Grundsätzlich beruht der demokratische Gedanke auf dem Anspruch, dass alle politisch mündigen Staatsbürger – durch aktives und passives Wahlrecht – an der Ausgestaltung des gemeinsamen Zusammenlebens teilhaben. Lange war damit jedoch nur ein verhältnismäßig kleiner Personenkreis gemeint. Erst im 20. Jahrhundert wurde die Berechtigung zur politischen Teilhabe kontinuierlich zum allgemeinen Wahlrecht ausgebaut.
Im alten Athen kam lediglich 30.000 von 250.000 Bewohnern der Status eines vollwertigen Bürgers zu: Als Voraussetzung musste man männlich, erwachsen und geborener Athener sein. Aus diesem Personenkreis nahmen wiederum lediglich um die 5.000 Männer an den regelmäßigen Volksversammlungen teil.
Allerdings gelten nach wie vor Einschränkungen: Einerseits ist das Wahlrecht an die Staatsbürgerschaft oder – auf Gemeindeebene – an die Unionsbürgerschaft geknüpft: Selbst der jahrzehntelange Aufenthalt in Österreich reicht nicht aus. Umgekehrt dürfen Staatsbürger wählen, die das Land schon vor langer Zeit verlassen haben.
Bei den Nationalratswahlen 2017 waren 1.134.442 Menschen (ab 16) nicht wahlberechtigt, obwohl sie in Österreich leben. Darunter sind 162.000 deutsche, 102.000 serbische, 97.700 türkische, 83.300 bosnische und 76.800 rumänische Staatsbürger.
Daher rühren Vorschläge, das Wahlrecht so auszubauen, dass es an eine gewisse Aufenthaltsdauer geknüpft ist. Das wäre konsequent demokratisch und könnte die Integration fördern. Das Wahlrecht gilt demgemäß als Voraussetzung, sich wirklich zu Hause fühlen zu können.
Sorgen bereiten die politischen Auswirkungen. Würde der nationalitätenspezifische Wahlkampf (beispielsweise will die FPÖ gezielt Serben ansprechen, die SPÖ versucht dasselbe mit den Türken) weiter zunehmen und damit bestehende Integrationsprobleme weiter verschärfen? Würden sich gar eigene Parlamentsparteien für die jeweiligen Volksgruppen herausbilden und dadurch eine Ethnokratie – also Wahlen entlang ethnischer anstatt politischer/ideologischer Konfliktlinien (dazu später mehr) – entstehen?
Ebenso unklar ist die nähere Ausgestaltung. Wie kurz/lang müsste der Aufenthalt sein, damit man wahlberechtigt wird? Ab wann würde man das Wahlrecht wieder verlieren?
Es gibt allerdings ebenso Vorschläge, das Wahlrecht nicht auszubauen, sondern sogar einzuschränken. Sie kommen aus dem libertären Lager und gründen sich vor allem auf ökonomische Überlegungen. So kann das allgemeine Wahlrecht im Sozialstaat auf einen indirekten Konflikt hinauslaufen: zwischen jenen, die in den Steuertopf einzahlen und jenen, die übermäßig von der Umverteilung profitieren.
Solange ein ausreichend starkes Solidaritätsgefühl innerhalb der Bevölkerung – kurzum: sozialer Friede – herrscht, stellt sich diese Frage nicht beziehungsweise nur in abgeschwächter Form. Sobald die Kluft zwischen den „Netto-Staatsempfängern“ – also jenen, die vom Staat mehr bekommen, als sie einzahlen – und dem Rest der Bevölkerung größer wird und die Unzufriedenheit der Steuerzahler steigt, ist der soziale Zusammenhalt jedoch in Gefahr. Hinzu kommt die Sorge vor einem steten Anstieg der Zahl von „Netto-Staatsempfängern“, die allein durch ihre Menge ihren Willen gegenüber den Steuerzahlern durchsetzen.
Diese Sorgen sind nicht neu. Der deutsche Ökonom Wilhelm Röpke warnte schon 1950 vor inhärenten Tendenzen des Sozialstaats: Zum einen habe er zur strukturellen Entmündigung der Arbeiterschaft geführt. Zum anderen seien dadurch immer mehr Menschen in ein Abhängigkeitsverhältnis zum Staat geraten – womit die Mittelschicht beziehungsweise die Zahl der Steuerzahler immer kleiner werde.
