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Brauchen wir für eine Demokratie wirklich Wahlen?
16. Oktober 2017 Demokratie Lesezeit 8 min
Die Wiedereinführung des Losverfahrens könnte der Politikverdrossenheit entgegenwirken.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Demokratie und ist Teil 1 einer 20-teiligen Recherche.

Ist Demokratie wirklich so eine gute Idee? 

Die wichtigsten Erkenntnisse des Projekts:

  • Demokratie ist nicht nur dort, wo gewählt wird.
  • Parlamentarier sind eher Gesetznehmer als Gesetzgeber.
  • Neben der Regierung hat sich eine Gegen-Demokratie entwickelt.
  • Es gibt Situationen, in denen Demokratie nicht funktioniert.
  • Festgefahrene Parteistrukturen fußen auf institutionellen Konstrukten.
  • Global gesehen, befindet sich Demokratie auf dem Rückzug.

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Unserem Zeitalter wird Demokratiemüdigkeit attestiert. Ganz Österreich, ja ganz Europa beobachtet gefühlte 365 Tage im Jahr den Wahlkampf der Parteien. Relativ kurze Legislaturperioden fördern und fordern diesen ständigen Kampfmodus, sie produzieren kurzfristige Entscheidungen und bringen Politiker dazu, durch sich ständig selbst überbietende Forderungen um das Stimmvolk zu buhlen, das in einer repräsentativen Demokratie an der Wahlurne das Sagen hat. Doch da endet die Mitbestimmung auch schon wieder, meint der belgische Autor David Van Reybrouck, wenn er in seinem Buch „Gegen Wahlen – Warum Abstimmen nicht demokratisch ist“ direkt auf Jean-Jacques Rousseaus Gesellschaftsvertrag aus dem Jahr 1762 Bezug nimmt:

 „Das englische Volk meint frei zu sein; es täuscht sich sehr; nur während der Wahlen der Parlamentsmitglieder ist es frei; sobald sie gewählt sind, ist es Sklave, ist es nichts.“

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Sind also Wahlen das einzig richtige Instrument, Demokratie umzusetzen? Nein. Das sieht man, wenn man, wie es Van Reybrouck in seinem Buch tut, einen Blick ins antike Athen wirft. Dort wurde das Losverfahren zur Besetzung der wichtigsten Verwaltungsorgane, wie auch des Rates der 500, eingesetzt. Er zitiert Aristoteles, der davon überzeugt war, dass nur das Losverfahren wirklich demokratisch sei. Auch Montesquieu bezieht sich in seinem Epoche machenden Werk „Vom Geist der Gesetze“ auf Aristoteles, wenn er schreibt:

„Wahl durch Los entspricht der Natur der Demokratie, Wahl durch Abstimmung der Natur der Aristokratie.“

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Man solle, so Van Reybrouck, viel eher Bürgergremien auf Zeit und gegen angemessenes Entgelt zur politischen Beratschlagung einsetzen; diese Idee basiert auf der Vorstellung der deliberativen Demokratie. Bekämen Bürger Zeit und die notwendigen Informationen, um sich mit komplexen Materien zu befassen, könnten sie sogar bessere Entscheidungen treffen als Berufspolitiker. Nicht zuletzt, weil in ihren Entscheidungen die eigene Karriereperspektive, die dem Berufspolitiker so oft den Blick auf die Sache verstellt, notwendigerweise keine Rolle spielen würde. Das Interesse am Amts- und Mandatserhalt könnte so nicht über der Sache selbst stehen.  

Im Lauf der Jahrhunderte ging die Idee des Losverfahrens im gesetzgebenden Prozess allerdings verloren. Der Wahlvorgang ist im Bewusstsein der meisten Menschen untrennbar mit dem Begriff der repräsentativen Demokratie verknüpft, dabei gibt es aktuelle Beispiele, in denen das Losverfahren durchaus erfolgreich angewandt wurde: in Irland etwa, wo im Jahr 2013 ausgeloste Bürger mit Politikern gemeinsam über eine Verfassungsreform berieten – die am Ende auch umgesetzt wurde.

„Wahlfundamentalismus”

David Van Reybrouck glaubt, dass Politikverdrossenheit und Demokratiemüdigkeit unmittelbar mit dem von ihm so genannten „Wahlfundamentalismus“ zu tun haben. Und dass die Wiedereinführung des Losverfahrens zumindest als ergänzendes Mittel zur Bestimmung von demokratischer Vertretung etwas gegen Müdigkeit und Verdrossenheit beitragen könnte. Österreich ist für die Ermüdungsverscheinungen, die eine hohe Frequenz an Wahlkämpfen nach sich ziehen kann, vielleicht kein schlechtes Beispiel. Was aber könnte man tun? Wie kann man den Spagat zwischen Repräsentation  und Effizienz schaffen, der für die Legitimität der demokratischen Regierungsform von entscheidender Bedeutung ist?

