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Der Arabische Frühling
21. Oktober 2017 Demokratie Lesezeit 8 min
Die 2010 von Tunesien ausgehenden Massenproteste im Nahen und Mittleren Osten nährten im Westen die Hoffnung, dass Demokratie in die Region Einzug halten werde. Aus heutiger Sicht war diese Vorstellung naiv: Außer Tunesien stehen die betroffenen Länder schlechter da als zuvor, jedenfalls nicht besser.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Demokratie und ist Teil 11 einer 20-teiligen Recherche.
Bild: Philipp Horak | Addendum
Zine el-Abidine Ben Ali
Tunesiens Ex-Präsident

Tunesien

Die Selbstverbrennung von Mohammed Bouazizi, einem tunesischen Gemüseverkäufer und Alleinversorger einer siebenköpfigen Familie, markierte den Beginn des Arabischen Frühlings. Bouazizi wurde damit zum Symbol des Widerstands – zuvor hatte er sich geweigert, seinen nicht genehmigten Verkaufswagen an die Behörden auszuhändigen –, seine Verzweiflungstat traf einen Nerv. Zwar hatte Tunesiens Präsident Ben Ali den Kurs seines von ihm gestürzten Vorgängers beibehalten und marktwirtschaftliche Reformen eingeführt. Auch die Frauenrechte wurden unter ihm ausgebaut. Ebenso hatte Tunesien die Wirtschaftskrise bis dahin relativ gut gemeistert.

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Dennoch war die Bevölkerung frustriert von der korrupten Regierung: steigende (Jugend-)Arbeitslosigkeit (13,3 Prozent im September 2010), fehlende Hoffnung auf Besserung, ein niedriger Lebensstandard und keine Möglichkeiten für die politische Partizipation waren ein idealer Nährboden für Proteste.

Heute gilt Tunesien als das Erfolgsbeispiel des Arabischen Frühlings, als eine funktionierende Demokratie, die von Freedom House mit der Bestnote in Sachen politische Grundrechte beurteilt wird (der Länderbericht für das Jahr 2010 hatte Tunesien in diesem Punkt noch die schlechteste Note gegeben).

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Besonderes Augenmerk verdient dabei der Wandel der islamistischen Ennahda-Bewegung. Als eine durch die iranische Revolution und die Muslimbruderschaft – allen voran die Schriften ihres Vordenkers Sayyid Qutb – inspirierte Gruppierung hatte Ben Ali sie verboten und unzählige Mitglieder inhaftiert. Als sie bei den ersten Wahlen nach seinem Rücktritt die meisten Stimmen erzielte, wurde eine Islamisierung Tunesiens befürchtet.

Ennahda ist allerdings nicht nur eine religiöse Bewegung, sondern auch eine politische Partei. Als Teil der Regierung handelte sie – auf Kosten der religiösen Arbeit – durchaus pragmatisch. Damit wurde sie zwar Teil des politischen Establishments, zugleich entfremdete sie sich jedoch von ihren fundamentalistischen Wurzeln und Anhängern – ein Dilemma, mit dem islamistische Parteien konfrontiert werden, sobald sie an die Macht gelangen: Einerseits sind rigoros-islamistische Maßnahmen oft nicht massentauglich beziehungsweise müssen sie bei der Regierungsbildung Kompromisse eingehen. Andererseits verlieren sie damit ihre fundamentalistischen Anhänger und Mitglieder, oft bilden sich neben ihnen radikale Splittergruppen. Insbesondere die Tourismusindustrie wurde zum Ziel von Anschlägen, seitdem sind die Tourismus-Umsätze um die Hälfte eingebrochen.

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Außerdem ist Tunesien das Hauptherkunftsland von Kämpfern des „Islamischen Staats“: Seit 2011 konnten die hohen Erwartungen in die Zeit nach Ben Ali nicht erfüllt werden, viele Jüngere sind arbeitslos und desillusionierter denn je – ein Drittel hat einen höheren Bildungsabschluss.

In der seit 2011 andauernden Verschlechterung der Wirtschaftslage liegt die größte Bedrohung für die Zukunft der tunesischen Demokratie. Die Korruption und Bevorzugung einer kleinen Elite aus der Zeit Ben Alis dauert weiter an. Ob die jüngsten Reformen die erhofften Auslandsinvestitionen wirklich anziehen werden, steht in den Sternen.