„Wenn wir dem Proletarier keinen echten Wandel seiner Arbeits- und Existenzform anbieten und ihn nicht aus seiner Proletarität wirklich befreien, so ist es nur natürlich, dass er mit äußerster Schärfe die Unsicherheit seiner wurzel- und reservenlosen Existenz empfindet und immer dringender einen Ausgleich in derjenigen Form fordert, die ihm unter diesen Umständen allein noch sichtbar zu sein pflegt: in der Form der mechanisierten Massenfürsorge, der Einkommensnivellierung durch Besteuerung, der höchstmöglichen Löhne und kürzestmöglichen Arbeitszeit, der längstmöglichen Ferien und der rücksichtslosen Ausnutzung der Macht der nackten Zahl.
Was dann vorgeht, hat schon Aristoteles in seiner ,Politik‘ mit aller Klarheit erkannt. Er sagt, dass, sobald die Mittelklasse in einer Demokratie zu schmal wird, die Ärmsten als die nunmehr Zahlreichsten ihre Macht zu missbrauchen drohen. In die Sprache unserer Zeit übersetzt besagt dieses ,Gesetz des Aristoteles‘: wachsende Proletarisierung bedeutet abnehmenden Widerstand gegen eine Politik der Einkommensnivellierung und der weiteren Vernichtung des Mittelstandes. Genauer ausgedrückt: hat die Proletarisierung einen bestimmten Grad überschritten, so führen die Ansprüche, die das Proletariat an die übrige Gesellschaft stellen wird, leicht zu einem solchen Druck auf die Staatskasse und auf das Geld- und Kreditsystem, dass konstanter Inflationsdruck und Überbesteuerung immer weniger vermeidbar werden. Im modernen proletarischen ,Wohlfahrtsstaat‘ mit seinen fast uferlosen Programmen der ,sozialen Sicherheit‘ und der ,Vollbeschäftigung‘ wird immer stärker eine fortgesetzte Tendenz zur Inflation (mitsamt der ständigen Minderung der Kaufkraft des Geldes) und zu einer Finanzpolitik hervortreten, die davon abschreckt, Eigentum zu besitzen, die Früchte des Eigentums zu genießen und überhaupt ein Einkommen zu erwerben, das die Bildung von Eigentum erlaubt. Während diese Tendenz das individuelle Sparen entmutigt, lässt die Maschine der staatlich organisierten Gesellschaft immer mehr Menschen der mehr oder weniger ausreichenden ,Stallfütterung‘ durch den Staat anheimfallen, zu Hintersassen der Regierung werden. Panem et circenses: schon einmal hat die Weltgeschichte einen ähnlichen Vorgang erlebt.“
Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, plädierte André F. Lichtschlag, Herausgeber des libertären Magazins Eigentümlich Frei in einem Artikel in der Welt, dass man den Nettostaatsprofiteuren das Wahlrecht entziehen sollte. Lichtschlag hat dabei einen sehr weiten Begriff des „Nettostaatsprofiteurs“: Gemeint sind nicht nur Empfänger von staatlichen (Sozial-)Leistungen, sondern auch Pensionisten (soweit das Rentensystem sich nicht selbst deckt) und Staatsangestellte, allen voran Beamte und Politiker.
Müßig zu sagen, dass derartige Eingriffe ins Wahlrecht keine Aussichten auf Umsetzung haben. Schließlich würde man damit in die Zeit des Zensus-Wahlrechts – in dessen Rahmen nur jene wählen dürfen, die über ausreichende Finanzmittel verfügen – zurückfallen, das mit der Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer auf Reichsebene 1907 (für Frauen erst 1918) eigentlich beendet wurde.
In den Landtagen galt das Zensuswahlrecht übrigens weiterhin. Auch dabei spielte die Steuerhöhe eine Rolle. So beschloss der niederösterreichische Landtag noch 1907, dass die Einkommensteuer im Rahmen des Zensuswahlrechts für die Kurie der Stadt- und Landgemeinden „für das der Wahlausschreibung vorangegangene Kalenderjahr tatsächlich entrichtet worden sein muss.“
Aufgrund der Altersstruktur einer Gesellschaft können Demokratien außerdem zu einer strukturellen Benachteiligung jüngerer und zukünftiger Generationen führen.
