In Krisenzeiten steigt die Sehnsucht nach dem vielzitierten „starken Mann“; auch in Österreich sorgte im Frühjahr 2017 eine Studie für Aufsehen, wonach 43 Prozent der Befragten Sympathien für einen solchen bekunden. (Gegenüber solchen Studien ist prinzipiell Skepsis angebracht, aber das ist eine andere Geschichte.)
Demokratien stehen seit jeher im Spannungsfeld zwischen Effizienzgedanken und dem Streben nach Legitimität durch die weitest- bzw. bestmögliche Einbindung der Betroffenen: „government of the people, by the people, for the people“ wie Abraham Lincoln es in seiner berühmten Gettysburg Address formulierte.
Ursprünglich waren Staatsstreiche die größte Gefahr für Demokratien (in 64 Prozent der Fälle von 1946 bis 1999). Seit dem neuen Jahrtausend hat jedoch der von Einzelpersonen vorangetriebene Zusammenbruch demokratischer Ordnungen stark zugenommen. Ein frühes Beispiel war Juan Perón in Argentinien nach dem Zweiten Weltkrieg, in die Zeit nach dem Kalten Krieg fallen etwa Alberto Fujimori in Peru, Hugo Chávez in Venezuela, Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei, Daniel Ortega in Nicaragua und Rafael Correa in Ecuador.
Das Problem dabei: Im Gegensatz zu einem Staatsstreich handelt es sich um einen schleichenden Verfall. Dementsprechend gibt es lange keinen nennenswerten Widerstand vonseiten des Volkes. Im Gegenteil, oft steht es hinter den Verfassungsänderungen, die bisweilen sogar per Referendum abgesegnet werden. Populistische Führer können die Opposition, andere Staaten oder internationale Organisationen wie die EU als „Feinde des Volkes“ denunzieren. Am Ende wartet „personalisierte Diktatur“, also die Konzentration der Macht in den Händen einer einzelnen Person (und deren Getreuen). Wie man eine solche Umwälzung des Staatswesens wieder rückgängig macht, lässt sich nicht sagen.
Bis heute gelten das Ende der Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus als Schreckensbeispiel für die Fragilität von Demokratien in Krisenzeiten und dafür, wie sie in autoritäre Strukturen oder gar in Totalitarismus münden können. Als einer der bedeutendsten rechtstheoretischen Wegbereiter dieses Verfalls gilt Carl Schmitt, den manche als „Kronjurist des Dritten Reiches“ bezeichnen.
Seine Schrift „Politische Theologie“ aus dem Jahr 1922 beginnt mit dem oft diskutierten Diktum „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“. Das (Verfassungs-)Recht stößt in einer solchen Situation an seine Grenzen; was zählt, ist die faktische Herrschaftsausübung. Die üblichen verfassungsrechtlichen Regelungen und Entscheidungsprozesse treten hier zurück: Schnelle und notwendige Maßnahmen verlangen eine starke Exekutive oder gar die Machtübertragung auf einen Einzelnen: „Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft eines Selbsterhaltungsrechtes“, schreibt Schmitt.
Nicht wenige Verfassungen beinhalten eigene Regeln für den Ausnahmezustand. Das birgt eine enorme Missbrauchsgefahr. Die üblichen Gesetzgebungsprozesse lassen sich schließlich ebenso außer Kraft setzen wie grundlegende Menschenrechte. Letztlich kann die Ausnahme zur Regel werden – in Syrien etwa dauerte der Notstand von 1963 (dem Beginn des Baath-Regimes) bis zur Frühphase der Proteste gegen Baschar al-Assad im April 2011 (Assad hatte in dieser Zeit als Zeichen des Entgegenkommens noch eine Reihe von politischen Reformen angekündigt, unter anderem ein neues Demonstrationsrecht und Amnestien), in Ägypten von 1981 bis zum Sturz Hosni Mubaraks 2011.
Über alledem steht die zentrale Frage, ob eine demokratische Ordnung in Krisenzeiten aufrechterhalten werden kann – zumal die Alternativen im Regelfall wenig begrüßenswert erscheinen: Man denke nur an Russland, die Türkei oder an Venezuela.
Es bestehen Ausnahmen, sogenannte notstandsfeste Rechte: Das Folter- und das Sklavereiverbot sowie der „Nulla poena sine lege“-Grundsatz (keine Strafe ohne Gesetz) gelten immer, also auch im Ausnahmezustand oder zu Kriegszeiten.
