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Die grüne Wende: Wird Europa abgehängt?
3. Dezember 2019 Energiewende Lesezeit 7 min
Europa galt lange als Musterschüler der globalen Energiewende. Ein Großteil der wichtigsten Innovationen wurde von europäischen Ingenieuren entwickelt. Doch der Ausbau der Erneuerbaren geht andernorts deutlich schneller voran als in der Heimat der Energiewende.
Dieser Artikel gehört zum Projekt Energiewende und ist Teil 4 einer 4-teiligen Recherche.
Bild: Lilly Panholzer | Addendum

Ich möchte den grünen Deal zum Markenzeichen Europas machen“, mit diesen Worten bewarb sich Ursula von der Leyen im Juli um das Amt der EU-Kommissionschefin. Bereits ein halbes Jahr vor von der Leyens markigem Spruch vom „Green Deal“ einigten sich im Dezember 2018 Vertreter des Europäischen Parlaments, des Europäischen Rats und der EU-Kommission in Brüssel auf das Gesetzgebungspaket „Saubere Energie für alle Europäer“. Darin wird beschrieben, welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um den Anteil des Stroms aus Erneuerbaren Energien massiv zu steigern, ohne dabei den Industriestandort Europa zu schwächen. Außerdem sollen eine günstige und sichere Stromversorgung für alle Europäer gewährleistet bleiben. Europa soll nicht nur zum Anführer in Sachen Klimaschutz werden, sondern mithilfe der Energiewende die Wirtschaft neu beflügeln.

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Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission

Gegen einen solchen Plan werden wohl wenige etwas einzuwenden haben. Doch ob er wirklich aufgeht, darf bezweifelt werden. Zwar galt Europa in Sachen Erneuerbare Energien lange Zeit als vorbildlich, doch die Konkurrenz hat nicht nur aufgeholt, sie ist dabei, Europa bei der Energiewende zu überholen. Besonders China und Indien drücken mächtig aufs Tempo, um ihre bislang noch weitgehend von fossilen Quellen abhängige Energieversorgung auf Erneuerbare umzustellen.

Die beiden Länder stellen mit ihren zusammen 2,8 Milliarden Einwohnern die mit Abstand größten Energiemärkte der Zukunft dar. Nirgendwo vollzieht sich die Energiewende so schnell wie hier. Zusammen mit den USA spielen sie die zentrale Rolle in der weltweiten Transformierung der Energiewirtschaft. Die drei Länder machen zwar immer noch mehr als die Hälfte der globalen Treibhausgasemissionen aus – gleichzeitig sind sie aber auch die größten Märkte für Erneuerbare Energien.

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China ist auf dem Weg zur grünen Supermacht

China gewinnt immer noch einen großen Teil seiner Energie aus Kohle. Mit seinen 1,4 Milliarden Einwohnern stößt der Staat mit Abstand die meisten Treibhausgase weltweit aus – mehr als die USA und die EU zusammen. So weit, so schlecht. Doch im Klimaabkommen von Paris hat China versprochen, sich zu bessern und bis 2030 die Emissionen zu senken. Tatsächlich hat es China innerhalb weniger Jahre geschafft, den Anteil der Erneuerbaren Energieträger am Strom-Mix auf mehr als ein Viertel zu steigern. Vor allem ein Blick auf die jährlichen Zuwachsraten zeigt schnell: Das Reich der Mitte ist auf dem Weg zur grünen Supermacht. Schon jetzt ist China der weltweit größte Hersteller und Exporteur von Windrädern, Solarmodulen und auch von Elektroautos.

2011 investierte Europa rund 138 Milliarden Euro in den Ausbau der Erneuerbaren, das machte einen weltweiten Anteil von knapp 43 Prozent aus. Bis 2017 schrumpfte dieser Teil auf gerade einmal 17 Prozent. Im gleichen Jahr entfielen mehr als 45 Prozent aller weltweiten Investitionen in Erneuerbare Energien auf China.

Besonders deutlich zeigt sich die Wucht der chinesischen Energiewende im rasanten Ausbau der Solarenergie. Allein in den vergangenen beiden Jahren schraubte China seine installierte Photovoltaik-Leistung um fast 100 Gigawatt nach oben. In der EU waren es im selben Zeitraum gerade einmal 16 Gigawatt.