Daher droht die gesellschaftliche Polarisierung zwischen Alt und Jung sowie zwischen Menschen mit und ohne Kindern. Die Älteren dominieren an den Urnen. Schon 2003 warnte Harald Michel, der damalige Chef des Instituts für angewandte Demographie in Deutschland, vor den Gefahren einer solchen „Gerontokratie“ für die Gesellschaft.
Das betrifft insbesondere die Finanzierung der Pensionen, wo das Verhältnis zwischen Erwerbstätigen und Pensionisten aus den Fugen geraten ist. Weil das Umlagesystem sich nicht selbst deckt, braucht das österreichische Pensionssystem jedes Jahr enorme Zuschüsse aus dem Budget (die in den nächsten Jahren weiter ansteigen werden). Diese Gelder fehlen für nachhaltige Investitionen oder Einsparungen. Als Ausweg müsste man an der Pensionshöhe (Reizthema Luxuspensionen für einzelne privilegierte Gruppen) und am Pensionsantrittsalter schrauben. Schließlich leben die heutigen Pensionisten länger als früher, ebenso sind sie in körperlich besserer Verfassung (weil ihre Berufe eine geringere körperliche Belastung darstellen als jene vergangener Generationen).
Eine Anpassung des Pensionsantrittsalters gilt jedoch als Tabuthema, als „politischer Selbstmord“. Das muss allerdings nicht grundsätzlich so sein: Schließlich haben die heutigen Pensionisten oft Kinder und Enkelkinder. Dementsprechend sollte ein politisches Interesse bestehen, ihren Nachkommen ein funktionierendes Pensionssystem zu hinterlassen.
Neben der fehlenden Nachhaltigkeit des Pensionssystems steht auch beim Klimawandel der Vorwurf im Raum, dass mit der Umweltverschmutzung der gegenwärtigen Bevölkerung Menschen geschadet wird, die oft noch gar nicht geboren sind.
Die Leidtragenden sind jedenfalls die Jüngeren, inklusive der (noch) Nichtwahlberechtigten und Ungeborenen. Der stete Wahlkampf und das Streben danach, gewählt zu werden, erschweren den langfristigen und vernünftigen Umgang mit dem Staatshaushalt.
Zeit für Fatalismus? Dem Ökonomen William Nordhaus zufolge kann eine ideal ausgebildete Demokratie gar nicht anders, als zulasten zukünftiger Generationen zu entscheiden. Um diese systemimmanente Benachteiligung auszugleichen, haben Philosophen das Konzept der „Intergenerational Justice“ geprägt: generationenübergreifende Gerechtigkeit, die auch die Rechte wesentlich später lebender Generationen in den Blick nimmt. Das könnte beispielsweise geschehen, indem man Eltern zusätzliche Stimmen für ihre Kinder gibt (bis diese selbst wählen dürfen), oder junge Menschen mehr als eine Stimme bekommen, um das Missverhältnis zu den älteren auszugleichen.
Damit hängt außerdem die demokratische Tendenz zu kurzsichtigem Handeln zusammen. So gesehen sind die Wähler selbst die größte Herausforderung für die Demokratie. Schon Platon zeigte sich über das demokratische In-den-Tag-Hineinleben besorgt. Das zeigt sich auch in den seit Jahrzehnten bestehenden chronischen Budgetdefiziten in den USA oder in unzähligen europäischen Staaten. Die Finanzkrise hat viele systemimmanente Schwächen offengelegt. Sparmaßnahmen kommen bei den Wählern, die sich an die staatliche Fürsorge der guten Jahre gewöhnt haben, schlecht an. Wenn die zu verteilenden Mittel geringer werden, drohen soziale Konflikte.
