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Das Volk gegen sich selbst
21. Oktober 2017 Demokratie Lesezeit 4 min
Staaten zerfallen und entstehen mit einer beinahe physikalischen Gesetzmäßigkeit. Alleine Europa hat in den vergangenen dreißig Jahren über ein Dutzend Abspaltungen, Fusionen und Zusammenbrüche staatlicher Strukturen erlebt.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Demokratie und ist Teil 12 einer 20-teiligen Recherche.
Bild: Philipp Horak | Addendum

Für gewöhnlich begünstigen das Ende einer Diktatur oder ein Bürgerkrieg die Entstehung neuer Länder. Schwache Staaten zerfallen schneller als stabile. Es gibt aber Ausnahmen. Eine davon ist der Konflikt um Katalonien.

Demokratie ist der Feind der Spaltung

„Schwere Momente für unsere Demokratie“ nannte König Felipe VI. die Ereignisse rund um das katalanische Unabhängigkeitsreferendum Anfang Oktober. Und tatsächlich ist es außergewöhnlich, dass sich ein Teil eines demokratischen Staatswesens von diesem lossagen will. Es ist etwas, was man bisher nur selten erlebt hat, in Irland beispielsweise oder bei zwei mit unterschiedlichen Auswirkungen gescheiterten Versuchen in den Südstaaten der USA und in Schottland. Sezessionsbewegungen gibt es auch in demokratischen Staaten zuhauf, doch wenige führen auch nur in die Nähe einer Unabhängigkeit.

Das hat Gründe, die auf der Hand liegen: Demokratien sind besser dazu befähigt, Konflikte durch Kompromisse zu lösen. Sie haben eine Friedensfunktion, schaffen Interessensausgleiche. Demokratien können, anders als Diktaturen, innerstaatliche Spannungen auch durch bundesstaatliche Strukturen ausgleichen. Echter Föderalismus ist eine grundsätzlich demokratische Organisationsform, deren Vorteile autokratischen Bundesstaatsmodellen wie der Sowjetunion oder Jugoslawien auf Dauer verwehrt bleiben.

Demokratische Staaten geben ihren inneren Gegnern letztlich weniger Angriffsfläche als Diktaturen. Separatistischen Bewegungen fehlt dadurch der gemeinsame Feind, sie verflachen oder erreichen keine kritische Größe.

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Vorreiter Deutschland

Durch den Einigungsvertrag hört 1990 die DDR auf zu existieren, ihre Länder treten dem Geltungsbereich des Grundgesetzes und damit der Bundesrepublik Deutschland bei. Mit dem folgenden Zusammenbruch der UdSSR und Jugoslawiens rollt 1991 eine Unabhängigkeitswelle über den europäischen Kontinent. Mit Armenien, Estland, Georgien, Lettland, Litauen, Moldawien, der Ukraine und Weißrussland werden allein acht ehemalige europäische Sowjetrepubliken in die Selbständigkeit entlassen. Hinzu kommen Kroatien, Slowenien und Mazedonien, die aus dem jugoslawischen Bundesstaat ausscheiden. Auch Bosnien und Herzegowina erklärt seine Unabhängigkeit, die aber erst 1992 anerkannt wird. Ein Jahr später trennen sich Tschechien und die Slowakei. Zuletzt kündigt 2006 Montenegro die Föderation mit Serbien auf. Die 2008 proklamierte Unabhängigkeit des Kosovo wird von Serbien und anderen Staaten, darunter auch Spanien, nicht anerkannt.

Wir gegen uns

Unabhängigkeitsbewegungen keimen aus vermeintlicher oder tatsächlicher Ungleichbehandlung, sei es aus ethnischen, religiösen oder wirtschaftlichen Gründen. Demokratien, die es nicht schaffen, solche Konflikte zu befrieden, haben ein Problem oder erleben, wie es der spanische König ausdrückte, „schwere Momente“.

Sie sind auch deshalb so schwer, weil ein Sezessionsversuch innerhalb eines demokratischen Staatswesens massive Legitimitätskonflikte aufwirft. Die spanische Regierung stützt sich auf die Mehrheit eines Parlaments, das auch von 71 Prozent der wahlberechtigten Katalanen mitbestimmt wurde. Die katalanische Regierung gründet ihren Willen nach Unabhängigkeit auf ihre Mehrheit im Regionalparlament und auf ein Referendum mit einer Wahlbeteiligung von 42,4 Prozent. Dass viele Katalanen von der Zentralregierung an der Abstimmung gehindert wurden, verschärft den Konflikt zusätzlich.

Die Vertreter des spanischen Volkes, zu dem in rechtlicher Hinsicht auch die Katalanen zählen, gehen gegen die vom katalanischen Volk gewählten Vertreter vor. Eine paradoxe Situation, die man ansatzweise aus der angloamerikanischen Strafrechtspflege kennt: The People vs. John Doe, das Volk gegen den Angeklagten. Jemand wird von den von ihm gewählten Institutionen zur Rechenschaft gezogen, kämpft damit gewissermaßen gegen sich selbst. In Spanien sind es zwei demokratisch legitimierte Regierungen mit teilweise deckungsgleicher Wählerschaft, die einander feindlich gegenüberstehen.

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Rechtsstaat gegen Rechtsstaat

Das spanische Verfassungsgericht hat die Unabhängigkeitsbefragung für rechtswidrig erklärt, daraus folgt, dass auch seine Finanzierung durch staatliche Institutionen illegal war – nach spanischem Recht, zu dem derzeit auch noch das katalanische zählt. König Felipe warf der Regionalpolitik in Barcelona konsequenterweise nicht nur den Bruch der Verfassung, sondern auch einen Verstoß gegen das katalanische Autonomiestatut vor.

Katalonien spielt aber nicht mehr nach den eigenen, mit dem Recht des Gesamtstaats in Einklang stehenden Regeln. Es hat – formelle Unabhängigkeitserklärung hin oder her – den Bruch mit der Rechtsordnung, mit dem spanischen Staat, eigentlich schon vollzogen und damit neben dem demokratischen ein weiteres, nämlich ein rechtsstaatliches Dilemma geschaffen.

Fatale Auswirkungen

Durch eine von Spanien nicht anerkannte Unabhängigkeit kann dieser politische Konflikt, der zu einem juristischen wurde, letztlich fatale Auswirkungen entfalten: Aus Sicht Spaniens versucht ein illegales Separatistenregime in Barcelona die Strukturen des Gesamtstaates zu zerschlagen, aus Sicht Kataloniens wird eine fremde Macht eine nun unabhängige Republik besetzt halten. Diese Situation rechtfertigt nicht nur, sie fordert geradezu die Anwendung von Gewalt durch die Institutionen beider Seiten.

Die spanischen Behörden sind durch die Verfassung verpflichtet, dieselbe aufrechtzuerhalten, die Katalanen werden auf Grundlage ihrer Rechtsordnung kaum die weitere Anwesenheit spanischer Behörden dulden. Was für die einen rechtmäßig ist, nennen die anderen Hochverrat und umgekehrt. 

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