Fareed Zakaria konstatierte bereits 1997 einen „Aufstieg der illiberalen Demokratien“, also solcher, die zwar regelmäßig (mehr oder weniger faire und freie) Wahlen abhalten, aber gewichtige Defizite bei anderen demokratischen Wesenselementen – Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechtsschutz – aufweisen. In Europa gelten etwa Ungarn unter Orbán oder auch zunehmend Polen als Beispiele für derartige Entwicklungen.
Dabei handelt es sich um einen globalen Trend: Der aktuelle Democracy Index stuft zwar die Hälfte aller Staaten weltweit als Demokratien ein, aber die Zahl „voller Demokratien“ sinkt: 57 – und damit die meisten – gelten als „flawed democracies“ (seit der Wahl von Donald Trump auch die USA), 40 als „hybride Regimes“ (unter anderem die Türkei) und 51 gar als autoritär. In letztere Kategorie fällt etwa Russland, das Platz 134 von den 167 im Democracy Index beurteilten Ländern belegt.
Nach dem Kalten Krieg stand die Hoffnung im Raum, dass Russland sich zu einer Demokratie westlichen Musters entwickeln könnte. So sprach Anthony Lake, damals Sicherheitsberater von Bill Clinton, in seiner „From Containment to Enlargement“-Rede 1993 noch von den US-Bestrebungen, aus einer ehemaligen Bedrohung einen wertvollen diplomatischen und wirtschaftlichen Partner zu machen.
Die Voraussetzungen dafür waren denkbar schwierig: Der US-Politologe Samuel Huntington bezeichnete Russland in seinem Buch „Kampf der Kulturen“ als ein „seit mehreren Jahrhunderten zerrissenes Land“, dem „sieben von acht typischen Wesensmerkmalen der westlichen Zivilisation – Religion, Sprachen, Trennung von Kirche und Staat, Rechtsstaatlichkeit (rule of law), Pluralismus, repräsentative Körperschaften und Individualismus“ beinahe völlig fremd waren: Als Peter der Große im 17. und 18. Jahrhundert das Land modernisierte, um den Rückstand zu Europa zu verkleinern, verstärkte er dabei auch den Despotismus.
Soziale und politische Bewegungen wie auch Oppositionelle wurden damit klein gehalten – eine Regierungs-„Tradition“, die von Katharina der Zweiten über Alexander den Zweiten bis hin zu Lenin, Stalin und in jüngerer Zeit Wladimir Putin reicht. Bis heute hält sich die These, dass sich Russland allein aufgrund seiner Größe und seiner unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen nur mit eiserner Hand regieren lässt.
Die russische Elite selbst versteht sich allerdings durchaus als demokratisch. Sie vertritt allerdings einen anderen Demokratiebegriff, nämlich jenen der „souveränen Demokratie“: Damit ist wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit in Abgrenzung vom Modell des amerikanisch-liberalistischen Staatsverständnisses gemeint. Das Individuum tritt dabei hinter die Gemeinschaft zurück. Dahinter stehen unterschiedliche Gedankenkonstrukte, die von der Rechtfertigung einer Elitenherrschaft – Herrschaft im Interesse des Volkes, nicht aber durch das Volk selbst – bis hin zur spirituellen Überhöhung des Gedankens der russischen Volksgemeinschaft als Träger der Souveränität reichen. Einflussreiche Denker wie Aleksandr Dugin erachten freie Wahlen dabei nicht als Grundelement, sondern als Störfaktor mit Gefahrenpotenzial (aufgrund der Betrugsmöglichkeiten oder der Beeinflussung von außen):
„Die Parteiendemokratie […] ist nicht mit den eurasischen Traditionen kompatibel, die auf organischer Einheit, Gemeinschaftlichkeit und dem Prinzip heiliger autoritärer Macht aufbauen. Anstelle des mechanischen Modells der Parteiendemokratie schlägt der Eurasianismus eine organische (gemeinschaftliche) Demokratie vor, die auf der Willensbekundung autorisierter Vertreter der Völker beruht.“
Wie fest sitzt Wladimir Putin im Sattel? Muss er die Opposition oder gar einen von außen unterstützten Putsch fürchten? Hannah Arendt zufolge laufen unterdrückerische Regimes darauf hinaus, dass niemand – auch die Machthabenden nicht – frei von Angst lebt und leben kann. In Russland kommt es immer wieder zu größeren Protesten, zuletzt im März 2017 in über 90 Städten (also auch in ärmeren, konservativeren und eigentlich putinfreundlichen Gegenden). Hintergrund sind unter anderem die Korruption der Eliten (ein Youtube-Video von Oppositionsführer Aleksej Nawalny hatte die Immobilien-Besitztümer von Dmitri Medwedew, der sich noch mit dem Kampf gegen die Korruption profiliert hatte, zum Thema) und die anhaltend schlechte Wirtschaftslage.