Das gilt auch für die österreichische Spielform des Keynesianismus, der in Österreich nie konsequent umgesetzt wurde. Vielmehr wurde der Grundgedanke, in Krisenzeiten die staatlichen Investitionen zu erhöhen und bei Hochkonjunktur dafür zu sparen, in Österreich ignoriert, wie der Ökonom Bernhard Felderer es ausdrückte: „Wir haben eigentlich nie gelernt, dass ein Zyklus zwei Seiten hat. Auf dem Höhepunkt des Zyklus müssen wir sparen, und am Ende des Zyklus können wir wieder ausgeben, weil wir stabilisieren wollen. Also, die Grundidee der keynesianischen Theorie, die haben wir nie richtig befolgt, weil wir eben nicht auf dem Höhepunkt des Zyklus gespart haben. Überschüsse sind ja kaum jemals erzielt worden.“
Ein Beispiel für einen Staat, der das Dilemma der Ethnopolitik in sein politisches System eingebaut hat, ist der Libanon: Dort ist das Parlament unter den 18 anerkannten Religionsgemeinschaften aufgeteilt, insbesondere haben Muslime und Christen dieselbe Anzahl von Sitzen. Der Präsident muss ein maronitischer Christ sein, der Premierminister ein sunnitischer Muslim, und der Parlamentssprecher ein Schiit. Von einer Volkszählung (die Bevölkerungszusammensetzung entspricht dieser Zuteilung nicht mehr, Muslime stellen heute die klare Bevölkerungsmehrheit) wird bewusst abgesehen.
Es gibt außerdem Situationen, in denen eine demokratische Verfasstheit beziehungsweise die Abhaltung von Wahlen immense Gefahren birgt. Vor allem unmittelbar nach Bürgerkriegen oder allgemein in ethnisch, kulturell und religiös stark zersplitterten Staaten werden Wahlen weniger zu einem Wettkampf der Ideen als zu einer Frage der Zugehörigkeit. Wer die Bevölkerungsmehrheit stellt, dominiert in Regierung und Staat. Man spricht hier von Ethnopolitik – also dem Appell, für die Vertreter der eigenen Nationalität, Ethnie oder Religion zu stimmen. In solchen Situationen regiert letztlich die stimmenstärkste Volksgruppe – womit systematische Verletzungen der Minderheitsrechte drohen.
Aufgrund des gegenseitigen Misstrauens der jeweiligen Gruppen kann es bei jeder Wahl zu Gewaltausbrüchen kommen. Die Popper’sche Ansicht, dass auch Verlierer den Ausgang von Wahlen akzeptieren, weil sie auf den nächsten Urnengang hoffen dürfen, greift in ethnopolitischen Demokratien nicht.
Verfassungen lassen sich abändern. Auch die robustesten Grundsätze – vom Laizismus bis hin zur Staatsform – sind nicht in Stein gemeißelt.
Wie wird sich Europa über die nächsten Jahrzehnte entwickeln? Wie robust ist die Demokratie, zumal sie in ihrer derzeitigen Form ein relativ neues Phänomen ist? Wie geht man mit Populismus und der Entfremdung zwischen Politik und weiten Teilen der Bevölkerung um? Was, wenn Verfassungsgrundsätze einem Referendum nicht standhalten würden?
Damit hängt auch die insbesondere in Deutschland seit Pegida und dem Aufstieg der AfD losgetretene Debatte rund um die Definition des Volksbegriffs und die gegenseitige Aufwiegelung unterschiedlicher sozialer, kultureller und religiöser Gruppen zusammen: Neigt das Konzept des Multikulturalismus dazu, bestehende Unterschiede – aber auch Ungleichheiten – einzuzementieren, anstatt sie einander anzugleichen? Wie groß ist das Risiko, dass eine multikulturelle Demokratie, wie sie in Frankreich, Deutschland oder eben auch Österreich entsteht, in die soeben beschriebene Ethnopolitik abgleitet?
Die letzten Jahre waren von personenzentrierter Politik und – damit einhergehend – einem Abgleiten in autoritäre Strukturen geprägt. Ein Foreign Affairs-Artikel konstatierte einen Aufstieg von „Personalismus“ und „neuen Diktatoren“: Insbesondere in Krisenzeiten können Einzelpersonen ihre Macht oft enorm ausbauen und dabei politische Mitbewerber ausschalten oder zumindest marginalisieren. Teilweise lassen sich Oppositionsparteien mit kleineren Zugeständnissen und findigen Allianzen zu Steigbügelhaltern machen.
Staats- und Regierungschefs wie Erdoğan oder Chávez haben ihre Verfassungsänderungen mit Zustimmung einer Mehrheit absegnen lassen. Ein gern bemühtes Mittel dabei sind Volksabstimmungen (die oft nicht fair ablaufen) und sogenannte verfassungsgebende Versammlungen – also außerhalb des regulären Parlaments vom Volk direkt gewählte Vertreter (wobei ihre Zusammensetzung durch die dahinterstehenden Regierungen direkt oder indirekt beeinflusst werden), die als solche auch nicht an die bestehende verfassungsrechtliche Ordnung und ihre Institutionen gebunden sind. Als Verkörperung des „Gemeinwillens“ (in Anlehnung an Rousseaus Konzept der Volonté générale haben sie eine uneingeschränkte Befugnis, eine neue Verfassung auszuarbeiten, die im Regelfall den Vorstellungen der Machthaber entspricht.
