Ein Staat, der seine Grenzen im Fall der Fälle nicht schützen kann, der verliert seine Glaubwürdigkeit“, erklärte der österreichische Innenminister Herbert Kickl anlässlich einer Grenzübung an der slowenischen Grenze Ende Juni 2018. Auch Deutschland möchte die unerlaubten Grenzübertritte aus Österreich – von Anfang des Jahres bis inklusive Mai gab es 4.935 davon – unterbinden.
Allerdings scheint der juristische Tenor klar: Eine vollständige Schließung europäischer Binnengrenzen ist europa- und völkerrechtlich nicht haltbar. Das stößt, wie die jüngsten Debatten in Deutschland und Österreich gezeigt haben, auf politischen Unmut. Stehen wir am Anfang einer maßgeblichen Änderung der Rechtslage, dem Wiederaufbau von Mauern und Grenzposten? Oder bleibt das Recht mangels Einigung unverändert – was die Gefahr birgt, dass sich immer weniger daran halten?
In weiten Teilen Europas gilt der freie Personenverkehr. Der Schengener Grenzkodex erlaubt im Inneren lediglich Stichproben oder andere Kontrollen, „die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen“ unterscheiden. Außerdem können vorübergehende Grenzkontrollen eingeführt werden, um Bedrohungen für die öffentliche Ordnung oder die innere Sicherheit zu begegnen. Diese Entscheidung liegt im Ermessen der Mitgliedstaaten. Die Europäische Kommission kann sich zwar äußern, hat aber kein Vetorecht. Derzeit nehmen neben Österreich fünf weitere europäische Länder derartige Kontrollen vor, namentlich Frankreich, Deutschland, Dänemark, Schweden und Norwegen. Mit Ausnahme Frankreichs laufen all diese Kontrollen derzeit bis 11. November (jene Frankreichs bis 30. Oktober).
Was, wenn Asylwerber aus einem EU-Nachbarland nach Österreich oder Deutschland einreisen, um einen Antrag zu stellen? Noch dazu, wenn sie dort registriert wurden oder dort bereits ein Verfahren läuft? Auch dann braucht es ein Zulassungsverfahren, um diese Frage zu klären. Schließlich kann die Zuständigkeit auch bei EU-Binnenländern wie Österreich vorliegen – obwohl Asylwerber im Regelfall direkt aus einem anderen EU-Land einreisen. Erst wenn festgestellt wurde, dass ein anderes Land zuständig ist, wird der Betroffene dorthin (rück-)überstellt. So werden laut Angaben des österreichischen Innenministeriums derzeit täglich rund 13 Menschen von Deutschland nach Österreich (rück-)überstellt.
Abgesehen von der Pflicht zur Bearbeitung eines Antrags könnte eine pauschale Zurückweisung an der Grenze das Verbot der Kollektivausweisungen verletzen. So hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Oktober 2017 Spaniens Zurückweisung von Migranten in Melilla als eine solche Verletzung (konkret von Artikel 4 des vierten Protokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention) eingestuft. Außerdem wurde laut EGMR das Recht auf eine wirksame Beschwerde verletzt. Das Verfahren wurde an die große Kammer weitergeleitet, deren – finales – Urteil noch ausständig ist. Experten rechnen jedoch nicht damit, dass es noch zu einer wesentlichen Änderung kommen wird.
Seit der Debatte rund um eine „Obergrenze“ für Asylanträge suchen Politiker und Juristen nach Möglichkeiten, Asylwerber an Binnengrenzen schneller abzuweisen. Manche meinen, in der Dublin-III-Verordnung fündig geworden zu sein: Schließlich legt sie (in Artikel 20 Absatz 4) fest, dass bei Asylanträgen der Staat zuständig ist, in dem der Antrag gestellt wurde. Einer Lesart zufolge würde diese Bestimmung auch die Abweisung an der Grenze rechtfertigen.