Putins Macht ist nicht in Stein gemeißelt. Die Revolution in der Ukraine hat bei ihm ebenso Spuren hinterlassen wie der Sturz Gaddafis und der Krieg in Syrien. Viele erklären seine Außenpolitik – vom Vorgehen in der Ostukraine bis hin zur Unterstützung für Assad – auch damit, dass er so seine Beliebtheit beim eigenen Volk steigert. So sprechen ihm laut Pew Research Center im Juni 2017 87 Prozent der Russen in weltpolitischen Angelegenheiten ihr Vertrauen aus. Auch seine allgemeine Beliebtheit beim russischen Volk ist seit der Annexion der Krim stark gestiegen und bis heute sehr hoch. Einer Gallup-Umfrage zufolge antworteten 81 Prozent auf die Frage, ob sie mit der Art und Weise, wie Wladimir Putin seine Aufgabe als Präsident erfüllt, einverstanden seien, mit Ja. Die Sorge vor einem Putsch oder Nawalny als möglichem Herausforderer dürfte dennoch bestehen.
Auch die Geschichte der Türkei ist von aufoktroyierten Modernisierungsbestrebungen einzelner Machthaber geprägt. Nach dem Ende des Osmanischen Reichs wollte Atatürk (ähnlich wie Peter der Große) mit einem energischen Reformprogramm den Abstand zu Europa aufholen und die osmanische Vergangenheit abschütteln. Dazu setzte er einen rigorosen Säkularismus beziehungsweise die Abschaffung des Islam als Staatsreligion ebenso durch wie den Ausbau der Frauenrechte (unter anderem durch ein Verbot der Polygamie und den verbesserten Zugang zu Bildungseinrichtungen) und die Förderung des türkischen Nationalismus als neues psychologisches Staatsfundament.
Wer die Entwicklungen in der Türkei der letzten Jahre kritisiert, sollte nicht vergessen, dass sie noch nie ein demokratisches Vorzeigeland war. Insbesondere spießte sich die von oben herab verordnete Zurückdrängung des Islam mit dem immer noch tief verwurzelten Glauben (vor allem in den ländlichen Gebieten). Die kemalistische Elite regierte in diesem entscheidenden Punkt gegen den Willen der Bevölkerungsmehrheit.
Auch die Rolle der Armee als Hüterin der laizistischen Verfassung vertrug sich nur schlecht mit demokratischen Grundsätzen. Die Sorge vor einem Militärputsch durchzieht die jüngere türkische Geschichte. Daher hatte die EU selbst um die Jahrtausendwende eine kleinere Rolle des Militärs als Grundbedingung für einen Beitritt gefordert, was Erdoğan auch umgesetzt hat. Hier liegt einer der Gründe dafür, weshalb der Putschversuch vom Juli 2016 gescheitert ist.
So gesehen entspricht Erdoğans stark islamisch geprägter Regierungskurs durchaus dem Willen der Bevölkerungsmehrheit. Die Einführung des Präsidialsystems erfolgte auf Grundlage einer Volksabstimmung (dabei gilt es freilich zu bedenken, dass das „Nein“-Lager auf Basis des in der Türkei nach dem Putsch ausgerufenen Ausnahmezustands massiv benachteiligt wurde. Die OSZE-Wahlbeobachter konstatierten überdies Unregelmäßigkeiten bei der Stimmauszählung).
Heute hat Erdoğans Machtfülle ungeahnte Ausmaße angenommen: Die neue Verfassung hat aus dem Parlament ein bloßes Beratungsorgan gemacht, Erdoğan ist Staats-, Regierungs- und Parteichef in einem, kann eigenständig Minister ernennen, die Hälfte der Richter am Höchstgericht besetzen, das Parlament auflösen und den Ausnahmezustand ausrufen. Argumentiert wird dieser Umbau mit dem eingangs erwähnten Diktum Carl Schmitts: Die Türkei braucht angesichts der externen (insbesondere der Krieg in Syrien) und inneren (Terrorismus und der Konflikt mit den kurdischen Kämpfern im Osten und Südosten der Türkei) Bedrohungen einer starke und vor allem loyale Exekutive. Dementsprechend wurden seit dem gescheiterten Putsch 150.000 Staatsbedienstete entlassen und 50.000 Personen (darunter Soldaten, Polizisten und Beamte) inhaftiert.
