Glaubt man den Aussagen zahlreicher Staats- und Regierungschefs, wird es einen Ausweg aus der Corona-Krise erst mit einer Impfung geben. Das sind düstere Aussichten.
Auch wenn die Anzahl der Neuinfektionen mit SARS-CoV-2 in Österreich massiv gesunken ist, sind die Folgen der Pandemie allgegenwärtig und niemand weiß, ob es nicht eine neue Ansteckungswelle geben wird. Die Sehnsucht nach der „Normalität“, also einem Leben wie vor dem Ausbruch der Pandemie ist, groß. Diese Normalität soll – Politikern zufolge – ein Impfstoff bringen, am besten schon Ende dieses Jahres oder wenigstens zu Beginn des nächsten. Aber wie realistisch ist das?
Unter regulären Bedingungen – sprich: ohne eine sich rasant ausbreitende Pandemie – wird ein Impfstoff zunächst in kleinen Werken produziert. Erst werden ein paar hundert oder tausend Dosen des Impfstoffs hergestellt. Dann wird die Produktion langsam hochgefahren. „Upscaling“ nennt sich dieser Prozess, der in der biochemischen Verfahrensentwicklung die Maßstabsvergrößerung der Herstellungsverfahren bezeichnet. Die Entwicklung des Herstellungsprozesses startet lange bevor ein möglicher Impfstoff überhaupt zugelassen wird. Häufig wird auch dann schon mit dem Bau einer Produktionsstätte begonnen.
In der aktuellen Krise will die Stiftung des Microsoft-Gründers Bill Gates gleich sieben solcher Fabriken finanzieren, wie er dem Host der US-amerikanischen Daily Show in einem Interview erklärte. Dafür will Gates die sieben vielversprechendsten Impfstoffkandidaten auswählen. Selbst wenn sich am Ende nur zwei davon als erfolgreich erweisen sollten, sei das besser als abzuwarten, ob der Impfstoff wirke und erst danach die Fabrik zu bauen.
Um also die Produktion von großen Mengen an Impfstoffdosen zu bewerkstelligen, reichen die kleinen Werke nicht mehr aus. Dafür sind riesige Fabriken mit großen Bioreaktoren vonnöten. Und sehr viel Fachwissen. Arbeitet man etwa mit einem inaktivierten Impfstoff, braucht man ein sehr hohes Biosicherheitslevel, da man mit Viren arbeitet, die man erst unschädlich machen muss.
Und auch hier gilt: Das Upscaling ist die große Crux. Denn große Mengen herzustellen, bedeutet nicht einfach nur, die Mengen der nötigen Rohstoffe anzupassen, wie der Pharmakologe Markus Zeitlinger erklärt: „Hier muss man sehr aufpassen, dass man in diesem Produktionsschritt nicht etwas Wesentliches verändert. Und das ist etwas komplizierter, als wenn ich ein Kilo Brot backen möchte. Denn möchte ich zum Beispiel ein Fünf-Tonnen-Brot backen, kann ich nicht die gleiche Temperatur anwenden wie für das Ein-Kilo-Brot. Denn das Brot wäre dann außen sicherlich komplett verbrannt und innen überhaupt nicht gar. Ähnliche Probleme hat man hier beim Upscaling auch, es braucht dann einfach andere Schritte. Hier muss man sehr aufpassen, dass das schlussendlich das gleiche Produkt ist.“
Die Logistik der Impfstoffproduktion wird maßgeblich beeinflussen, wann ein Covid-19-Vakzin für sehr viele Menschen verfügbar sein wird. Das bestätigt auch Impfexperte Kistner.
Kleine Biotech-Unternehmen hätten für große Mengen der Vakzinherstellung einfach nicht die Kapazitäten, sagt er. Spätestens wenn in Phase 3 der Impfstoffentwicklung eine Substanz an einer großen Menge an Probanden getestet werden muss, brauchen kleine Unternehmen einen großen Partner, der den Wirkstoff in großen Mengen herstellen kann. Das Upscaling ist ein komplexer Prozess und kann Monate bis Jahre in Anspruch nehmen.