Dafür war sie allerdings nie vorgesehen. Vielmehr sollte sie nur in Ausnahmefällen greifen: Historischer Hintergrund sind Asylanträge in Botschaften – das Botschaftsasyl wurde allerdings mittlerweile in allen EU-Mitgliedstaaten abgeschafft. Dazu kommt, dass ein Asylantrag formlos, also auch durch bloßes Aussprechen des Wortes „Asyl“, bei jedem Polizisten eingebracht werden kann. Die Ausnahme in der Dublin-III-Verordnung gilt also auch für Fälle, in denen sich Polizisten dienstlich in einem anderen EU-Mitgliedsland aufhalten (beispielsweise zur Unterstützung von Großveranstaltungen wie der Europameisterschaft 2008).
Bei Grenzkontrollen innerhalb des Schengenraums kommt sie also grundsätzlich nicht zur Anwendung, wie Jürgen Bast, Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der Justus-Liebig-Universität Gießen mit Schwerpunkt auf Flüchtlingsrecht, betont. Schließlich finden Grenzkontrollen im Regelfall innerhalb des eigenen Staatsgebiets statt. Theoretisch müssten österreichische Grenzpolizisten also die Erlaubnis bekommen, auf italienischem, slowenischem oder kroatischem Gebiet zu kontrollieren (sogenannte vorgeschobene Grenzkontrollen). Das politische Interesse daran dürfte dort jedoch gering ausfallen.
Wenn beispielsweise jemand von slowenischem Gebiet aus einem österreichischen Grenzpolizisten „Asyl!“ zuruft, besteht keine Zuständigkeit. Es kann also theoretisch um einige wenige Meter oder gar Zentimeter gehen. Denn: Zwischen Ländern gibt es kein Niemandsland, das zu keinem gehört. Vielmehr schließt das Staatsgebiet eines Staates direkt an das eines anderen an. Streng genommen müsste Österreich also direkt auf der Grenzlinie Zäune errichten oder dort kontrollieren und dabei verhindern, dass Asylwerber ihren Fuß auf österreichischen Boden setzen. Gleichzeitig müssten österreichische Polizisten dabei darauf achten, auf österreichischem Boden zu bleiben, um slowenisches Hoheitsrecht zu wahren. Ein Drahtseilakt im doppelten Wortsinn.
Eine EuGH-Entscheidung zur Frage von Asylanträgen an den Binnengrenzen gibt es nicht. Laut Professor Bast ist es gut möglich, dass der EuGH einen „funktionalen Grenzbegriff“ anwenden würde, um ein Feilschen um Zentimeter zu verhindern. Dann wären vorgeschobene Grenzkontrollen jedenfalls kein probates Mittel, um zu verhindern, dass Menschen einen Antrag in Österreich stellen.
Es gäbe noch eine weitere, weniger drastische Alternative: Das Verfahren an der Grenze. Dafür ist der genaue Ort weniger entscheidend. Österreich könnte Anträge also im Grenzbereich bearbeiten und müsste die Antragsteller während des Verfahrens grundsätzlich nicht ins Landesinnere reisen lassen. Allerdings darf ein solches Vorgehen nicht pauschal angewandt werden, sondern nur in bestimmten Fällen. Also beispielsweise dann, wenn jemand
Allerdings ist es Bast zufolge strittig, ob derartige „Border Procedures“ innerhalb des Schengenraums überhaupt zur Anwendung kommen sollen oder ob sie nur für die EU-Außengrenzen vorgesehen sind. Bast selbst hängt jedenfalls der zweiten Rechtsmeinung an – räumt aber ein, dass es hierzu auch andere Auffassungen gibt und die Frage nicht restlos geklärt ist.
Eine vollständige oder zumindest weitreichende Grenzschließung ist davon jedoch zu unterscheiden. Kontrollen wären dabei ein Mittel zum Zweck – also um Flüchtlinge von der Einreise nach Österreich abzuhalten. Womit sich die Frage stellt, ob das juristisch überhaupt möglich wäre, und falls ja, wie? Beziehungsweise unter welchen Bedingungen? Darüber ist eine Diskussion entbrannt, die gegebenenfalls höchstgerichtlich geklärt werden müsste.
