Die Wahlen zum Europäischen Parlament sind vorbei. Und die Wahlbeteiligung ist – im Vergleich zur letzten Wahl vor fünf Jahren – gestiegen. Aber ist eine niedrige Wahlbeteiligung generell ein Problem? Was einige Kommentatoren beklagen, hält Armin Nassehi nicht zwangsläufig für schlecht. Wir trafen den Soziologen in Frankfurt und sprachen mit ihm – unter anderem – über Wahlen als Beschränkung des Wählers, einen Konstruktionsfehler der EU und: die Bedeutung von Rechtspopulisten für die Demokratie.
Wann ist die Höhe der Wahlbeteiligung ein Zeichen für eine Krise?
Man könnte einerseits sagen, dass eine niedrige Wahlbeteiligung ein Hinweis darauf ist, dass die Dinge eigentlich ganz gut laufen, weshalb es als nicht notwendig erachtet wird, zur Wahl zu gehen. Wir wissen nämlich, dass Menschen in Krisenzeiten eher wählen gehen, weil es dann tatsächlich um etwas geht. Wahlabstinenz kann also bedeuten, dass es ganz gut läuft, es kann aber auch bedeuten, dass der Wähler denkt, dass die Politik ein Problem gar nicht lösen kann. Oder dass es keinen Unterschied macht, wen er wählt, weil für ihn alle Kandidaten gleich sind. Letzten Endes ist es also Interpretationssache und Aufgabe der empirischen Wahlforschung, die Stimmungslage genauer zu betrachten. Wenn wir nun also sagen, hohe Wahlbeteiligung ist besser als niedrige, ist das demokratietheoretisch sicher richtig – man kann das aber nicht generalisieren, da es tatsächlich auch ein Zeichen von Krisenhaftigkeit sein könnte.
Und wie verhält es sich mit Protestwählern?
Der Protestwähler ist eine interessante Figur. Dabei muss man sich zunächst fragen, was es eigentlich bedeutet, Protestwähler zu sein. Es gibt politische Kräfte, die nichts anderes sind als Protestagenturen – beispielsweise das, was wir zurzeit in ganz Europa rechtspopulistische Parteien nennen, wobei dieser Begriff nicht ganz trennscharf ist. Man muss auch gar nicht davon ausgehen, dass alle Wähler der AfD in Deutschland deren Programm in seiner Vollständigkeit gutheißen; es geht eher darum zu demonstrieren, dass es so nicht weitergehen kann.
Wie gehen die Parteien der Mitte damit um?
Die Paradoxie besteht darin, dass sich die traditionellen politischen Kräfte immer mehr ähneln, umso stärkere Ausschläge es im politischem Spektrum nach links oder rechts gibt. Wenn das Spektrum sich erweitert, werden die Abstände derer, die wir normalerweise betrachten, kleiner. Eigentlich hat die Protestwahl also den paradoxen Effekt, dass sie den Grund für die Protestwahl noch einmal erhöht. Die Mitte wird normalerweise sehr kritisch gesehen – Mitte verbinden wir ja mit Ununterscheidbarkeit. Dass die politische Mitte jetzt scheinbar aufgebrochen wird, kann zweierlei bedeuten: Es kann ein Krisenphänomen sein oder ein Hinweis darauf, dass das politische System sich in seinen Routinen eingerichtet hat und offensichtlich unsensibel für bestimmte Fragen geworden ist.
Leidet darunter die Demokratie?
Es gibt politisch nichts, was mir ferner liegt als die AfD, aber: Der Demokratie in Deutschland hat sie bis jetzt nicht geschadet. Im deutschen Bundestag werden nun Debatten geführt, die wir vorher nicht kannten. Nun kann man vielleicht sagen, es gibt eine Krise, was inhaltliche Auseinandersetzungen angeht – die gibt es auf jeden Fall –, es gibt auch eine Krise bestimmter Werte, für die Europa eigentlich seit langem steht. Aber offensichtlich reagiert das politische System darauf doch vergleichsweise rational. Es scheint also zu funktionieren. Man denkt oft, es gäbe nun eine politische Kraft, die die Politik aushebelt, aber das ist nicht der Fall, sie trägt auch zur Repolitisierung der Mitte bei. Das ist eigentlich ein Zeichen dafür, dass diese Demokratie gar nicht so schlecht funktioniert.