Erdoğans personenzentrierter Staatsumbau ist jedoch kein isoliertes Phänomen. Ein weiteres bekanntes Beispiel für den Verfall demokratischer Ordnungen und den Staatsumbau im Namen des Volkes sind die Entwicklungen in Venezuela seit dem Amtsantritt von Hugo Chávez.
Vor seinem Amtsantritt im Jahr 1999 galt das Land noch als als die drittälteste Demokratie außerhalb der industrialisierten Welt. 2001 war Venezuela das reichste Land Südamerikas, heute zählt es zu den ärmsten. Wie konnte das passieren?
Wirtschaftlich hat der Chavismo alles falsch gemacht, was man falsch machen kann: exorbitant hohe Staatsausgaben, Hyperinflation, Missmanagement bei der staatlichen Ölfirma PDVSA, gepaart mit der vollständigen Abhängigkeit von Ölexporten – als der Ölpreis sank, waren Chávez’ umfassende Sozialprogramme nicht mehr finanzierbar.
Parallel haben Chávez und sein Erbe Maduro das Volk im Namen des Volkes entmachtet. So hat Chávez bereits Stunden nach seiner Machtübernahme ein Referendum ausgerufen, um eine verfassunggebende Versammlung einzurichten (die er auch mit seinen Gefolgsleuten besetzte).
Man spricht in diesem Zusammenhang von „populistischer Verfassungsgebung“, einer Idee, die auf die Französische Revolution zurückgeht. Schon damals wurde argumentiert, dass das französische Staatsvolk – über eine gewählte Versammlung – die „verfassunggebende Gewalt“ besitzt. Als Träger des „Volkswillens“ unter Anleitung des Staatsoberhaupts ist sie auch nicht an die bestehende Verfassung oder an sonstige Gesetze und Institutionen gebunden.
Es folgte die Ausrufung des Ausnahmezustands, die Entfernung unliebsamer Höchstrichter und die faktische Entmachtung des regulären Parlaments. Ebenso wurde die Rolle der Armee, deren Angehörige mit Schlüsselpositionen bedacht wurden (so etwa die Rolle des Chefs der Geheimpolizei), massiv aufgewertet, unter anderem durch die Aufsicht über die regionalen Volksvertreter.
Die neu ausgearbeitete „bolivarische“ Verfassung wurde vom Volk per Referendum angenommen. Chávez konnte schließlich vor allem zu Beginn seiner Amtszeit auf den Rückhalt der Wähler bauen.
Die neue Verfassung erleichterte Zensurmaßnahmen, machte Chávez zum Regierungschef und Staatsoberhaupt in Personalunion – inklusive der Befugnis, das Parlament aufzulösen (das Parlament wiederum kann keine Amtsenthebung des Präsidenten einleiten) und der Möglichkeit eines Machtverbleibs bis 2013.
In den letzten Jahren hat sich die Lage in Venezuela drastisch verschlechtert, die Proteste seit April 2017 könnten sich zu einem Bürgerkrieg auswachsen. Dabei scheint sich die Geschichte zu wiederholen: Im Parlament stellt zwar seit den Wahlen vom Dezember 2015 die Opposition die Mehrheit, es wurde aber vom Höchstgericht (das unter der Kontrolle der Regierung steht) von der Gesetzgebung abgehalten.
Anfang August hat Maduro einmal mehr eine verfassunggebende Versammlung einberufen und mit seinen Getreuen beschickt. Zwei Wochen später folgte die Verlautbarung, die Funktionen des Parlaments zu übernehmen. Die 545 Mitglieder der Versammlung sind allerdings lediglich dazu da, die Regierungsvorschläge ohne Debatte abzunicken. Die Opposition ist damit in Venezuelas Institutionen nicht mehr vertreten und wird zusehends verfolgt. Wie die International Crisis Group feststellte, wurde mit diesem Schritt „jeder verbleibende Anschein, dass Venezuela eine Demokratie bleibt“, ausgelöscht. Der „Freedom in the World“-Index stuft das Land demgemäß mittlerweile als „not free“ ein.