Momentan jedenfalls nicht primär mithilfe von Losverfahren, wenn man die bisher vorliegenden Vorschläge betrachtet. Da gibt es nur einzelne Versuche wie den BürgerInnenrat als flexibles Partizipationsverfahren in Vorarlberg) Nicht nur während des jüngsten Wahlkampfs, sondern auch während einer ganzen Enquete-Kommission zur Stärkung der direkten Demokratie im Jahr 2014 und 2015, in der sich die zuständigen Bereichssprecher aller Fraktionen eingehend mit vorliegenden Verbesserungsvorschlägen für mehr direkte Demokratie auseinandersetzten, wurde über Möglichkeiten einer breiteren Bürgerbeteiligung diskutiert. Man kann ohne Übertreibung sagen: mit sehr bescheidenen Ergebnissen. Dass auf der anderen Seite die Zivilgesellschaft durchaus ein Interesse daran hat, vermehrt in Entscheidungsprozesse eingebunden zu werden, zeigt sich an den vielen Initiativen, die einen verbindlichen Volksentscheid fordern. Es mangelt also nicht an politischem Interesse oder dem Verlangen, bei politischen Entscheidungen mitzureden – es fehlt das Werkzeug oder das Sprachrohr.

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Interessant also, dass die Debatte um die Etablierung der „Aleatorischen Demokratie“ (also einer Demokratie, die auf dem Zufallsprinzip des Losverfahrens beruht), in Österreich bislang kaum Widerhall gefunden hat; denkt man Van Reybroucks Idee weiter und legt sie auf Österreich um, könnte man etwa eine Reform des Zweikammernsystems andenken: einer gewählten und einer ausgelosten Kammer. Dass der Bundesrat in seiner derzeitigen Form, vor allem in der Art seiner Beschickung, keine ideale Lösung ist, merkt man daran, dass er in so gut wie keiner Darstellung des institutionellen Reformbedarfs in Österreich fehlt.

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Was macht der Bundesrat eigentlich?

  • 6.122 Tage lang legte der Bundesrat zwischen 1951 und 1968 keinen einzigen Einspruch gegen Gesetzesbeschlüsse des Nationalrats ein, dennoch hat die Länderkammer
  • 872 Sitzungen absolviert, seit sie am 1. Dezember 1920 erstmals zusammengetreten ist und seit 1945 insgesamt
  • 130 Einsprüche gegen Gesetzesbeschlüsse erhoben, vor allem dann, wenn die Regierung keine Mehrheit in der Länderkammer hatte oder, wie zuletzt, bei der Abstimmung im Nationalrat ein falsches Gesetz verabschiedet wurde (siehe unten).
  • 61 Mitglieder zählt der Bundesrat, eine Zahl, die nach jeder Volkszählung vom Bundespräsidenten neu festgesetzt wird.
  • 23 Bundesratsausschüsse verhandeln die vom Nationalrat eingebrachten Gesetzesbeschlüsse.
  • 12 Sitze erhält das Bundesland mit den meisten österreichischen Staatsbürgern, jenes mit der kleinsten Bürgerzahl mindestens
  • 3 Sitze.
  • 3 Gesetzesvorschläge und
  • 3 Einsprüche gegen Gesetze hat der Bundesrat jeweils in den vergangenen zehn Jahren beschlossen.
  • Eine Sitzung findet im Schnitt monatlich statt.
  • 4.153,40 Euro brutto erhalten die Mitglieder des Bundesrats als Bezüge.

Als Österreich 1920 durch seine neue Verfassung als Bundesstaat eingerichtet wird, erhält es mit dem Bundesrat auch eine parlamentarische Vertretung der Länder auf Bundesebene. Das Bundesland, in dem die meisten Staatsbürger leben, erhält zwölf Sitze, jenes mit der geringsten Bürgerzahl zumindest drei. Die Mitglieder, derzeit sind es 61, werden von den Landtagen für die Dauer ihrer Gesetzgebungsperiode gewählt. Der Bundesrat ist damit Österreichs einzige indirekt gewählte parlamentarische Körperschaft.

Die Macht des neuen Oberhauses ist von Beginn an begrenzt. Die Sozialdemokratie hätte am liebsten ganz darauf verzichtet, die Christlichsozialen aber bestehen auf der Schaffung einer Länderkammer. Das Ergebnis ist ein österreichischer Kompromiss: Es gibt einen Bundesrat, aber er hat so gut wie keine Befugnisse. In den allermeisten Fällen verfügt er gegen Gesetzesbeschlüsse des Nationalrats nur über ein suspensives, ein aufschiebendes Vetorecht. Den größten Einfluss auf den Nationalrat übte sein kleiner Bruder schon vor dem Inkrafttreten der Verfassung aus: Seinetwegen heißt die große Kammer nicht Bundestag, man fürchtet eine zu leichte Verwechselbarkeit mit dem Bundesrat.