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Staatsziel „Ökologische Zivilisation“

Europa kann mit der Geschwindigkeit Chinas offenbar nicht ansatzweise mithalten. Gleiches gilt für den Ausbau der Windenergie. Während in Europa die Entwicklung merklich ins Stocken geraten ist und vor allem im vergangenen Jahr und heuer deutlich weniger Anlagen gebaut wurden als in den Jahren zuvor, geht der Ausbau in China mit atemberaubendem Tempo voran. Die Volksrepublik ist mit großem Vorsprung Windkraft-Weltmeister: Die Gesamtleistung von 211 Gigawatt repräsentiert mehr als ein Drittel der weltweiten Windkraftleistung. China wird trotz seines steigenden Energieverbrauchs und des geplanten Zubaus von zahlreichen Kohlekraftwerken aller Voraussicht nach die Ziele des Pariser Klimaabkommens erfüllen können. Das Zentralkomitee gab schon 2012 die „ökologische Zivilisation“ als eins der vorrangigen Staatsziele aus. Der damals gerade neu ins Amt gewählte und heute mit großer Machtfülle ausgestattete Generalsekretär der kommunistischen Partei Xi Jinping meinte damit mehr als klassischen Klima- und Umweltschutz: dass sich die gesamte Gesellschaft im Einklang mit der Natur verhalten soll, nicht nur technologisch, sondern auch kulturell.

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Indien: Vom Nachzügler zum Musterschüler

Indien war 1982 das weltweit erste Land, das ein Ministerium für Erneuerbare Energien einführte. Bis vor wenigen Jahren galt das mit 1,3 Milliarden Menschen zweitbevölkerungsreichste Land der Erde allerdings nicht gerade als Vorreiter der Energiewende. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung explodierte Indiens Energiehunger, dieser wurde zuerst vor allem durch neue Kohlekraftwerke gestillt. Doch die grüne Wende ist mittlerweile voll im Gang.

Besonders deutlich zeigt sich das im südindischen Bundesstaat Karnataka. Hier wurde im vergangenen Jahr eine 700.000 Quadratmeter große Solaranlage in Betrieb genommen, die 72.000 Menschen mit Strom versorgt. Der Standort wurde nicht zufällig gewählt, er liegt in unmittelbarer Nähe zur Stadt Bangalore, die auch als indisches Silicon Valley bezeichnet wird. Die Anlage kommt aufgrund der günstigen klimatischen Bedingungen auf fast 2.000 Kilowattstunden pro Quadratmeter – in etwa doppelt so viel wie eine Anlage in Österreich.

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Die Solaranlage in der Nähe von Bangalore.

Immer weniger Technologie aus dem Westen

Interessant an dem Projekt ist auch ein Blick auf die Herkunft der Hersteller: Die Solarmodule stammen aus China, die Spannungswandler aus Indien, nur noch die sogenannte Strangleitung kommt aus Europa, genauer gesagt aus Deutschland. Know-how aus dem Westen wird bei der Energiewende immer unwesentlicher. In den nächsten Jahren soll die installierte Leistung der Photovoltaik auf 100 Gigawatt gesteigert werden.

Zwar ist der indische Energiemarkt ist im Gegensatz zum zentralistischen China deutlich komplexer – Indien besteht aus 29 Bundesstaaten. Jeder Staat hat seinen eigenen Übertragungsnetzbetreiber und entscheidet selbst über seine individuellen Energiemaßnahmen und Ausbauziele für Erneuerbare – doch das föderative System tut der Energiewende Indiens keinen Abbruch: Das Land ist heute nicht nur einer der Spitzenreiter beim Ausbau der Photovoltaik, sondern mittlerweile sogar der viertgrößte Windkraftproduzent der Welt – nach China, den USA und Deutschland.

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Spitzenplatz im Klimaschutzranking

Im aktuellen Klimaschutzranking des New Climate Institute liegt Indien heute auf dem 11. Platz und damit vor der EU (Platz 16) und Österreich (Platz 36). In dieses Ranking fließen sowohl der Ausbau der Erneuerbaren Energien als auch die Reduktion von Emissionen, der Verbrauch von fossilen Energien und auch politische Maßnahmen zum Klimaschutz ein.