Daraus folgt eine entscheidende Frage: Lassen sich Demokratien auf demokratischem Weg abschaffen beziehungsweise zumindest massiv einschränken? Konsequent-demokratisch gedacht kann die Antwort nur Ja heißen. Selbst in Österreich ist eine Gesamtänderung der Verfassung, worunter auch ihr demokratischer Gehalt fällt, mit Zweidrittelmehrheit und anschließender Volksabstimmung möglich. Offen bleibt, wie man eine einmal verloren gegangene Demokratie auf friedlichem Weg wiederherstellt.
Rousseau meint damit den Willen des gesamten Volkes, nicht nur den von Untergruppen oder Einzelner.
Die klassischen Ausführungen der alten Griechen zu Demokratie und allgemein der Staatstheorie unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich der Beteiligung, sondern in einem weiteren wesentlichen und oft vernachlässigten Punkt von den heutigen Nationalstaaten: Die Polis der alten Griechen war ein verhältnismäßig kleiner und abgeschlossener politischer Raum, in dem politische, religiöse und kulturelle Fragen eng miteinander verwoben waren.
Der moderne Nationalstaat ist jedoch ein Massenphänomen. Hier leben oft Menschen mit unterschiedlichen Sprachen, Riten, Religionen und Kulturen zusammen.
Das Zusammengehörigkeitsgefühl stößt dadurch an seine Grenzen. In kleinräumigen Strukturen herrschen andere zwischenmenschliche Regeln und Beziehungen als in unpersönlichen Riesengebilden.
Diese Unterscheidung findet sich in Ferdinand Tönnies’ Soziologie-Standardwerk „Gemeinschaft und Gesellschaft“ aus dem Jahr 1887: Das Gefühl genuiner Zusammengehörigkeit und Solidarität fehlt in der Gesellschaft völlig. Sie ist vielmehr von gegenseitigem Misstrauen – wie es sich unter Fremden nicht vermeiden lässt – geprägt. Dementsprechend braucht es strenge Regeln, die gegebenenfalls auch entsprechend durchgesetzt werden.
Die Notwendigkeit, auch in großen Gesellschaften ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu schaffen, markiert den Ursprung des modernen Gedankens der Nation. Vorläufer war das (post)revolutionäre Frankreich in der Zeit der großen Reformen unter Napoleon. Die bis dahin stark heterogene Bevölkerung Frankreichs sollte so geeint werden. Dazu gehörten unter anderem ein neues, allgemeingültiges Zivilgesetz (der Code Civil) und die Kodifikation des Französischen als gemeinsame Sprache (noch 1792 sprachen dem israelischen Historiker Martin van Creveld zufolge lediglich ein bis 13 Prozent der Franzosen „richtiges“ Französisch, in vielen ländlichen Gegenden und im ganzen Süden wurde es gar nicht gesprochen). Hinzu kommen neue Identifikationssymbole: Frankreich gab sich als erstes Land eine Nationalhymne, die auf den zahlreichen neuen Festen (als Ersatz für die älteren religiösen Feste) gespielt wurde, und führte eine neue Flagge ein.
Die Konstruktion einer gemeinsamen post-nationalen Identität stellt heute die EU vor Legitimationsprobleme. Das ihr oft angelastete „demokratische Defizit“ ist bei genauerer Betrachtung nicht nur eine Frage der Kompetenzen des Europäischen Parlaments, sondern auch eine simple Frage der Größe.
Kein Regierungssystem ist perfekt. Auch die Demokratie hat ihre Makel und stößt bei einigen strittigen Fragen an ihre Grenzen. Das reicht von der Ausgestaltung des Wahlrechts über die Tendenz zur Benachteiligung späterer Generationen bis hin zu den Gefahren eines Umsturzes in Krisenzeiten. Mit diesen Themen muss man sich beschäftigen. Man sollte auch nicht vergessen: In Österreich oder Deutschland ist die Demokratie immer noch ein relativ junges Phänomen.