann, auf einen möglichen COVID-19-Impfstoff fokussiert wird. Andere Projekte seien momentan ohnehin sehr schwer umzusetzen, erzählt Erich Tauber von Themis, einem Wiener Biotechnologie-Unternehmen: „Wenn man jetzt in eine Forschungseinrichtung geht und sagt, man möchte eine klinische Studie machen, dann heißt es sehr häufig: ,We can do only COVID‘.“

Was die Identifikation eines wirksamen Impfstoffs angeht, ist er, wie viele andere Wissenschaftler, zuversichtlich. „Ich gehe davon aus, dass es bald zugelassene Impfstoffe geben wird, wir können aber keine genauen Zeitlinien versprechen.“

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„Wahrscheinlich haben wir schon jetzt einen Impfstoff, wir wissen es nur noch nicht.“
Markus Zeitlinger, Chef der Klinischen Pharmakologie der Meduni Wien

Eine Einschätzung, die erstmal Hoffnung macht. Aber die ernüchternde Wahrheit ist: Ein wirksamer COVID-19-Impfstoff wäre ein Meilenstein, aber noch lange nicht die Zielgerade auf dem Marathon zur Normalität, möglicherweise noch nicht einmal die halbe Strecke.

„Wahrscheinlich haben wir schon jetzt einen Impfstoff, wir wissen es nur noch nicht“, sagt Markus Zeitlinger, Chef der Klinischen Pharmakologie der Meduni Wien. Mit seinem Team ist er darauf spezialisiert, neue Wirkstoffe in klinischen Studien an Menschen zu testen. Aber einen Impfstoff zu „haben“, ist die eine Sache. Ihn auf Sicherheit und Wirksamkeit zu testen und dann in großen Mengen zu produzieren, eine ganz andere.

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Denn: Unter „normalen“ Bedingungen will niemand jemals Impfstoffdosen in solchen Mengen haben. Das bedeutet einen nie dagewesenen logistischen Aufwand. „Verfügbar für alle, bedeutet acht Milliarden Dosen des Impfstoffs. Und die meisten der Ansätze für einen Impfstoff benötigen das, was wir einen ‚Booster’ nennen, was bedeutet, dass wir in diesem Fall 16 Milliarden Dosen bräuchten”, sagt der Virologe und Impfexperte Otfried Kistner. Dass also die Immunisierung – zumindest – zwei Impfungen braucht, wie das etwa auch bei Tetanus der Fall ist.

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„Manche Länder haben Ampullen bestellt, haben aber nie dafür gesorgt, dass auch genug Spritzen vorhanden waren.“
Otfried Kistner, Virologe und Impfexperte

Jede Herstellungsmethode verlangt nach eigenen Produktionsstätten. Wer einen proteinbasierten Impfstoff produziert, kann in derselben Anlage keinen mRNA-basierten herstellen und umgekehrt. Sollte sich der Impfstoff als untauglich erweisen, wurde die ganze Fabrik umsonst erbaut. Manche Impfstoffe eignen sich besser für die Massenproduktion ungeahnten Ausmaßes als andere – jene, die auf mRNA basieren, wären leichter herzustellen. Aus derselben Menge Ausgangsmaterial könnte die hundert- bis tausendfache Menge an Impfstoff hergestellt werden wie bei anderen Ansätzen. Wohl auch deshalb hoffen viele auf einen Impfstoff, der auf dieser Technologie basiert. In Wuhan und Peking laufen gerade klinische Tests für einen Impfstoff, der auf einem inaktiven SARS-CoV-2-Virus beruht. Um diesen Impfstoff herzustellen, muss zunächst ein aktives Virus produziert werden, das dann quasi entschärft wird. Dafür braucht es Anlagen, die der biologischen Schutzstufe 3 (von 4 möglichen) entsprechen: Das bedeutet Schutzausrüstung, Filteranlagen, Zugangsschleusen.

Wie diese gigantische Herausforderung bewerkstelligt werden kann, darüber zerbrechen sich derzeit zwar rund um die Welt sehr viele Menschen den Kopf. Tatsache aber ist, dass noch niemand weiß, ob es möglich ist, Millionen, wenn nicht gar Milliarden an Menschen auf der ganzen Welt zu immunisieren und vor allem: wie lange es dauern wird.

Denn: Unter regulären Bedingungen dauert ein Entwicklungsprogramm eines viralen Impfstoffs zehn bis zwanzig Jahre.