Ein weiteres Mal schreibt der Bundesrat während der Zweiten Republik Geschichte, als mit Olga Rudel-Zeynek am 1. Dezember 1927 weltweit erstmals eine Frau einer Parlamentskammer vorsitzt. Mit der Verfassungsnovelle von 1929 soll er in einen Länder- und Ständerat umgeformt werden, in dem auch die Berufsgruppen vertreten sind. Die vorerst aufgeschobene Reform wird durch die Ausschaltung der Demokratie 1934 obsolet und 1945 endgültig zurückgenommen. Die Länderkammer fristet seitdem ein Schattendasein, aus dem sie nur hervortritt, wenn die Regierung in ihr keine Mehrheit hält. Zwischen 1951 und 1968 erhebt der Bundesrat fast 17 Jahre lang keinen einzigen Einwand gegen einen Beschluss des Nationalrats. Während der rot-blauen Koalition legt die schwarze Bundesratsmehrheit dafür innerhalb von drei Jahren 47 Vetos ein.

Zuletzt werden die Ländervertreter 2015 aktiv, als sie eine Änderung des Bundespflegegeldgesetzes beeinspruchen. Diesmal fällt der Nationalrat, anders als sonst üblich, aber keinen Beharrungsbeschluss, mit dem er sich über die Einwände des Bundesrates hinwegsetzen kann. Denn die große Parlamentskammer hat in einer Abstimmungspanne dem falschen Antrag zugestimmt, das Veto des Bundesrats soll den Fehler reparieren.

Der häufigste Einwand gegen die Idee, das Losverfahren wieder in die repräsentative Demokratie einzuführen, ist der Hinweis darauf, dass dort, wo es angewendet wurde – etwa im alten Athen und in den oberitalienischen Stadtstaaten – nur unter einer kleinen Zahl von Bürgern gelost wurde, die zuvor schon durch Geburt „gewählten“ wurden. In einer Gesellschaft, in der maximal 20 Prozent der Bevölkerung über den Status des Bürgers und damit über das passive Wahlrecht verfügen, so die Kritik, erhöhe das Losverfahren die Repräsentativität der Ergebnisse und könne auch der Bildung von einander lukrative Positionen streitig machenden Gruppierungen und Klüngeln vorbeugen. In den heutigen Massendemokratien, in denen Bürger- und Wahlrecht ausschließlich an die Staatsbürgerschaft geknüpft sind, sei das viel schwerer zu organisieren.

Kleine Schritte

Das sieht auch David Van Reybrouck, der Verfechter des Losverfahrens und der deliberativen Demokratie, so. Deshalb schlägt er vor, den Rückgriff auf das Losverfahren entweder in einzelnen Projekten zu testen, wie das etwa im Rahmen der irischen Verfassungsreform geschehen ist, oder zunächst im überschaubaren Rahmen zu testen. Unsere Idee, dass Demokratie überall dort ist, wo gewählt wird, ist erst gute 200 Jahre alt, und sie wurde von jenen Auswanderern etabliert, die das absolutistische Europa verlassen und in der Neuen Welt die Freiheit gesucht haben. Eigentlich, sagt Van Reybrouck – auch mit Blick auf die Vereinigten Staaten der vergangenen Jahrzehnte – , habe man aber nicht die Aristokratie hinter sich gelassen, um die Demokratie zu finden; man habe lediglich die Geburtsaristokratie durch eine Wahlaristokratie ersetzt.

Gerade angesichts eines zweijährigen Dauerwahlkampfes, den Österreich hinter sich hat, scheint es angebracht, den Blick auf das Grundsätzliche nicht zu verlieren, und das sind die beiden Prinzipien, die die Legitimität von demokratischen Systemen garantieren: Repräsentation und Effizienz. Effizienz, sagt Van Reybrouck, wird besser durch Eliten im Sinn von Kompetenzträgern sichergestellt, weswegen Wahlverfahren im Bereich der Exekutive und der Verwaltung weiterhin im Einsatz bleiben soll. Repräsentanz hingegen erreicht man leichter durch das Losverfahren, weil es dafür sorgt, dass tatsächlich jeder die Chance – aber auch die Pflicht – hat, an der Gestaltung der Gesellschaft durch die Teilnahme am gesetzgebenden Prozess mitzuwirken. 

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