Neben der Entmachtung des Volkes im Namen des Volkes gibt es auch umgekehrte Entwicklungen: den Schutz des Volkes vor sich selbst. So wird bisweilen argumentiert, dass manche Länder aufgrund ihrer Geschichte, Kultur oder der Zusammensetzung ihrer Bevölkerung (zumindest vorübergehend) nicht für ein demokratisches System geeignet sind. Mitunter sollen sie von einem autoritären System sogar profitieren – das Ideal eines „wohlmeinenden Diktators“ findet sich in John Stuart Mills Schrift „On Liberty“ von 1859.
Als Paradebeispiel gilt Ruanda, das seit dem Ende des Völkermords im Jahr 1994 durchgehend von Paul Kagame, dem damaligen Anführer der Tutsi-Rebellen, regiert wird (zwar hat er das Amt des Präsidenten erst im Jahr 2000 übernommen, er galt als Vizepräsident und Verteidigungsminister jedoch bereits davor als faktischer Regierungschef).
An der Person Kagame scheiden sich die Geister: Anfangs wurde er vor allem dafür gelobt, keine mit dem Genozid an den Tutsi vergleichbaren Racheakte an den Hutu begangen zu haben (allerdings steht der Vorwurf eines Massakers an Hutus im Raum, die in die Demokratische Republik Kongo geflüchtet sind). Außerdem hat Ruanda sich in seiner Amtszeit äußerst gut entwickelt (Kagame hat die ausländischen Hilfsgelder wesentlich besser eingesetzt als viele seiner Amtskollegen): Das Wirtschaftswachstum beträgt 5,9 Prozent (einer der höchsten Werte in Afrika). Außerdem auf Kagames Haben-Seite:
Allein, Kagame ist kein Demokrat, und er will auch keiner sein: Sein Vorbild ist vielmehr das undemokratische, aber hocheffiziente Singapur. Die Opposition wird gewaltsam unterdrückt, politische Widersacher werden teilweise sogar ermordet aufgefunden. Viele der Gegner Kagames befinden sich in Gefangenschaft oder im Exil.
Westliche Kritiker werden von ihm oft als Pharisäer bezeichnet, da keiner den Genozid 1994 stoppen wollte. Auch die niedrige Verbrechensrate hat einen hohen Preis: Im Juli 2017 veröffentlichte Human Rights Watch einen detaillierten Bericht zu einer außergerichtlichen Massenexekution von mindestens 37 verdächtigen Kleinkriminellen im Westen Ruandas.
Über alledem steht die quälende Frage, wie eine genuine Demokratie in Ruanda funktionieren würde und wie sich das Land unter einer solchen entwickelt hätte. Unter Kagame leben Hutu und Tutsi friedlich zusammen, was Mitte der 1990er Jahre noch kaum jemand für möglich gehalten hätte: In Ländern mit einer tiefgehenden ethnischen, kulturellen oder sozialen Spaltung der Bevölkerung bergen Wahlen das Risiko, bestehende Spannungen zu vergrößern oder gar in Gewalt zu münden. Die Sorge vor einer Hutu-Regierung und einem allgemeinen Aufflammen des ethnischen Konflikts ist angesichts des Völkermords entsprechend hoch.
Die Grenzen des demokratischen Gedankens zeigen sich auch auf der weltpolitischen Bühne. Demokratie ist – vom europäischen Sonderweg abgesehen – ein nationalstaatliches Konstrukt. Niemand fordert ernsthaft eine Art Welt-Demokratie, zumal in einer solchen Indien (1,324 Milliarden Einwohner) und China (1,379) tonangebend wären. Vielmehr gilt, dass Staaten – zumindest in der Theorie – einander gleichberechtigt gegenüberstehen: „So wie ein Zwerg ebenso ein Mensch ist wie ein Riese, ist auch ein kleiner Staat genauso souverän als ein mächtiges Königreich“ liest man schon bei Emer de Vattel: Staaten werden als moralische Personen angesehen, innerhalb der UN-Generalversammlung gilt daher das strenggenommen wenig demokratische Prinzip „one state, one vote“ – egal ob es sich um Kleinststaaten wie Mikronesien oder um China handelt.