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„Solche Impfstoffe sind noch nie in großen Mengen hergestellt worden.“
Walter Stockinger, Gründer des Venture Capital Fonds Hadean

„Das ist ein wunder Punkt“

Walter Stockinger ist Gründer des Venture Capital Fonds Hadean mit Sitz in Oslo. Hadean finanziert Life Science in Skandinavien, Deutschland und Österreich. Auch er sieht nicht in der Erforschung eines Impfstoffs, sondern vorwiegend in der Produktion und Distribution die größte Herausforderung. „Das ist ein wirklich wunder Punkt. Die Impfstoffprojekte, die man jetzt als führend bezeichnet, sind DNA- und RNA-Vakzine. Diese haben zwar den Vorteil, dass sie vollständig synthetisch herzustellen sind. Der große Nachteil aber ist, dass solche Impfstoffe noch nie in großen Mengen hergestellt wurden. Die Firmen behaupten zwar, sie schaffen diese Kapazitäten, aber die Realität ist, dass sie damit keinerlei Erfahrung haben.“

„Wir müssen Möglichkeiten suchen, wo wir diese Millionen von Impfstoffdosen herstellen können, und das in Fabriken, die vor einigen Wochen nicht einmal gewusst haben, dass es COVID-19 gibt“, erklärt Erich Tauber. „Das heißt, es ist zum einen eine große Herausforderung, die Produktionsslots zu finden, und zum anderen auch die ganzen Hilfsstoffe. Ich habe keine Ahnung, wie viele 2-Milliliter-Spritzen es jetzt auf der ganzen Welt gibt. Aber wenn man sich ausrechnet, dass man eine Milliarde Impfstoffdosen abfüllen möchte: Wo gibt es diese ganzen Spritzen? Das sind alles so Mengen, die auch so die Zulieferer jetzt vor ganz andere Herausforderungen stellen.“

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Ein Fünf-Tonnen-Brot backen

Unter regulären Bedingungen – sprich: ohne eine sich rasant ausbreitende Pandemie – wird ein Impfstoff zunächst in kleinen Werken produziert. Erst werden ein paar hundert oder tausend Dosen des Impfstoffs hergestellt. Dann wird die Produktion langsam hochgefahren. „Upscaling“ nennt sich dieser Prozess, der in der biochemischen Verfahrensentwicklung die Maßstabsvergrößerung der Herstellungsverfahren bezeichnet. Die Entwicklung des Herstellungsprozesses startet lange bevor ein möglicher Impfstoff überhaupt zugelassen wird. Häufig wird auch dann schon mit dem Bau einer Produktionsstätte begonnen.

In der aktuellen Krise will die Stiftung des Microsoft-Gründers Bill Gates gleich sieben solcher Fabriken finanzieren, wie er dem Host der US-amerikanischen Daily Show in einem Interview erklärte. Dafür will Gates die sieben vielversprechendsten Impfstoffkandidaten auswählen. Selbst wenn sich am Ende nur zwei davon als erfolgreich erweisen sollten, sei das besser als abzuwarten, ob der Impfstoff wirke und erst danach die Fabrik zu bauen.

Um also die Produktion von großen Mengen an Impfstoffdosen zu bewerkstelligen, reichen die kleinen Werke nicht mehr aus. Dafür sind riesige Fabriken mit großen Bioreaktoren vonnöten. Und sehr viel Fachwissen. Arbeitet man etwa mit einem inaktivierten Impfstoff, braucht man ein sehr hohes Biosicherheitslevel, da man mit Viren arbeitet, die man erst unschädlich machen muss.

Und auch hier gilt: Das Upscaling ist die große Crux. Denn große Mengen herzustellen, bedeutet nicht einfach nur, die Mengen der nötigen Rohstoffe anzupassen, wie der Pharmakologe Markus Zeitlinger erklärt: „Hier muss man sehr aufpassen, dass man in diesem Produktionsschritt nicht etwas Wesentliches verändert. Und das ist etwas komplizierter, als wenn ich ein Kilo Brot backen möchte. Denn möchte ich zum Beispiel ein Fünf-Tonnen-Brot backen, kann ich nicht die gleiche Temperatur anwenden wie für das Ein-Kilo-Brot. Denn das Brot wäre dann außen sicherlich komplett verbrannt und innen überhaupt nicht gar. Ähnliche Probleme hat man hier beim Upscaling auch, es braucht dann einfach andere Schritte. Hier muss man sehr aufpassen, dass das schlussendlich das gleiche Produkt ist.“

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Feinheiten, die über die Zukunft entscheiden

Die Logistik der Impfstoffproduktion wird maßgeblich beeinflussen, wann ein Covid-19-Vakzin für sehr viele Menschen verfügbar sein wird. Das bestätigt auch Impfexperte Kistner.