Entscheidend ist auch, ob für den Impfstoff eine bereits existierende Plattform verwendet wird oder nicht. Sogenannte Impfstoff-Plattformen beruhen auf bereits etablierten und entschärften Viren, die bereits als Impfstoffbasis im Einsatz sind. Komibiniert mit einem entsprechenden Antigen eines neuen Virus können sie so relativ schnell in Notfall-Vakzine umgewandelt werden. Bei vorhandenen Plattformen gibt außerdem viele Daten, die den Zulassungsprozess beschleunigen können.
„Das sind dann eben diese kleinen Feinheiten, die entscheiden, warum die einen von der Entwicklung bis zur Zulassung zwei Jahre brauchen und es bei den anderen zehn Jahre dauert,“ erklärt Kistner.
All diese Faktoren – Upscaling, Plattformen, Lizenzen – müssen zusammenspielen, um auf dem Marathon der Impfstoffentwicklung gut voranzukommen.
Antigene (kurz für Antisomatogene) sind Moleküle, die das Immunsystem als körperfremd erkennt. Sie lösen eine Immunreaktion oder Immunantwort aus. Antigene können die Bildung von spezifisch gegen sie gerichteten Antikörpern hervorrufen.
Oft scheitert ein rasches Vorankommen auch daran, dass manche Staaten ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben, sagt Kistner. Denn manchmal werden Impfstoffe in sogenannten Multidose-Einheiten vertrieben. Das sind Glasampullen, in denen zehn Impfdosen enthalten sind, für die Entnahme und Verabreichung braucht man Spritzen.
„So haben manche Länder zwar diese Ampullen bestellt, haben aber nie dafür gesorgt, dass sie in den Spitälern, in denen die Impfungen verabreicht werden sollten, auch genug Spritzen vorhanden waren. Das hat dazu geführt, dass zwar genügend Impfstoff vorhanden war, er aber nicht injiziert werden konnte, da die Spritzen gefehlt haben. Auch daran erkennt man, wie komplex das Thema ist.“
All das deutet darauf hin, dass es wohl noch dauern wird, bis die Ziellinie erreicht ist und Wissenschaft, Politik und Wirtschaft so weit sind, Millionen, wenn nicht gar Milliarden an Impfstoffdosen an die Weltbevölkerung zu verabreichen. Und je nachdem, in welchem Land ein wirksamer, sicherer Impfstoff entdeckt wird – und wer ihn bezahlt – können auch noch nationale Interessen eine Rolle spielen, Stichwort „America first“.
Um das zu verhindern, bemühen sich Organisationen wie etwa die Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI), eine weltweite Allianz öffentlich-privater Stakeholder wie Regierungen, der WHO, der EU, der Bill & Melinda Gaste Foundation und er Impfstoffindustrie um eine Organisation einer gemeinsamem Impfstoffproduktion, einschließlich Rohstoffbeschaffung, Finanzierung und vor allem auch einer fairen Verteilung.
In jedem Fall bleibt die schiere Menge die größte Hürde. Ein Zurück zur Normalität, wie man sie vor Ausbruch der Pandemie kannte, wird es also nicht so bald geben. Man müsse davon ausgehen, dass wir noch lange in diesem Zustand leben, meint Otfried Kistner: „Global wird das auf jeden Fall so sein.“
Eine Prognose, die die Experten unisono äußern ist, dass wir wohl nicht nur einen Impfstoff, sondern mehrere haben werden, was für die Versorgungssicherheit gut wäre. Denn so wäre man nicht von einer einzelnen Firma abhängig. Und vielleicht wäre dann auch einer besser für alte Menschen geeignet, während ein anderer für junge völlig ausreicht.
„Es wird jedenfalls extrem herausfordernd sein, eine Milliarde an Impfdosen herzustellen“, sagt Markus Zeitlinger.
„Ich gehe davon aus, dass wir am Anfang entscheiden müssen, wer den Impfstoff zuerst bekommt: Etwa Patienten, die zur Risikogruppe gehören, Menschen, die im Gesundheitssystem tätig sind oder systemrelevanten Berufe haben. Ich bin mir sicher, dass es bei diesem Impfstoff anfangs nicht möglich sein wird, in die Apotheke zu gehen und einfach eine Dosis zu kaufen. Das wird es so nicht spielen.“