Der Schengener Grenzkodex legt jedenfalls ausdrücklich fest, dass Asylwerbern die Einreise grundsätzlich nicht verweigert werden darf. Gleichzeitig muss laut Dublin-III-Verordnung jedes Mitgliedsland jeden Antrag prüfen.
Parallel zu den Grenzen im Inneren dürfen auch die Außengrenzen nicht vollständig geschlossen werden. Wer dort zu einem europäischen Beamten „Asyl“ sagt, hat jedenfalls für die Dauer des Verfahrens ein Einreise- und Aufenthaltsrecht (in Sonderfällen ist ein Verfahren an der Grenze möglich). Ein Asylantrag kann schließlich formlos bei allen Grenzbeamten eingebracht werden. Der jeweilige Staat muss dann die Zuständigkeit und in weiterer Folge die Schutzbedürftigkeit prüfen. Ein solches Verfahren zur Prüfung der Zuständigkeit muss auch erfolgen, wenn jemand aus einem anderen EU-Land eingereist ist. Die gesetzlich vorgeschriebene Höchstdauer für ein solches Verfahren liegt bei 20 Tagen.
Diese Rechtslage wird seit dem Fluchtherbst 2015 zunehmend hinterfragt. Der BAMF-Skandal in Deutschland hat das Vertrauen in die Behörden erschüttert. Davon abgesehen bestehen strukturelle Probleme. Die Genfer Flüchtlingskonvention und darauf aufbauende Regeln gehen vom einzelnen Flüchtling aus, nicht von großen Fluchtbewegungen. Doch Einzelprüfungen nehmen, nicht zuletzt aufgrund der hohen Antragszahlen, viel Zeit in Anspruch – Zeit, in der Asylwerber in die Kriminalität rutschen können, zumal sie nicht arbeiten dürfen. Wie der deutsche Terrorismusforscher Peter Neumann erst kürzlich wieder in einer Studie betont hat, trägt Kleinkriminalität wiederum zur Terrorismusfinanzierung bei. Was früher Bin Ladens Baufirma bewerkstelligt hat, kommt heute von vielen kleinen Drogendealern.
Andere reisen weiter oder tauchen unter. Im drastischsten Fall kommen Menschen bereits mit der Absicht, Anschläge auszuführen. Dahingehende Warnungen gab es bereits vor der Anschlagswelle der letzten Jahre.
Jetzt wollen der deutsche Innenminister Horst Seehofer und sein österreichischer Amtskollege Herbert Kickl die „Kontrolle zurückerlangen“. Oder zumindest den Eindruck vermitteln.
Die öffentliche Debatte verläuft also am Ende entlang der Trennlinie zwischen Humanität und Sicherheit. Offiziell halten Europa und die EU den Schutzgedanken hoch, die EU-Grundrechtecharta beinhaltet ein Recht auf Asyl und ein strenges Abschiebungsverbot. Das Ergebnis einer langen Entwicklung, die unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begann. Bereits in den 1960er Jahren betonte die damalige Europäische Menschenrechtskommission, dass das EMRK-Verbot von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung die staatliche Verfügungsgewalt erheblich eingeschränkt habe. Souveränität als vollständige Kontrolle über die eigenen Grenzen gehört seit damals der juristischen Vergangenheit an.
Bemerkt hat man das allerdings nicht gleich. Denn die Zahl der Asylanträge war überschaubar. Die osteuropäischen Länder haben ihre Bewohner ohnehin nicht gehen lassen. Menschen aus andere Kontinenten haben sich nur selten in Richtung Europa begeben.
Umgekehrt war der Standard hinsichtlich der Frage, ab wann im Heimatland erniedrigende Behandlung droht, höher. Eine Rückführung ins damals noch von Titos harter Hand geführte Jugoslawien war beispielsweise kein Problem. Heute wird darüber diskutiert, ob Urlaubsländer wie Tunesien oder Marokko hinreichend sicher sind.