Die deutsche Demokratie hat sogar einmal geglaubt, die Grünen, die heute zu den bürgerlichsten und etabliertesten Kräften gehören, kaum aushalten zu können. Ähnliches gilt auch für die Linkspartei. Aber das war keineswegs der Fall – zumindest im Falle der Grünen war es eine starke Bereicherung. Wenn man einen politischen Gegner hat, ist damit eben nicht die Demokratie infrage gestellt, im Gegenteil: Das ist der tiefere Sinn der Demokratie, mit dem Gegner zivilisiert umgehen zu können, wobei ich nun nicht die Grünen auf eine Stufe mit den Rechtspopulisten von der AfD stellen möchte. Es geht darum, dass zumindest das deutsche Parlament offensichtlich flexibel und zivilisiert mit Herausforderungen umgehen kann.
Sind Wahlen essenziell für eine Demokratie, oder wäre sie auch ohne Wahlen denkbar?
Es geht immer alles auch anders, das muss man ganz klar sagen. Genau das ist unser blinder Fleck: Wir haben uns an bestimmte Formen gewöhnt. Mir fällt im Moment allerdings auch keine Alternative zur Wahl ein.
Welche Vorteile hat die Wahl?
Das größte Problem, das die Demokratie lösen muss, ist nicht die Zufriedenstellung der Mehrheiten – das kann jeder. Es geht vielmehr um die Zufriedenstellung der Minderheiten, also die, die ihre Stimme nicht für denjenigen abgegeben haben, der nun regiert. Diese Minderheiten müssen loyal gehalten werden. Daher ist das Wahlverfahren eigentlich schon ein geniales Verfahren, weil der Herrscher eben der Herrscher von allen sein und so entscheiden muss, dass auch diejenigen, die ihn nicht gewählt haben, loyal bleiben können. Stabile Demokratien zeichnen sich genau dadurch aus. Donald Trump beispielsweise ist nicht deshalb kein Demokrat, weil er nicht mit richtigen Mitteln ins Amt gekommen ist, sondern weil er niemals anerkennen würde, dass diejenigen, die ihn nicht gewählt haben, loyal gehalten werden müssen.
Die Wahl löst zudem das Problem, dass nicht von vornherein klar ist, wer herrschen wird. Man kann eigentlich denjenigen, der die politische Macht besitzt, nur einschränken, wenn man ihn irgendwie auswechseln kann – und mit auswechseln meine ich, ihn ohne Blutvergießen wieder loszuwerden. Als Modus für dieses Auswechseln ist eine Wahl eigentlich nicht die schlechteste Lösung, weil man schließlich auch einen Herrscher haben will, der legitim im Amt ist. Aber grundsätzlich ist schon die Wahl eine Einschränkung des Wählers, weil dieser niemals jede konkrete Frage, die sich stellt, mitentscheiden kann; wie die Steuerreform im Detail ausfällt und ob man mit Elektrorollern fahren darf oder nicht – von diesen Entscheidungen sind die Wähler abgeschnitten.
Wie demokratisch sind Wahlen dann eigentlich?
Ich sage das jetzt sehr technisch: Wählen ist dazu da, den Eins-zu-eins-Konnex zwischen Entscheidung und Volkswillen abzuschneiden. Das Spannende an der repräsentativen Demokratie ist ja, dass das Volk nicht unmittelbar über alles entscheidet, sondern dass wir stattdessen eine zivilisierte Form finden, dass andere für das Volk entscheiden. Diese müssen natürlich legitimiert sein, insofern ist die Wahl eigentlich eine geniale Erfindung, weil man das Volk nicht über alles abstimmen lässt, sondern nur über das Personal.