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Hosni Mubarak
Ägyptischer Staatspräsident (1981–2011)

Ägypten

Das Ende der 30-jährigen Amtszeit Hosni Mubaraks markierte den Höhepunkt der in den Arabischen Frühling gesetzten Hoffnungen. Barack Obama sprach damals von einem „historischen Moment“: „Die Ägypter haben gezeigt, dass nichts anderes als eine genuine Demokratie den Sieg davontragen wird.“

Der Sieg von Mohamed Mursi löste dieselben Sorgen aus wie jener von Ennahda in Tunesien oder auch der Hamas im Gazastreifen 2005. Wenn westliche Politiker für mehr Demokratie im Nahen und Mittleren Osten eintreten, vergessen beziehungsweise ignorieren sie gerne, dass islamistische Parteien oft auf breite Unterstützung in der Bevölkerung bauen können. Wer sich nicht dem Vorwurf der (demokratischen) Doppelmoral aussetzen lassen will, muss dieses Faktum allerdings akzeptieren. Schließlich gelten islamistische Parteien im Gegensatz zu ihren – gemäßigten – Konkurrenten als weniger korruptionsanfällig, obendrein sind sie aufgrund ihrer sozialen und religiösen Aktivitäten tief in die jeweiligen Gesellschaften eingebettet. Außerdem ist die Religion in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens nun einmal tief verwurzelt.

Das Militär ließ die Muslimbrüder anfangs noch gewähren. Kurz nach dem Regierungsantritt Mursis mussten drei hochrangige Kommandanten zurücktreten, der heutige Präsident el-Sisi – der als gläubiger Muslim das Vertrauen der Muslimbrüder genoss – wurde neuer Verteidigungsminister und Oberkommandant.

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Abdel Fatah el-Sisi
Ägyptens Präsident

Die entscheidende Wende setzte ein, als Mursi im November 2012 seine Befugnisse im Alleingang ausweitete und sich außerhalb der Gerichtsbarkeit stellte. Damit sollte der Weg für eine neue, „islamistenfreundliche“ Verfassung bereitet werden. Kritiker warfen den Muslimbrüdern vor, den eigenen Machterhalt zum Selbstzweck zu machen und die Lösung der wirtschaftlichen Probleme des Landes hintanzustellen.

Daraufhin kam es zu einer Regierungskrise, die Muslimbrüder verloren viel Unterstützung, die staatlichen Behörden – inklusive der Polizei – verweigerten der Regierung Mursi den Dienst. Ende Juni 2013, am Tag des einjährigen Jubiläums von Mursis Regierungsantritt, kam es zu Massenprotesten. Einige Tage später, am 3. Juli, wurde er vom Militär auf Geheiß von el-Sisi festgenommen, die Verfassung aufgehoben und eine Übergangsregierung installiert.

Als nahe der Rabaa-al-Adaqiya-Moschee in Kairo 800 Menschen durch die Polizei (die für ihre Brutalität berüchtigt ist; el-Sisi selbst vertraut ihr nicht und hat einmal gesagt, sie nicht kontrollieren zu können) getötet wurden, fand der Arabische Frühling in Ägypten mit dem schlimmsten Massaker in der modernen ägyptischen Geschichte sein endgültiges Ende.

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Heute ist das Land mehr oder weniger dort, wo es vor der Revolution war. Die neue, Anfang 2014 mit 98 Prozent der abgegebenen Stimmen (offiziellen Angaben zufolge belief sich die Beteiligung auf 38,6 Prozent) angenommene Verfassung hat die Rolle des Militärs, der Polizei und der Gerichte massiv gestärkt. El-Sisi wurde einige Monate später (unter fragwürdigen Umständen) zum Präsidenten gewählt – die Menschenrechtslage hat sich seither verschlechtert, die Unterdrückung hat im Vergleich zu seinem Vorvorgänger Hosni Mubarak sogar noch weiter zugenommen.

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Libyen

Im Gegensatz zu Ägypten und Tunesien wuchsen sich die Proteste in Libyen zu einem Bürgerkrieg aus, der binnen kürzester Zeit zu einer Resolution des UN-Sicherheitsrats und zu mehrmonatigen NATO-Luftangriffen führte. Gaddafis Tage schienen schon früh gezählt: Barack Obama forderte bereits Ende Februar seinen Rücktritt, in den darauffolgenden Wochen bezeichneten zahlreiche andere Staaten die Opposition – den „Nationalen Übergangsrat“ – als Repräsentanten des libyschen Volkes.

Gaddafis Sturz galt als großer Erfolg, nicht nur für die libysche Bevölkerung, sondern überhaupt für die NATO. Ivo Daalder, der damalige US-Repräsentant bei der NATO, und Oberkommandant James Stavridis schrieben nach Ende der Luftangriffe in der New York Times vom „NATO-Erfolg in Libyen“, davon, dass „das Volk Libyens mit Hilfe der NATO ihr Land von einem internationalen Außenseiter in eine Nation gewandelt hat, die das Potenzial zum produktiven Partner des Westens“ hat.

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Auch in Libyen entpuppte sich der anfängliche Optimismus jedoch als Wunschdenken.

Auch wenn nach Gaddafis 42-jähriger Diktatur niemand mit einem geordneten Übergang rechnen konnte, hat sich das Land über sechseinhalb Jahre nach Beginn gewiss nicht so entwickelt wie erwartet beziehungsweise erhofft. Es gibt bis heute keine effektive Zentralregierung, die unterschiedlichen Milizen teilen das Land untereinander auf, der Sicherheits- und der allgemeine Lebensstandard liegen unter dem Niveau der Zeit Gaddafis. Von einer stabilen und funktionierenden Demokratie ist Libyen weit entfernt. Auch die Flüchtlingskrise ist eine direkte Folge der Destabilisierung Libyens (die EU-Staaten wurden übrigens schon damals davor gewarnt).

