Koalitionsverhandlungen scheitern, die übrigen im Parlament vertretenen Parteien sind nicht bereit, Regierungsverantwortung zu übernehmen, es gibt keine konstruktive Mehrheit. Mit dieser Ausgangslage sieht sich Deutschland derzeit konfrontiert. Auch in Österreich wäre sie nicht undenkbar.
In solch einer Pattsituation käme die Stunde des Bundespräsidenten; hier des österreichischen, dort des deutschen. Doch die Herangehensweise wäre bei derselben Ausgangslage höchst unterschiedlich. Zu unterschiedlich sind – trotz aller Ähnlichkeiten – die beiden Ämter.
Nach dem deutschen Grundgesetz werden die Bundesminister auf „Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen“, in Österreich werden auf Vorschlag des Kanzlers „die übrigen Mitglieder der Bundesregierung … vom Bundespräsidenten ernannt“.
Die ähnliche Formulierung täuscht. Der deutsche Bundespräsident hat traditionell kein Einspruchsrecht bei der Ministerernennung. Der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer weigerte sich einfach, mit dem Staatsoberhaupt über seine Minister zu verhandeln. Die Ernennung ist seither in Deutschland ein Formalakt, während in Österreich schon Karl Renner 1945 den ersten Ministervorschlag ablehnte.
Umgekehrte Vorzeichen herrschen bei der Prüfung der Bundesgesetze. Der deutsche Bundespräsident begutachtet diese regelmäßig auch inhaltlich, während der österreichische nur bei sehr schwerwiegenden Mängeln einschreitet.
Die Unterschiede in der Ausprägung und Interpretation der beiden Ämter sind vor allem historisch bedingt. Das Amt des österreichischen Bundespräsidenten ist älter. Seit 1920 führt das Staatsoberhaupt diese Bezeichnung, auch wenn es seine derzeitige Machtfülle erst neun Jahre später erhalten hat. Seitdem ernennt der Bundespräsident die Regierung und kann den Nationalrat auflösen. Vorbild für die Verfassungsänderung von 1929 ist ausgerechnet Deutschland.
Die umfangreichen Kompetenzen des Reichspräsidenten, die Österreich weitgehend von der Weimarer Republik übernimmt, sind es, die nach 1945 in Deutschland selbst zu Änderungen führen. Das 1949 verabschiedete Grundgesetz stutzt das Staatsoberhaupt zu einem Repräsentanten ohne große Macht zurück. Der letzte Reichspräsident Hindenburg hat die Diktatur zwar nicht selbst errichtet, nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts hat das „Präsidialsystem mit seinen weitreichenden Machtbefugnissen jedoch entscheidend dazu beigetragen, der Diktatur den Weg zu bereiten“.
Seit 1929 ernennt der Bundespräsident in Österreich den Bundeskanzler und auf dessen Vorschlag die Minister. Vorbild für diese Regelung war Deutschland, das nach dem Zweiten Weltkrieg aber selbst davon Abstand nahm.
Der Bundespräsident des Grundgesetzes kann im Gegensatz zum Reichspräsidenten keine Regierungen mehr nach eigenem Gutdünken ernennen und entlassen. Er schlägt dem Bundestag nur mehr einen Kanzlerkandidaten zur Wahl vor – bei stabilen Mehrheiten ein Formalakt.
In Österreich wird 1945 die Verfassung der Ersten Republik reaktiviert. Weil man den Burgfrieden zwischen SPÖ und ÖVP nicht gefährden und außerdem keine Einmischung der Besatzungsmächte riskieren möchte, bleiben große Reformen in diesem Bereich aus.
„Der Bundespräsident hat neben der Wahrnehmung der ihm durch die Verfassung ausdrücklich zugewiesenen Befugnisse kraft seines Amtes insbesondere die Aufgabe, im Sinne der Integration des Gemeinwesens zu wirken.“ Bundesverfassungsgericht
Der österreichische Bundespräsident bleibt ein oberstes Organ der Vollziehung, ein an die Gesetze gebundener Politiker. Währenddessen wird der Präsident der neu gegründeten Bundesrepublik zum transzendenten Symbol. Er ist, so drückt es das Bundesverfassungsgericht aus, „nicht einer der drei klassischen Gewalten zuordnen“ und soll „durch sein öffentliches Auftreten die Einheit des Gemeinwesens sichtbar machen und diese Einheit mittels der Autorität des Amtes fördern“.
Das politische Instrumentarium des Bundespräsidenten beschränkt sich in der deutschen Tagespolitik daher auf öffentliche Auftritte und Reden. Während sein österreichischer Kollege sich im Rollenverzicht übt und von seinen umfangreichen Kompetenzen kaum Gebrauch macht, ist er schon durch die wenigen Aufgaben, die ihm das Grundgesetz zubilligt, zu einer solchen Amtsführung angehalten.