Wäre das Losverfahren demokratischer?
Das ist eine gute Frage, die sich nicht so einfach beantworten lässt. In der griechischen Diskussion gab es durchaus Überlegungen, ob nicht das Los entscheiden solle. Aristoteles hat das nicht unterstützt, aber in seiner Staatsformenlehre auch die reine Demokratie durch eine Wahloligarchie ergänzt. Auch damals hat man also schon darüber nachgedacht, dass die Demokratie womöglich nicht die Klügsten, sondern nur die Lautesten ins Amt hievt. Am Los ist natürlich problematisch, dass es sehr zufallsabhängig ist und womöglich als nicht legitim angesehen wird. Aber ob das Los wirklich die schlechteren Leute ins Amt bringt, ist nicht ausgemacht. Aus all dem schließt Aristoteles jedenfalls, dass man die reine Demokratie durch andere Verfahren ergänzen muss. Er nennt das dann Politie.
Und in unsere Zeit übertragen bedeutet das?
Nun, wenn man es genau nimmt, haben wir momentan auch eine Mischform: Kein Minister kann ohne seine Experten in den Ministerien Politik machen. Es gibt auch Minister, die die Experten sofort hinauswerfen – unsere amtierende Bildungsministerin hat die wichtigste Person im Ministerium entlassen und sich dabei einer geradezu essenziellen Expertise beraubt, was ihre eigene Inkompetenz in noch deutlicherem Licht erstrahlen lässt.
Die Möglichkeit der Wahl umfasst auch die Möglichkeit des Abwählens. Nationale Regierungen kann man abwählen, auf EU-Ebene ist das nicht möglich. Ist das das eigentliche Problem?
Hier nutzt zunächst ein Blick in die Geschichte der deutschen Bundesrepublik: Die Wahl Willy Brandts zum ersten SPD-Kanzler kann man eigentlich als Erwachsenwerden dieser Demokratie bezeichnen. Es wurde demonstriert, dass es durchaus möglich ist, dass die CDU die Kanzlerschaft abgibt. Eine Demokratie, in der der Kanzler abgewählt werden kann, ohne dass es Probleme gibt, ist eine reife Demokratie. Interessant ist, dass wir auf EU-Ebene die EU-Kommission schon deshalb nicht abwählen können, weil wir die EU-Kommission nicht wählen. Wir wählen nur das Europäische Parlament. Eigentlich gibt es keine europäische Regierung, aber es gibt sie doch: Sie wird allerdings nicht vom Parlament gewählt. Deshalb kann man also im Rahmen der Europawahl die europäische Regierung, wenn wir die EU-Kommission so nennen wollen, nicht abwählen: Das halte ich für einen Konstruktionsfehler. Das Problem, das sich daraus ergibt, ist, dass der Europawahlkampf die Abwahl der EU-Kommission nicht zum Thema haben kann – das ist ein nicht wirklich möglicher Gegenstand der Wahl.
Kann man ein supranationales Gebilde wie die EU überhaupt vollständig demokratisieren?
Natürlich. Mitgliedstaaten wären dann Bundesstaaten und müssten im Zuge dessen hoheitliche Rechte abgeben. Es könnte dann das gelten, was auch die deutsche Verfassung vorsieht: Bundesrecht bricht Landesrecht. Das ist eine Konstruktion, die staatsrechtlich durchaus funktionieren kann. Ob sie auch politisch funktioniert, gewollt wird und überhaupt wünschenswert wäre, ist eine völlig andere Frage.
Ulrike Guérot geht davon aus, dass die Mehrheit der Europäer eine Europäische Republik will – stimmt das?