Fast forward ins Jahr 1985. Fünf europäische Länder (die BRD, Frankreich und die Benelux-Staaten) beschließen das Schengener Abkommen und damit das Ende von Personenkontrollen im Inneren. Das rief schon damals Sorgen hervor. Deshalb wurde mehrmals betont, dass die Kontrollen nicht abgeschafft, sondern verlagert würden. Von innen nach außen. Der strenge Schutz der Außengrenzen war Grundbedingung für den Wegfall der Grenzen im Inneren. Die Zeiten waren damals jedoch andere. Es wurden in Summe weniger Anträge gestellt, die Zahl der Antragsteller aus europäischen Ländern war höher.
So wurden 1985 in Österreich gerade einmal 6.720 Anträge gestellt, in Summe waren es während der 1980er Jahre laut UNHCR 127.680. Die meisten von ihnen kamen außerdem aus Europa, die meisten aus Polen (48.110), Tschechien (23.180), Rumänien (18.830) und Ungarn (16.900).
„Schutz der Außengrenzen“ ist bis heute eine politische Modeformel geblieben, zuletzt etwa im „Migrationsdeal“ der Europäischen Union. Konkret geht es darum, Menschen zu kontrollieren. Also den geregelten Grenzübertritt von Asylwerbern mit Erfassung von Fingerabdrücken, Klärung der Identität und des Herkunftslands.
Daher auch die Forderung von „Asylcentern“ in Afrika. Eine Spielart des australischen Modells? Grundvoraussetzung wäre, dass dort die Mindeststandards der EMRK garantiert werden. Betroffene hätten jedenfalls das Recht, beim EGMR zu klagen.
Für die Aufnahme von Flüchtlingen bestehen unterschiedliche Ansätze. Einerseits könnte Europa versuchen, den kanadischen Weg zu wählen. Kanada unterzieht die Menschen, die es über Resettlement ins Land lässt, rigorosen Sicherheitschecks. Es hat dabei den Vorteil räumlicher Abgeschiedenheit. Hinter dem Atlantik und den USA gelten andere Voraussetzungen als für Europa. Asylwerber, die über die Landgrenze nach Kanada wollen, haben es auch dort wesentlich schwerer.
Wem das nicht reicht, der hält es mit den USA und Trump, die derzeit auf Abschottung setzen. Auch die österreichische Bundesregierung hat ihren Sprecher verlautbaren lassen, dass in den Asylcentern nicht möglich sein soll, Anträge zu stellen.
Die Suche nach Lösungen geht also weiter. Es gibt bekanntermaßen keinen einheitlichen und allumfassenden Asylvertrag, nicht in der EU und schon gar nicht weltweit. Die Genfer Flüchtlingskonvention und ihr Zusatzprotokoll sind ein gern bemühter Minimalstandard, der entgegen einer weitläufigen Fehlannahme allerdings kein Recht auf Asyl beinhaltet. Er schließt sogar die Möglichkeit ein, gefährliche beziehungsweise straffällig gewordene Asylwerber in ihr Heimatland zurückzuschicken, wenn ihnen dort Verfolgung droht. Eine Denkart, die Asyl an gewisse „Benimmregeln“ knüpft.
Mit der Rechtsprechung zum absoluten Rückführungsverbot gilt das nicht mehr. Heute stoßen Politiker sich daran, dass auch Terroristen, Vergewaltiger und sonstige Schwerverbrecher nicht zurückgeschickt werden dürfen, oder schlichtweg daran, dass der staatliche Spielraum an den Grenzen stark eingeschränkt wurde.
Die daraus erwachsenden Forderungen reichen von einer „europäischen Lösung“ bis hin zum Abgehen vom EU-Recht: Die letzte österreichische Bundesregierung hat den Ausnahmezustand – der ein Abgehen vom europäischen Flüchtlingsrecht erlauben würde – ins Spiel gebracht. Und in Deutschland sprach der ehemalige deutsche Verfassungsrichter Udo Di Fabio offen davon, dass Deutschland in Ermangelung von „wirksamen europäischen Maßnahmen … zur Wahrung der verfassungsstaatlichen Ordnung und zum Schutz des föderalen Gefüges zumindest einstweilen die gesetzesmäßige Sicherung der Bundesgrenze gewährleisten“ müsse. Mit anderen Worten: Wenn es keine „europäische Lösung“ gibt, werden Staaten im Alleingang handeln.