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Das Dilemma der Demokratie
22. Oktober 2017 Demokratie Lesezeit 5 min
Ein Beispiel für das Dilemma der Demokratie: Die Mehrheit entscheidet für alle, und die Entscheidung muss akzeptiert werden. Auch wenn das bedeutet, dass ein Hochwasser die Gemeinde überflutet, weil sich die Mehrheit gegen Schutzmaßnahmen entschieden hat.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Demokratie und ist Teil 13 einer 20-teiligen Recherche.
Bild: Philipp Horak | Addendum
Johann Straner (1958) - Bürgermeister von Fohnsdorf, Steiermark, Österreich (1998-2011 und 2011-2015)
Johann Straner
Bürgermeister von Fohnsdorf, Steiermark, Österreich (1998-2011 und 2011-2015)
Kotoku Wamura (1909-1997) - Bürgermeiser von Fundai, Präfektur Iwate, Japan 1947-1987
Kotoku Wamura (1909–1997)
Bürgermeister von Fundai, Präfektur Iwate, Japan 1947–1987
Markus Gabriel (1965) - Gemeindeammann von Uerkheim, Kanton Aargau, Schweiz 2010-2017
Markus Gabriel (geboren 1965)
Gemeindeammann von Uerkheim, Kanton Aargau, Schweiz 2010–2017

Kotoku Wamura, Markus Gabriel und Johann Straner verbinden zwei Dinge. Zum einen wurden sie als Oberhäupter ihrer Gemeinden gewählt, zum anderen fand sich jeder von ihnen während seiner Amtszeit auf sehr fundamentale Weise mit der Frage konfrontiert, wie viel demokratische Mitbestimmung eine Gemeinde verträgt.

Damit enden ihre Gemeinsamkeiten aber schon wieder. In vielen anderen Dingen unterscheiden sich ihre Leben sehr deutlich. Wamura war Bürgermeister von Fundai in der Präfektur Iwate auf der japanischen Insel Honshu und ist mittlerweile verstorben; Gabriel ist Gemeindeammann von Uerkheim im Schweizer Kanton Aargau und ebenso quicklebendig wie Johann Straner, der einmal Bürgermeister im steirischen Fohnsdorf war. Der wesentlichste Unterschied aber ist ihr Erfolg bzw. Misserfolg als Bürgermeister.

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Bewohner gegen Hochwasserschutz

Ende der sechziger Jahre lässt Kotoku Wamura eine Hochwasserschutzmauer zwischen seinem Ort und der Küste errichten. Es ist wie oft bei teuren Großprojekten: Die Einwohner murren, doch der Bürgermeister baut. Mit 24 Jahren ist Wamura Zeuge des letzten großen Tsunamis der Region gewesen, bei dem 1933 etwa 600 Menschen in seinem Dorf getötet wurden. Die Gefahr lässt dem 1947 erstmals gewählten Bürgermeister keine Ruhe. Die 15,5 Meter hohe und 155 Meter lange Mauer steht jahrzehntelang herum. Nichts passiert. Wamura, der 1987 nach zehn Amtszeiten abtritt, stirbt 1997.

Auch der Aargauer Ammann Gabriel will in seiner Gemeinde ein Hochwasserschutzprojekt verwirklichen. Uerkheim liegt an der Uerke, einem beschaulichen Bach, der den Aargau und den Kanton Luzern durchströmt. Normalerweise fließt sein Wasser ruhig durchs Tal. Doch die Uerke kann auch anders. Im Oktober 2012 tritt sie über die Ufer. Man hat damit gerechnet. Die kantonalen Behörden haben davor gewarnt. Der Gemeindeammann will handeln. Schutzmaßnahmen werden vorgestellt, doch die Dorfbewohner votieren in einer Volksabstimmung dagegen. Im Herbst 2015 drängt Gabriel seine Mitbürger erneut, dem Projekt endlich zuzustimmen. Bund und Kanton würden sogar 74 Prozent der Kosten übernehmen. Die Uerkheimer lehnen wieder ab.

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Die Mehrheit entscheidet für alle

Das befürchtete Unglück trifft schließlich beide Gemeinden, Fundai auf Honshu und Uerkheim im Aargau. Am 11. März 2011 zerstört ein Tsunami weite Teile der japanischen Ostküste. In Fundai stößt er auf Bürgermeister Wamuras Mauer. Das Wasser steigt höher als jemals zuvor und schwappt sogar über das Bollwerk, doch die Katastrophe bleibt aus. Fundai hat im Gegensatz zu vielen anderen Gebieten keine wesentlichen Schäden und keine Toten zu beklagen. Am 8. Juli 2017 rollt schließlich auch eine Flutwelle durch Uerkheim. Die Uerke bringt plötzlich 44,6 Kubikmeter Wasser pro Sekunde, 44,1 mehr als gewöhnlich. Das Dorf steht unter Wasser, Autos werden weggeschwemmt, Keller überflutet. Ein Millionenschaden ist die Folge. Selbst das Gemeindearchiv wird überschwemmt, die Akten sind Restaurierungsfälle. Gemeindeammann Gabriel muss sich um eine Katastrophe kümmern, die er eigentlich verhindern wollte.

Es ist ein Beispiel für das Dilemma der Demokratie. Die Mehrheit entscheidet für alle, und die Entscheidung muss akzeptiert werden, auch wenn sie für einige negative Auswirkungen mit sich bringt.