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Syrien

Auch in Syrien entwickelten sich die Proteste zu einem bewaffneten Konflikt. Allerdings schien eine NATO-Intervention von Anfang an unwahrscheinlich, zumal Assad mit dem Iran und Russland mächtige Verbündete hat. Die Aussichten für ein unabhängiges, demokratisches Syrien waren außerdem noch schlechter als in Libyen: Bereits im März 2012 warnte der mittlerweile verstorbene Nahost-Experte Peter Scholl-Latour vor den Folgen eines Regimewechsels in Syrien, der wohl zu einem sunnitisch-wahhabitischen und von Saudi-Arabien kontrollierten Marionettenregime geführt hätte. Die selbstdeklarierte demokratische Opposition war außerdem äußerst schwach, die meisten Waffenlieferungen landeten in den Händen von Dschihadisten.

Assads Feinde haben ihn schon früh als Wurzel allen Übels identifiziert. Dementsprechend waren sie nicht bereit, seinen Machterhalt zu akzeptieren. Das alawitische Minderheitsregime kämpft im wahrsten Sinne des Wortes um sein Überleben.

Dabei gilt es zu bedenken, dass Assads Armee den Aufstand ohne die Einmischung von außen vermutlich schon früh niedergeschlagen hätte. Das wollten der Westen und umliegende Staaten wie die Türkei, Saudi-Arabien oder Katar allerdings um keinen Preis zulassen. Schließlich ging es darum, die schiitisch-alawitische Achse vom Iran über den Irak und Syrien bis zur Hisbollah im Libanon zu zerschlagen. Der Schutz der Menschenrechte oder gar die Errichtung einer Demokratie waren dabei allenfalls von sekundärer Bedeutung.

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Stabile Monarchien

Ein interessantes Detail des Arabischen Frühlings wird gerne übersehen: Während einige (formell) republikanische Staatsoberhäupter zu Fall gebracht wurden, haben die Monarchen des Nahen und Mittleren Ostens die (kleineren) Proteste in ihren Staaten unbeschadet überstanden. Das ist ungewöhnlich: Monarchen sind traditionell eigentlich besonders anfällig für Revolutionen.

Der Hauptgrund für die Beständigkeit der arabischen Monarchien liegt in ihrer scharfen (Selbst-)Abgrenzung von den Republiken. Ein revolutionärer Nationalismus wie in Ägypten unter Nasser konnte sich in Staaten wie Saudi-Arabien schon während des Kalten Krieges nicht ausbreiten. Das Scheitern des arabischen Nationalismus und das Abgleiten des Staatssozialismus in Elitenpolitik berührte die Monarchien nicht. Hier wurden erst gar keine Erwartungen an Solidarität oder politische Teilhabe geweckt. Der Staat trat eher als (schein-neutraler) Garant von Sicherheit und Stabilität auf.

Dennoch können sich die arabischen Monarchen nicht in Sicherheit wiegen. Die Konflikte zwischen unterschiedlichen Glaubens- und Bevölkerungsgruppen im Jemen, in Syrien oder im Irak bedrohen etwa auch das saudische Königshaus. Sollte es fallen, könnte es zu einem ähnlichen Dominoeffekt kommen wie nach dem Ende des Regimes von Ben Ali in Tunesien.

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Westliche Naivität

Der Arabische Frühling war keine demokratische Revolution, jedenfalls nicht im westlichen Sinne. Wahlen widersprechen dem politischen Islam nicht, vielmehr stellen sie im Selbstverständnis islamistischer Parteien ein probates Mittel zur Machterlangung dar.

Viele Beobachter waren entweder naiv oder haben nicht genau hingeschaut. Zu den größten und mächtigsten Gegnern der Regimes in Tunesien, Ägypten oder Syrien zählten weniger junge Liberale in den Städten als islamistische und bisweilen kampfbereite Gruppen. Schon in den 1960er Jahren verurteilte Sayyid Qutb – ein wesentlicher Vordenker der Muslimbrüder – in seinem Werk „Milestones“ die arabischen Nationalisten: weil sie wider den göttlichen Willen regieren und damit nicht weniger unislamisch seien als die damaligen kommunistischen oder kapitalistischen Staaten. Die Saat seiner einflussreichen Schriften ist im Arabischen Frühling voll aufgegangen. Als einziges Erfolgsbeispiel bleibt Tunesien, wobei auch dort die weitere Entwicklung auf fragilen Beinen steht. In Ägypten, Syrien oder Libyen muss man sich hingegen fragen, ob es der Bevölkerung vor dem Arabischen Frühling nicht besser gegangen ist. 

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