Die gegenwärtige Situation stellt eine Ausnahme dar, in der dem deutschen Bundespräsidenten eine gewichtige Funktion zukommt. Scheitert der Bundestag bei der Wahl eines Kanzlers, trifft er eine wesentliche Entscheidung: Er ernennt entweder den Kandidaten einer Minderheit oder verfügt die Auflösung des Bundestags.
Der Entscheidung kommt umso mehr Gewicht zu, als sich der Bundestag – im Gegenteil zum Nationalrat – weder selbst auflösen noch die Bundesregierung ohne weiteres absetzen kann. Um Neuwahlen zu provozieren, müsste ein gewählter Kanzler die Vertrauensfrage im Parlament verlieren, aber auch dann träfe die Entscheidung über die Auflösung der Bundespräsident. Zudem kann der Kanzler nur durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt werden. Der Regierungschef muss nur dann gehen, wenn es dem Bundestag gelingt, einen neuen zu wählen.
In Österreich geht das einfacher und schneller. Die mangelnde Flexibilität des Grundgesetzes, die sich aus der Erfahrung der ständig scheiternden Kabinette der Weimarer Republik erklären lässt, ist hier unbekannt.
Der Bundespräsident ernennt den Kanzler ohne Mitwirkung des Parlaments, die übrigen Regierungsmitglieder auf Vorschlag des Kanzlers. Den Nationalrat kann er jederzeit auf Vorschlag seiner Regierung auflösen – wenn auch nur einmal aus demselben Grund. Weimar ist in Wien noch höchst lebendig.
Die Katastrophe der Weimarer Republik ist in Österreich bisher jedoch ausgeblieben. Die politische Desorganisation, vor der sich die Väter des Grundgesetzes so fürchteten, fehlt. Schließlich ist es nicht nur die Verfassung, sondern auch das politische Klima, das über die Stabilität von Regierungssystemen entscheidet. Die Demokratie der Zwischenkriegszeit ist nicht nur an Verfassungen gescheitert.
Für eine junge Demokratie unter den Vorzeichen von Völkermord und Diktatur bewährten sich das Grundgesetz und sein Sicherheitskorsett rund um die Regierungsbildung, in einer stabilen Demokratie bieten die Bestimmungen des Bundes-Verfassungsgesetzes hingegen mehr Flexibilität.
Der österreichische Bundespräsident muss, anders als sein Amtskollege, nicht auf das Parlament warten. Er kann jederzeit jede Regierung ernennen, die ihm beliebt. Seine Macht findet ihre Begrenzung im Misstrauensvotum, mit dem der Nationalrat diese Regierung wieder aus dem Amt befördern kann.
Hier liegt ein kleiner, aber feiner Unterschied zur Situation in Deutschland: Die Regierung in Berlin braucht einmal das Vertrauen des Bundestags, die Regierung in Wien das dauerhafte Nicht-Misstrauen des Nationalrats. Das deutsche System macht es schwerer, eine Regierung zu beseitigen, das österreichische leichter, eine zu tolerieren.
Minderheitsregierungen sind in der Bundesrepublik daher schwerer zu bilden. In beiden Fällen braucht man die Unterstützung des Bundespräsidenten. In Deutschland, damit er den von einer parlamentarischen Minderheit vorgeschlagenen Bundeskanzler ernennt und keine Neuwahlen ausruft, in Österreich, um überhaupt ernannt zu werden.
Die Opposition, die in diesem Fall die Mehrheit stellt, kann in dieser Situation in Deutschland jedoch grundsätzlich weniger Interesse an einer Zusammenarbeit haben als in Österreich. Hier ist die Minderheitsregierung auf den ständigen Kompromiss im Nationalrat angewiesen, um ihr politisches Überleben zu sichern. Dort ist dem Bundestag der Zugriff auf die Bundesregierung, ist der Kanzler erst einmal im Amt, entzogen. Hier sind jederzeit Neuwahlen möglich, dort muss der Bundeskanzler erst die Vertrauensfrage stellen, um zu scheitern.
Das Schauspiel von öffentlicher Nicht- oder Abwahl trägt in Deutschland viel dazu bei, die Attraktivität einer Minderheitsregierung zu mindern. Verfügt ein Kanzlerkandidat nicht zumindest über eine Wahlmehrheit, muss er zwei Niederlagen im Bundestag über sich ergehen lassen, bis ihn die Minderheit zur Ernennung vorschlagen kann. Es ist nicht zuletzt dieser öffentliche Gesichtsverlust, durch den das Grundgesetz den Weg zu einer Minderheitsregierung steiniger macht als die Bundesverfassung.