Kleine Biotech-Unternehmen hätten für große Mengen der Vakzinherstellung einfach nicht die Kapazitäten, sagt er. Spätestens wenn in Phase 3 der Impfstoffentwicklung eine Substanz an einer großen Menge an Probanden getestet werden muss, brauchen kleine Unternehmen einen großen Partner, der den Wirkstoff in großen Mengen herstellen kann. Das Upscaling ist ein komplexer Prozess und kann Monate bis Jahre in Anspruch nehmen.

Entscheidend ist auch, ob für den Impfstoff eine bereits existierende Plattform verwendet wird oder nicht. Sogenannte Impfstoff-Plattformen beruhen auf bereits etablierten und entschärften Viren, die bereits als Impfstoffbasis im Einsatz sind. Komibiniert mit einem entsprechenden Antigen eines neuen Virus können sie so relativ schnell in Notfall-Vakzine umgewandelt werden. Bei vorhandenen Plattformen gibt außerdem viele Daten, die den Zulassungsprozess beschleunigen können.

„Das sind dann eben diese kleinen Feinheiten, die entscheiden, warum die einen von der Entwicklung bis zur Zulassung zwei Jahre brauchen und es bei den anderen zehn Jahre dauert,“ erklärt Kistner.

All diese Faktoren – Upscaling, Plattformen, Lizenzen – müssen zusammenspielen, um auf dem Marathon der Impfstoffentwicklung gut voranzukommen.

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Antigene (kurz für Antisomatogene) sind Moleküle, die das Immunsystem als körperfremd erkennt. Sie lösen eine Immunreaktion oder Immunantwort aus. Antigene können die Bildung von spezifisch gegen sie gerichteten Antikörpern hervorrufen.

Oft scheitert ein rasches Vorankommen auch daran, dass manche Staaten ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben, sagt Kistner. Denn manchmal werden Impfstoffe in sogenannten Multidose-Einheiten vertrieben. Das sind Glasampullen, in denen zehn Impfdosen enthalten sind, für die Entnahme und Verabreichung braucht man Spritzen.

„So haben manche Länder zwar diese Ampullen bestellt, haben aber nie dafür gesorgt, dass sie in den Spitälern, in denen die Impfungen verabreicht werden sollten, auch genug Spritzen vorhanden waren. Das hat dazu geführt, dass zwar genügend Impfstoff vorhanden war, er aber nicht injiziert werden konnte, da die Spritzen gefehlt haben. Auch daran erkennt man, wie komplex das Thema ist.“

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„Es wird extrem herausfordernd sein“

All das deutet darauf hin, dass es wohl noch dauern wird, bis die Ziellinie erreicht ist und Wissenschaft, Politik und Wirtschaft so weit sind, Millionen, wenn nicht gar Milliarden an Impfstoffdosen an die Weltbevölkerung zu verabreichen. Und je nachdem, in welchem Land ein wirksamer, sicherer Impfstoff entdeckt wird – und wer ihn bezahlt – können auch noch nationale Interessen eine Rolle spielen, Stichwort „America first“.

Um das zu verhindern, bemühen sich Organisationen wie etwa die Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI), eine weltweite Allianz öffentlich-privater Stakeholder wie Regierungen, der WHO, der EU, der Bill & Melinda Gaste Foundation und er Impfstoffindustrie um eine Organisation einer gemeinsamem Impfstoffproduktion, einschließlich Rohstoffbeschaffung, Finanzierung und vor allem auch einer fairen Verteilung.

In jedem Fall bleibt die schiere Menge die größte Hürde. Ein Zurück zur Normalität, wie man sie vor Ausbruch der Pandemie kannte, wird es also nicht so bald geben. Man müsse davon ausgehen, dass wir noch lange in diesem Zustand leben, meint Otfried Kistner: „Global wird das auf jeden Fall so sein.“

Eine Prognose, die die Experten unisono äußern ist, dass wir wohl nicht nur einen Impfstoff, sondern mehrere haben werden, was für die Versorgungssicherheit gut wäre. Denn so wäre man nicht von einer einzelnen Firma abhängig. Und vielleicht wäre dann auch einer besser für alte Menschen geeignet, während ein anderer für junge völlig ausreicht.

„Es wird jedenfalls extrem herausfordernd sein, eine Milliarde an Impfdosen herzustellen“, sagt Markus Zeitlinger.

„Ich gehe davon aus, dass wir am Anfang entscheiden müssen, wer den Impfstoff zuerst bekommt: Etwa Patienten, die zur Risikogruppe gehören, Menschen, die im Gesundheitssystem tätig sind oder systemrelevanten Berufe haben. Ich bin mir sicher, dass es bei diesem Impfstoff anfangs nicht möglich sein wird, in die Apotheke zu gehen und einfach eine Dosis zu kaufen. Das wird es so nicht spielen.“  

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