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Die Therme von Fohnsdorf

Gleichzeitig bietet die direkte Mitbestimmung Vorteile, wie eine Studie über Bürgermeisterwahlen in Vorarlberg zeigt. Das Land überlässt es den Gemeinden, über ihr Wahlsystem zu entscheiden. Dort, wo Bürgermeister direkt und nicht über den Gemeinderat gewählt werden, wird messbar weniger Geld für Verwaltung und mehr für Verkehr ausgegeben, so das Ergebnis der Untersuchungen.

Johann Straner, der Bürgermeister von Fohnsdorf, ist nicht direkt gewählt. Aber er verfügt über eine absolute Mehrheit im Gemeinderat. Sein Ort wird nicht von einer Flutwelle getroffen, auch wenn die Katastrophe, die ihn heimsucht, entfernt etwas mit Wasser zu tun hat. Fohnsdorf liegt in der Obersteiermark, einer strukturschwachen Region. Die Arbeitsplätze in der früher florierenden Industrie werden weniger, die Menschen ziehen weg. Straner will etwas dagegen tun. Fohnsdorf soll eine Therme erhalten. Doch wie in vielen anderen Gemeinden entpuppt sich das Projekt als Belastung. Die Besucherzahlen bleiben unter den Erwartungen.

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Gleichzeitig erlässt die Gemeinde einem Kinobetreiber Abgaben, um den Betrieb zu halten. Die Schulden werden drückend. Kredite werden ohne Bewilligung des Gemeinderats aufgenommen. Am Ende zieht das Land die Notbremse. Im Jänner 2011 löst die Steiermärkische Landesregierung den Gemeinderat von Fohnsdorf auf und setzt einen Kommissär als Verwalter ein.

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Die Nähe zum Bürger

Die Machtfülle österreichischer Bürgermeister ist groß – eine Stärke und ein Problem. Als Vorsitzende von Gemeinderat und Gemeindevorstand vertreten sie die Gemeinde nach innen und außen. Auf kommunaler Ebene sind sie gewissermaßen Bundespräsident, Kanzler, Nationalratspräsident und Außenminister in einem. Sie sind Behörde im Bauverfahren, leiten die örtliche Wahlkommission, sind Fundbehörde und verfügen mitunter über eine eigene Gemeindepolizei. In Städten mit eigenem Statut leiten sie zusätzlich die Bezirksverwaltung.

In Bundesländern wie Niederösterreich kann sich der Bürgermeister die Führung der gesamten Gemeindeverwaltung vorbehalten. Die übrigen Gemeinderäte sind dann nicht geschäftsführend. Das führt dazu, dass der Bürgermeister vielerorts mit der Gemeinde identifiziert wird.

Die Nähe zum Wähler bringt Vorteile: Lokalpolitiker genießen das Vertrauen von 43 Prozent der Bevölkerung, während die Bundespolitik auf gerade einmal acht Prozent kommt. Sie birgt aber auch Gefahren in sich. Die Vorarlberger Gemeinde-Studie von Monika Köppl-Turyna zeigt, dass die öffentlichen Ausgaben kurz vor Wahlen stark ansteigen. Die Ausgaben orientieren sich insgesamt an der Wirtschaftsstärke einer Region. Während die Vorarlberger Gemeinden 2016 pro Einwohner 3.449 Euro ausgeben, sind es im Burgenland nur 2.011 Euro. Dennoch sinkt die Gesamtverschuldung der österreichischen Gemeinden seit Jahren, auch als Folge des österreichischen Stabilitätspakts.

Fohnsdorf bleibt die Ausnahme. Als das Land die Selbstverwaltung aufhebt, ist die Gemeinde zahlungsunfähig. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Bürgermeister Straner. Dennoch erhält er mit seiner Liste bei der Neuwahl im Herbst wieder eine absolute Mehrheit und wird wieder Bürgermeister. Das Gemeindeoberhaupt tritt erst nach seiner Verurteilung zurück. Die Kommune wird entschuldet.

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Sparsamkeit, die nach hinten losgeht

Markus Gabriel, der Gemeindeammann von Uerkheim, hätte sich bei seinen Investitionsplänen Zuspruch von der Bevölkerung gewünscht. Anders als Kotoku Wamura kann er sich beim Hochwasserschutz nicht über die Zweifel seiner Mitbürger hinwegsetzen. In der Schweiz kann das Volk gegen Pläne seiner Regierung das Referendum ergreifen und tut das auch. Oft geht es um Kosten. Teure Projekte haben in der Eidgenossenschaft einen schweren Stand. Was der Staat ausgibt, muss der Bürger später bezahlen. Doch in Uerkheim geht die Sparsamkeit, die Fohnsdorf fehlt und die Fundai zerstört hätte, nach hinten los.

„Zweimal habe ich bei unseren Hochwasserschutzprojekten vor den Folgen gewarnt, wenn wir nichts unternehmen“, erklärt Gabriel der Aargauer Zeitung. Die Schäden durch das Hochwasser seien nun „genauso oder noch schlimmer eingetroffen als vorausgesagt“.

Im japanischen Fundai werden nach dem Tsunami Blumen auf dem Grab von Bürgermeister Kotoku Wamura niedergelegt, in Uerkheim herrscht Verbitterung. Markus Gabriel wird zur nächsten Wahl nicht mehr antreten. 

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