Ich halte diese These aus zwei Gründen für sehr problematisch. Der eine Grund ist: Sie ist vom Ziel, nicht vom Weg zum Ziel her gedacht. Also sie ist ziel- und nicht methodenorientiert. Die Vorstellung hierbei ist, dass wir alle die Bürger einer europäischen Republik sind. Das steht zwar momentan schon auf unseren Pässen, aber wir sind es eigentlich nicht. Wir sind Bürger des jeweiligen Landes. Die republikanische Idee, die Ulrike Guérot hat, geht davon aus, dass der Staat eine Bottom-up-Bewegung ist, dass Europa dadurch republikanisch-staatliche Qualitäten bekommen würde. Ich glaube nicht, dass das funktionieren würde, weil es schon innerhalb der Nationalstaaten außergewöhnlich schwierig war, die ungleichen Lebensverhältnisse der verschiedenen Länder unter ein Dach zu bringen.
Das sieht Ulrike Guérot anders.
Weil sie es als Moralproblem sieht. Sie kann sich gar nicht vorstellen, dass die Leute nicht dafür sein könnten. Sie hält die Idee für so gut, dass sie davon überzeugt ist, dass sie funktionieren muss; ich bin da aber erheblich skeptischer. Und zu meiner Skepsis gehört auch, dass mit dieser an sich sehr sympathischen Idee die europäische Ebene für Skeptiker noch monströser aufgeladen wird.
Woher kommt diese Skepsis?
Objektiv betrachtet gibt es eigentlich niemanden, der keine Vorteile von der Europäischen Union hat. Deutschland beispielsweise ist zwar der größte Nettozahler, profitiert aber auch am allermeisten, ökonomisch gesehen, aber auch politisch. Die Semantik „Anti-Europa“ funktioniert trotzdem, was einerseits daran liegt, dass es keine europäische Öffentlichkeit im engeren Sinne gibt, andererseits aber auch daran, dass politische Legitimation nach wie vor auf nationalstaatlicher Ebene erzeugt wird. Es stellt sich daher ein logisches Problem: Wer Europa thematisiert, muss immer auch nach der Alternative für Europa fragen.
Und was ist die logische Alternative?
Natürlich der Nationalstaat. Man kommt automatisch auf den Nationalstaat, logisch gesehen. Gar nicht in der Faktizität, sondern: Wenn Sie Europa kritisieren, müssen Sie den Nationalstaat stärken. Und wenn Sie Europa stärken wollen, verweist das letztlich auch immer auf den Nationalstaat, weil Sie ja Europa von den Staaten unterscheiden müssen. Aus diesem Zirkel kommt man irgendwie nicht heraus.
Warum ist die EU so häufig positiv, die Nationalstaaten hingegen negativ konnotiert?
Ist das so? Oft ist es exakt umgekehrt, was auf das logische Paradox verweist, dass die Thematisierung Europas vor allem den Nationalstaat thematisiert. Werfen wir einen Blick auf die Brexit-Verursacher, die wollten ja eigentlich gewinnen. Sie wollten nicht aus der EU austreten, sie wollten vielmehr den Rechtspopulisten den Wind aus den Segeln nehmen. Das ging ordentlich nach hinten los. Der Punkt ist, dass man automatisch zur Nation kommt, wenn man Europa kritisiert. Insofern ist dieses schwarze Loch Europa eigentlich amorph, es verweist auf die Nation zurück. Aus dieser Paradoxie kommen wir nicht heraus.
Sie wissen also auch keinen Ausweg.
Natürlich nicht, niemand weiß einen Ausweg. Spannend wäre es jedenfalls, den Europawahlkampf transparenter zu machen. Der deutsche ist jedenfalls unglaublich inhaltsleer: Wir sehen hier den eindeutigen Versuch, Inhalte zu vermeiden und zwar aus der großen Sorge, dass, wenn man mit Inhalten anfängt, Europa auf einmal sichtbar wird. Eigentlich ist der ganze Wahlkampf eine Invisibilisierung Europas.