Reiche Länder sollen einen Teil ihres Reichtums ärmeren Ländern überlassen, um die Lebensverhältnisse der dortigen Bevölkerung zu verbessern. Das Ziel: 0,7 Prozent seines Bruttonationaleinkommens soll jeder Industriestaat für die Entwicklungszusammenarbeit bereitstellen. Damit will man nicht nur einen Beitrag für eine gerechtere Welt leisten, sondern auch ganz konkret die Ursachen für Flucht bekämpfen. Der überwiegende Teil der sogenannten Geberstaaten hinkt aber den selbstgesteckten Zielen seit vielen Jahren weit hinterher, auch Österreich. Warum das so ist und was sonst noch im System Entwicklungszusammenarbeit nicht funktioniert, haben wir mit der Statistikexpertin und ehemaligen Vorsitzenden der DAC-Statistik-Arbeitsgruppe, Hedwig Riegler, im Interview besprochen.
Das OECD Development Assistance Committees kurz DAC, erhebt jährlich das Volumen der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit (ODA), jene Mittel, welche von Industriestaaten an Entwicklungsländer zum Zweck der Armutsreduktion und für andere Entwicklungsziele zur Verfügung gestellt werden.
0,26 Prozent des österreichischen BNE fließen in die Entwicklungshilfe .
0,7 Prozent haben wir uns vorgenommen. Werden wir das Ziel je erreichen?
Ich glaube nicht. Und zwar weil es seit dem Versprechen von 1970 eigentlich nie ernsthafte Anstrengungen in diese Richtung gegeben hat. Das hätte eine konkrete budgetäre Deckung gebraucht, um eine schrittweise Erhöhung der Entwicklungshilfe in Richtung 0,7 Prozent zu bewerkstelligen.
Seit bald 40 Jahren wird gebetsmühlenartig an diesen 0,7 Prozent festgehalten, aber kaum ein Land schafft diese wirklich. Ist die Entwicklungshilfe gescheitert?
Vor diesem Hintergrund: Ja. Es gibt sicher Erfolge in kleineren Bereichen, aber im Gesamten ist man an diesem Versprechen phänomenal gescheitert.
Warum?
Weil der politische Wille von Beginn an gefehlt hat. Es gab in Österreich ja auch den Sager der budgetschonenden Umsetzung des 0,7-Prozent-Versprechens. Es wurde international in Österreichs Länderprüfungen immer wieder sehr stark kritisiert, dass es keine schrittweise Erhöhung des Kernbudgets gibt. Auch die Gründung der ADA, der Austrian Development Agency 2004, wurde mit dem Versprechen verbunden, dass man das Budget schrittweise aufstockt. Das hat nie stattgefunden. Momentan ist das Erreichen des Ziels auf 2030 verschoben. Aber ich glaube nicht mehr daran.
Beim Bruttonationaleinkommen (BNE) – früher auch als Bruttosozialprodukt (BSP) bezeichnet – wird die Staatsbürgerschaft statt der Landesgrenze als abgrenzendes Kriterium verwendet. Das heißt, das Bruttonationaleinkommen misst den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die in einer Volkswirtschaft hergestellt wurden. Während in das BIP alle Güter einfließen, die auf dem Gebiet eines Staates erstellt wurden, umfasst das Bruttosozialprodukt alle Erwerbs- und Vermögenseinkommen, die von Inländern erstellt wurden, unabhängig ob im Inland oder im Ausland.
Bundeskanzler Sebastian Kurz hat 2018 im ORF-Fernsehen gesagt, in seiner Zeit als Außenminister wurde das öffentliche Entwicklungshilfebudget fast verdoppelt. Stimmt das?
Das Budget wurde natürlich nicht verdoppelt. Es wurde vielleicht der Topf für den Auslandskatastrophenfonds verdoppelt. Der Auslandskatastrophenfonds ist aber bei weitem nicht die öffentliche Entwicklungshilfe.
Als Laie kann man den Eindruck bekommen, dass Österreich in Afrika Brunnen bohrt, Lehrer in arme Länder schickt, vor Ort hilft. Wenn man aber genau nachschaut, dann findet man viel, was man nicht unmittelbar mit Entwicklungshilfe verbindet. Wie geht das?
Das 0,7-Prozent-Ziel wurde 1970 in einer UNO-Resolution beschlossen. Seither erreichen wir es, bis auf ganz wenige Ausnahmestaaten, nicht. Um sich nicht völlig unglaubwürdig zu machen, gab es immer wieder Versuche, die ODA-Definition zu erweitern. So kamen in den 1980er und 1990er Jahren Dinge wie indirekte Studienplatzkosten oder die Kosten für Asylwerber dazu. Im Fall Österreichs sind diese Positionen so überproportional groß, dass es wirklich ein Skandal ist.