Bei genauerer Betrachtung wird dieses scheindemokratische Prinzip allerdings ohnehin nicht konsequent gelebt. Im Sicherheitsrat – dem Exekutivorgan der Vereinten Nationen, das im Gegensatz zur Generalversammlung verbindliche Maßnahmen, beispielsweise Wirtschaftssanktionen, beschließen kann – haben China, Russland, die USA, Großbritannien und Frankreich ein Vetorecht. Und in den beiden bedeutsamsten Finanzinstitutionen – der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds – erfolgt die Stimmgewichtung anhand der Beitragsleistungen, weswegen die USA dort mit 16,52 Prozent dominieren (zum Vergleich: Österreich hat 0,81 Prozent der Stimmen).
Die EU versucht wiederum, dem Gedanken „ein Staat, eine Stimme“ ebenso Rechnung zu tragen wie dem Faktum, dass ihre Mitglieder unterschiedlich viele Einwohner haben. Das ältere Prinzip der Stimmgewichtung (das kleinere Länder gegenüber den bevölkerungsreicheren bevorzugte) greift seit Ende März 2017 nicht mehr. Heute entscheidet der Rat im Regelfall mit qualifizierter Mehrheit (80 Prozent der EU-Rechtsvorschriften werden so erlassen): Eine solche braucht mindestens 16 Ja-Stimmen der EU-Mitglieder, die 65 Prozent der EU-weiten Bevölkerung vertreten. Gleichzeitig besteht die Möglichkeit einer Sperrminorität von mindestens vier Ländern, die zugleich über 35 Prozent der Bevölkerung vertreten.
Demokratie hat außerdem wenig Platz bei der Lösung grenzüberschreitender Problemstellungen, etwa dem dem Klimawandel: Hier geht es darum, möglichst viele Staaten ins Boot zu holen; ihre innere Verfasstheit spielt dabei keine Rolle. Entscheidend sind allein ihre Anstrengungen zur Reduktion von CO2. Niemand würde auf die Idee kommen, eine Art Welt-Referendum zu den Maßnahmen gegen Klimawandel oder Ähnliches zu fordern.
Was allerdings in der Theorie immer wieder gerne diskutiert wird, ist eine Art Welt-Staat als politische Reaktion auf die Globalisierung. Abgesehen vom Klimawandel soll ein solcher auch den Steuerwettbewerb beenden oder Schlupflöcher stopfen, globale Standards für Arbeitsbedingungen oder überhaupt die Menschenrechte setzen und an der Bekämpfung transnationaler Kriminalität arbeiten. Wie ein solcher Staat konkret aussehen sollte, ist freilich ebenso unklar wie seine Umsetzung. Angesichts der zahlreichen geopolitischen Verwerfungen erübrigt sich eine nähere theoretische Diskussion darüber fürs Erste.
Nach Ende des Kalten Krieges sprach Francis Fukuyama vom „Ende der Geschichte“ – die liberale Demokratie habe sich als das „beste“ Konzept endgültig durchgesetzt.
Aus heutiger Sicht erscheint seine Hoffnung verfrüht bis naiv (Fukuyama hat allerdings weniger eine Prognose formuliert als eine Hoffnung). Bei der Demokratie handelt es sich in ihrer gegenwärtigen Ausprägung um ein verhältnismäßig junges Konzept, das sich erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs etablieren konnte. Ob und wie krisensicher sie ist, lässt sich kaum sagen. In vielen (unterschiedlich) demokratischen Staaten haben sich in den letzten Jahren zunehmend autoritäre Strukturen herausgebildet. Das geschah oft nicht gegen den Willen des Volkes: Korruption, Armut, (reale oder konstruierte) Bedrohungen von außen stärken die Sehnsucht nach dem starken Mann.
Umgekehrt steht die Frage im Raum, ob sie stets die richtige Regierungsform ist. In ethnisch, religiös oder kulturell gespaltenen Gesellschaften können Wahlen bestehende Spannungen weiter vertiefen. Das Beispiel der Entwicklung Ruandas nach dem Genozid an den Tutsi legt die Vermutung nahe, dass in solchen Situationen ein „wohlmeinender Diktator“ nicht per se schlecht sein muss.
Zuletzt bleibt die globale Ebene: Ungeachtet der Fiktion, dass alle Staaten gleich souverän sein sollen, bestehen manifeste Unterschiede. Mächtigere Staaten haben nun einmal wesentlich mehr Einfluss als kleinere Länder. Auch von einem Weltstaat und einer Welt-Demokratie ist man nach wie vor weit entfernt. Vielmehr sucht man nach globalen Lösungen für globale Probleme, vom Klimawandel über die Armutsbekämpfung bis hin zur Flüchtlingskrise. Für demokratische Herangehensweisen bleibt da kein Platz.