Indien baut aber nicht nur die erneuerbaren Energiequellen so schnell aus wie kaum ein anderes Land der Erde, sondern auch die Stromnetze. Heute ist nahezu jedes Dorf mit Strom versorgt. Das schnelle Wachstum ist einer der Gründe, warum der indische Markt für sogenannte Virtuelle Kraftwerke interessant ist, also Zusammenschaltungen verschiedener erneuerbarer Energiequellen, um Schwankungen besser ausgleichen zu können.

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Trotz Trump: Energiewende auf Amerikanisch

Zumindest China und Indien drohen Europa bei der Energiewende den Rang abzulaufen. Die USA hätten ebenfalls das Potenzial, die grüne Wende noch stärker zu forcieren, doch hier setzt die Regierung Donald Trumps zurzeit auf eine weitere Ausbeutung der Kohle- und Erdgasvorkommen, um billige Energie für die Industrie bereitzustellen. Trumps nicht gerade innovativer Energiepolitik zum Trotz steigt der Anteil der Erneuerbaren weiter an. Vor allem die Bundesstaaten Kalifornien und Texas bauen die Erneuerbaren stark aus. Die Bundesstaaten haben in Sachen Energiepolitik deutlich mehr Macht als die Regierung in Washington D.C. So sind 2018 mehr als 15 Gigawatt Wind- und Solarenergieleistung neu ans Netz gegangen. Strom aus Kohlekraftwerken ist hingegen stark rückläufig. Seit der Amtsübernahme durch Donald Trump im Jahr 2017 wurden bereits 50 Kohlekraftwerke stillgelegt. In den vergangenen zehn Jahren ist der Anteil der regenerativen Stromerzeugung um 70 Prozent gewachsen.

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Trotz Trump steigt der Anteil der Erneuerbaren in den USA an.

Europa mangelt es an einer Energie-Vision

Um den Anschluss nicht zu verpassen, müssten sich die Staaten der EU auf eine gemeinsame Strategie für die Energiewende verständigen. Dann könnten sich die kleinen Einzelstaaten auf bestimmte Erneuerbare fokussieren. Vor den Küsten Dänemarks, Deutschlands und der Niederlande ist ein Windrad sehr viel effizienter als in Tirol oder Vorarlberg. In Spanien ist der Ertrag einer Photovoltaikanlage deutlich höher als in Skandinavien. Doch für eine solche Energiestrategie bräuchte es erst einmal ein auf die Erneuerbaren ausgelegtes europäisches Stromnetz, um die Übertragung von Nord nach Süd und West nach Ost zu gewährleisten. Davon ist Europa aber noch weit entfernt.

Der ausgeträumte Traum vom Wüstenstrom

Europa fehlt der große Wurf in der Energiepolitik. Vor zehn Jahren träumten die Europäer noch davon, ihren Energiebedarf mit Sonnenstrom aus der Sahara zu decken. Das Projekt Desertec scheiterte jedoch, weil sich die beteiligten Großkonzerne nicht auf eine gemeinsame Strategie einigen konnten. Obwohl das Einsparungspotenzial für Europa Studien zufolge bei jährlich 30 Milliarden Euro gelegen hätte, ging es am Ende um zwei Millionen Euro, die keines der beteiligten Unternehmen schultern wollte.

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Ein solarthermisches Parabolrinnenkraftwerk in Ain-Ben-Mathar, Marokko.

Gestorben ist die Idee von den Wüstenkraftwerken mit dem Ende des Industriekonsortiums aber nicht. In Nordafrika und im Nahen Osten werden derzeit mehrere Dutzend Großanlagen geplant oder gebaut. Dabei haben aber nicht europäische, sondern vor allem arabische und chinesische Unternehmen das Heft in der Hand. In Abu Dhabi wurde im Frühjahr 2019 die weltweit größte Photovoltaik-Anlage mit einer Leistung von 1,2 Gigawatt in Betrieb genommen, in Ägypten ist eine noch leistungsstärkere Anlage im Bau, in Marokko soll 2020 das größte Solarthermie-Kraftwerk der Welt ans Netz gehen. Europa wird davon nur indirekt profitieren, weil am Bau mehrere europäische Firmen, vor allem aus Deutschland beteiligt sind. Europas Energiemarkt wird sich dadurch allerdings nicht verändern. 

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