Die Official Development Assistance ist als Zuwendung in Form von Zuschüssen und Darlehen an die Entwicklungsländer definiert, die vom öffentlichen Sektor vergeben werden. Diese sollen in erster Linie der Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung und der Verbesserung der Lebensbedingungen dienen. Diese Definition wurde 1972 vom Development Assistance Committee, kurz DAC, der OECD entwickelt. In den folgenden Jahren wurden weitere Kosten als Official Development Assistance anerkannt. Seit 1979 Verwaltungskosten des Geberlandes, ab 1984 Kosten für Studienplätze von Studenten des Empfängerlandes im Geberland, und ab den 1980er Jahren Kosten für Flüchtlinge im Inland. Letztere Möglichkeit wurde erst seit 1991 in größerem Umfang genutzt. Auch der Erlass von Schulden kann als Official Development Assistance anerkannt werden.
Der sogenannte Auslandskatastrophenfonds (AKF) wurde in der Amtszeit von Sebastian Kurz als Außenminister von 5 Millionen Euro 2014 auf 20 Millionen Euro 2017 erhöht, wurde aber im Budget 2018 wieder auf 15 Millionen Euro gekürzt.
Wer macht die Regeln, die festlegen, was als Entwicklungshilfe anerkannt wird und was nicht?
Die OECD/DAC, also die Geberstaaten. Die Crux daran ist, dass in der Sache bei der OECD/DAC nicht das Expertengremium, sondern die politischen Gremien entscheiden. Diese bestehen im DAC aus hohen, weisungsgebundenen Beamten und im sogenannten High Level Meeting aus Ministern und Staatssekretären. Das bedeutet, dass man den Bock zum Gärtner macht, weil die Politik selbst entscheiden kann, wie ihre eigenen Versprechen gemessen werden.
Was würden Sie denn vorschlagen?
Hören wir doch auf mit dieser Lebenslüge der 0,7 Prozent vom BNE. Eine saubere Lösung wäre, dass wir uns eingestehen, dass die 0,7 Prozent unrealistisch sind. Reduzieren wir das Ziel auf ein realistisches Maß, aber schmeißen wir doch gleichzeitig alle Komponenten aus der ODA hinaus, die nicht der Kernaufgabe entsprechen.
Werden Projekte der Entwicklungszusammenarbeit ausreichend kontrolliert?
Das Eingestehen von Fehlern ist ein ganz großes Manko in der Entwicklungszusammenarbeit. Es gibt zu wenig Transparenz im Umgang mit Evaluierungen. Es müssten wirklich alle Ergebnisse publiziert werden, das passiert nur auszugsweise. Der Zugang zu Evaluierungen ist nicht so, wie er sein könnte und sollte. Wenn Organisationen, die über Mittel der Entwicklungshilfe finanziert werden, zugeben, dass Projekte schiefgegangen sind, dann riskieren sie, dass sie keine Finanzierungen mehr bekommen. Hier kommt ein Mechanismus in Gang, der die Beschönigung oder das Zudecken von Fehlern fördert.
Es fehlt also eine Fehlerkultur?
Ja. Aber nicht nur bei den NGOs. Auch bei der öffentlichen Hand. Die verschiedenen Einheiten haben kein besonderes Interesse daran, dass Fehler aufgezeigt werden. Versagen einzugestehen, das ist nicht sehr sexy.
Wirtschaftskooperationen mit Unternehmen, mit denen man im Ausland gemeinsam arbeiten kann, scheinen immer populärer zu werden. Sind das Modelle für die Zukunft?
Soweit ich es beurteilen kann: Nein. Es ist schwierig, überhaupt Firmen zu finden, die sich beteiligen möchten. Warum? Den meisten ist die Bürokratie, die damit verbunden ist, viel zu groß.
Nach Anschlägen von 9/11 hieß es, wir müssen den Menschen in Entwicklungsländern helfen, damit sie nicht zu Terroristen werden. Jetzt sagt die Bundesregierung, wir müssen die Hilfe vor Ort intensivieren, damit die Leute nicht als Migranten zu uns kommen. Entwicklungshilfe scheint eine beliebte Argumentationshilfe für die Politik zu sein.
Entwicklungshilfe ist immer wieder instrumentalisiert worden. Sie ist ein gutes Druckmittel. Und selbst von den Empfängerländern wurde sie immer wieder als Druckmittel eingesetzt. Ich kann mich sogar an eine Geiselnahme in Libyen erinnern, bei der die Geiseln gewissermaßen mit EZA-Mitteln freigekauft wurden.
Welche Rolle spielen objektive Kriterien bei der Auswahl von Zielländern?
Bei der OECD gab es einmal ein interessantes statistisches Projekt. Es galt aufzuzeigen, welche Länder den größten Bedarf hatten. Dazu wurde in einer Art Spinnendiagramm dargestellt, wie weit diese Länder von ihren wichtigsten Entwicklungszielen entfernt sind. Nepal zum Beispiel war ein Land, das einen sehr großen Aufholbedarf hatte. Tatsächlich engagierten sich die Geber jedoch ganz woanders. So entstanden schließlich Begriffe wie „Aid-Darlings“ und „Aid-Orphans“, also Bezeichnungen für Länder, in denen sich die Entwicklungshilfe-Leistenden gegenseitig regelrecht auf die Zehen steigen, und jene Länder, die nichts abkriegen. Wohin das Geld fließt, wird also auf Basis politischer Überlegungen entschieden.